Beunruhigte Staatsbürger, kritische Experten oder Wichtigtuer?
Vor 54 Jahren: Tagung für Leserbriefschreiber
Januar 1963
Die Akademie hatte ein Experiment gewagt. Angesichts der zu erwartenden heterogenen Teilnehmerschaft mit vielen kritischen Individualisten konnte ein Gelingen keineswegs als sicher gelten. Doch die Tagung mit Verfassern politischer Leserbriefe im Juli 1963 war ein durchschlagender Erfolg.
Weit im Vorfeld der eigentlichen Veranstaltung waren in der Akademie die Leserbriefseiten der großen Tages- und Wochenzeitungen systematisch ausgewertet worden. Wie sich herausstellte, war die Bereitschaft, sich in das öffentliche Geschehen einzumischen, über die Zeit stetig gestiegen. Aus vielen Zuschriften war die Sorge um den Bestand der freiheitlich-demokratischen Ordnung herauszuhören. Auch in Anerkennung dieses politischen Engagements wurden bayerische Leserbriefschreiber zu einem zweitägigen Gespräch nach Tutzing eingeladen. Die Ausschreibung der Akademie stieß auf derart starke Resonanz, dass eine Vielzahl von Anmeldungen nicht berücksichtigt werden konnte.
Unerforschtes Terrain
Die Akademie betrat damit völliges Neuland. Es war der Versuch, sich einer bisher vernachlässigten Gruppe von engagierten Staatsbürgern zu öffnen. Als Diskursteilnehmer waren zudem bayerische Politiker und verantwortliche Zeitungsredakteure anwesend.
Den Leserbriefschreibern wurde Gelegenheit gegeben, sich mit den Redakteuren über Motive, Wirkungsgrad oder sonstige Konsequenzen auf Betroffene und Leser auszutauschen. Zwei einführende Referate gingen dem Meinungsaustausch voraus: Akademiedirektor Felix Messerschmid sprach über Rolle und Verantwortung des Staatsbürgers in der repräsentativen Demokratie, während Landtagspräsident Rudolf Hanauer über Formen der politischen Partizipation referierte. Mit dem Gespräch über Leserbriefe als einer unmittelbaren Form politischer Meinungsäußerung wollte die Akademie – wie es in der Veranstaltungsankündigung heißt – „bei den Beteiligten die Erwartung verstärken, dass ihre Äußerungen bei der ‚Öffentlichen Meinung‘ und im eigentlich politischen Raum Beachtung finden, gleichzeitig das bewiesene Interesse anerkennen und Mut zu weiterem politischem Engagement machen.“
Amateure und Profis
Unter den rund 50 eingeladenen Verfassern von Leserbriefen befanden sich Ärzte und Arbeiter, Rentner und Beamte, Polizisten und Juristen, Wissenschaftler und Studenten, Lehrer und kaufmännische Angestellte sowie ein Geistlicher. Schon bei den ersten Gesprächen zeigte sich, dass sie grob in zwei Gruppen zerfielen: zum einen die „Amateure“, die einmal bei einer sie besonders bewegenden Angelegenheit zur Feder gegriffen hatten; zum anderen die „Profis“, die ihr Metier über alle Sparten hinweg ausübten und zu beherrschen glaubten. Teils erschienen sie mit voluminösen Sammlungen ihrer fein säuberlich dokumentierten Zuschriften.
Besonders lebhaft verlief die vom SZ-Redakteur Wilhelm E. Süskind moderierte Diskussionsrunde mit den für die Leserbriefspalten verantwortlichen Redakteuren von Süddeutscher Zeitung (Leo Sillner) und Münchner Merkur (Ulrich Link). An einer Fülle von Beispielen aus ihrem Arbeitsalltag legten sie dar, wie sie den Motiven für die Einsendungen nachspüren, ihre Auswahl zum Nutzen des Themas und im Interesse der Leserschaft sowie in Verantwortung vor dem öffentlichen Auftrag ihrer Presseorgane treffen.
Politiker und Leserbriefe
Den gelungenen Abschluss der Veranstaltung bildete ein Podiumsgespräch unter Leitung des Akademiedozenten Gerhard Glaser zu der Frage: „Wie reagieren unsere Politiker auf Leserbriefe?“ Aus den Äußerungen von Erwin Folger (MdB SPD), Heinrich von Mosch (Pressereferent im bayerischen Innenministerium), Wilhelm Rösch (Redakteur, FDP), Peter Schmidhuber (CSU-Stadtrat) und Friedrich Zietsch (Staatsminister a.D., SPD) ging hervor, dass vor allem die Vertreter der Legislative im politischen Leserbrief einen notwendigen ergänzenden Faktor bei ihrer Meinungsbildung erblickten, ihn bisweilen gar zum Ausgangspunkt eigener politischer Initiativen machten.
Die Schlussworte der Teilnehmer vermittelten den Eindruck, dass eine Menge falscher Vorstellungen und Erwartungen, die bislang an den politischen Leserbrief geknüpft worden waren, in der Veranstaltung ausgeräumt werden konnten. Sogar die ein oder andere öffentlich geführte Pressefehde von Leserbriefschreibern untereinander fand in Tutzing ein versöhnliches Ende. Trotz des großen Erfolges hat diese – auch in den Medien stark beachtete Veranstaltung – bislang keine Wiederauflage erfahren.
Auszug aus der Korrespondenz zur Tagung:
„Sehr geehrter Herr Messerschmid!
Es ist ein Witz, über den ich herzlich gelacht habe, dass Sie ausgerechnet mich, dessen Leserbriefe niemand mehr druckt, zu einer Tagung von Leserbrief-Schreibern einladen. Aber nicht nur die Zeitungen und Zeitschriften lehnen mich ab. Die Evangelische Akademie in Tutzing schickt mir schon lange keine Einladungen mehr zu. Und wenn ich bei ihr das Programm einer Tagung anfordere, um mich dazu eventuell anmelden zu können, dann bleibt meine Bitte unbeantwortet. Die ‚Obermenzinger Gespräche‘, von denen im Laufe von nicht ganz sechseinhalb Jahren 159 stattgefunden haben, hat man mir zerschlagen.
Was wollen Sie mit einem so hoffnungslosen Fall wie mir? Wollen Sie mich etwa als Demonstrationsobjekt benützen, wohin es mit einem Menschen kommen kann, der ganz unbekümmert das sagt, was er denkt? Oder wollen Sie an meinem Fall demonstrieren, dass in unserem Wirtschaftswunderland einzig und allein die Möglichkeiten, die Meinungsfreiheit zu beschränken, unbeschränkt sind?
Nun, wenn Sie trotzdem Ihre freundliche Einladung aufrechterhalten sollten, nehme ich sie dankend an. Ihre Gastfreundschaft muss ich als Kleinrentner in Anspruch nehmen. Dagegen möchte ich nicht, dass Sie mir die Bahnfahrt zahlen. Wenn das Wetter es irgend erlaubt, werde ich mit dem Rad kommen.
(...)
Ich bin Ihnen nicht böse, wenn Sie auf diesen Brief hin Ihre freundliche Einladung zurückziehen. Opposition ist immer gut, nur darf sie nicht in wirkliche Meinungsfreiheit ausarten. So war es im Kaiserreich und so ist es heute noch.
Mit freundlichen Grüßen (...)“
Steffen H. Elsner