Kybernetikon – ein medienpädagogisches Experiment
Medienbildung als neues Arbeitsfeld der Akademie
Januar 1972
So sah in den 70er Jahren das Innenleben eines Fernsehers aus. Foto: Graetz
In der Folge des studentischen Protests von 1968 wurde von Kulturschaffenden und Medienfachleuten zu Beginn der 1970er Jahre – wie übrigens auch heute – über Versäumnisse bzw. Defizite in der vorherrschenden Medienerziehung geklagt. Diese Kritik verhallte nicht ungehört und verschiedene Institutionen wagten sich an neuartige Konzepte.
Im Jahre 1973 wurde vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen die Forderung erhoben,
„dass von den verantwortlichen Stellen die medienpädagogische Interventionsbereitschaft verstärkt wird, damit die Fernsehanstalten zusammen mit interessierten kommunalen und staatlichen Institutionen sowie der einschlägigen Industrie in noch größerem Umfang als bisher einer Aufgabe gerecht zu werden vermögen, deren Lösung zu den wesentlichen Voraussetzungen der Funktionsfähigkeit unserer Massendemokratie gehört."
Medienbildung als Überbegriff
Zu den „interessierten Institutionen" gehörte auch die Tutzinger Akademie, die Anfang der 1970er Jahre einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit im Bereich Medienbildung und Kommunikation eingeführt und systematisch ausgebaut hatte. „Medienbildung" wurde dabei als Sammelbegriff für unterschiedliche, jedoch eng verzahnte Aspekte verstanden: Zunächst als Medienkunde und Mediendidaktik in dem Sinne, dass Fähigkeiten im Umgang mit diesen Informationsquellen entwickelt werden sollten. Diese Seite der Medienarbeit wurde in Tagungen mit unterschiedlichen Zielgruppen thematisiert: Darunter fallen beispielsweise Seminare für Lehrer über Fernsehnachrichten in der politischen Medienkunde, über Seminare für Geschichtslehrer zum Einsatz von Dokumentarspielfilmen im Geschichtsunterricht bis hin zur Veranstaltung für Landfrauen über den Einfluss von Rundfunk und Fernsehen auf Familie und Gesellschaft.
Ein weiterer Aspekt bildete die Arbeit mit Medienschaffenden selbst: Über Jahre sehr erfolgreich waren beispielsweise die von der Akademie durchgeführten Fortbildungskurse für Fernsehnachrichten-Redakteure. Auch die Erprobung und zunehmende Verwendung audiovisueller Medien in der Tagungsarbeit der Akademie wäre hier zu nennen.
Emanzipatorische Mediennutzung
In diesen Kontext gehört auch die Durchführung eines neuartigen medienpädagogischen Kommunikationsmodells namens Kybernetikon. Dabei handelte es sich um den Versuch,
„im Rahmen eines kybernetisch strukturierten Lehr- und Lernsystems audio-visuelle Vermittlungsmethoden anhand des Mediums Fernsehen in ihren emanzipatorischen Möglichkeiten darzustellen, zu analysieren und zu nutzen."
Das Projekt zielte darauf ab, neue Wege formaler und inhaltlicher Medienerziehung zu erproben, mittels derer die Mediennutzer zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch befähigt werden sollten. Dazu bediente man sich eines neuartigen, nach dem Prinzip des kybernetischen Regelkreises gebildeten Veranstaltungssystems, in dem der Lernende nicht nur empfängt, sondern selber tätig wird und seine eigenen Aktivitäten in den Regelkreis einbringt (Rückkopplung). Das Kybernetikon bildete eine Mischung aus Ausstellung, Kongress und Workshop, aus Information, Kommunikation und Aktion und war bestimmt durch den Einsatz vielfältiger technischer Hilfsmittel.
Am ersten Kybernetikon 1972 in Nürnberg war die Tutzinger Akademie noch in der Rolle eines Zaungastes vertreten. Sie veranstaltete aber im Frühjahr 1973 eine Auswertungskonferenz, bei der Medienpädagogen und Fernsehredakteure ihre Erfahrungen mit dem Kybernetikon 1972 austauschen und diskutieren konnten. Hingegen war die Akademie von Anbeginn in die Vorbereitungen der Folgeveranstaltung von 1974 eingebunden. Diese Mitarbeit beruhte auf der medienkritischen und mediendidaktischen Zielsetzung dieses neuartigen Veranstaltungstypus und auf der Tatsache, dass seit geraumer Zeit im Bereich der Mediendidaktik enge Verbindungen zwischen der Akademie und der Bundeszentrale für politische Bildung bestanden.
Steffen H. Elsner