Entfremdet vereint?

Das Vereinigte Königreich und Europa

Fraueninsel / Tagungsbericht / Online seit: 03.07.2015

Von: Miriam Zerbel

# Regionalismus

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Die Einigung Europas ist ohne die Beteiligung des Vereinigten Königreichs nicht denkbar. Zwar zählt es nicht zu den sechs Gründungsmitgliedern, dennoch: Trotz seiner Koketterie mit der „splendid isolation“ ist das United Kingdom unabdingbarer Teil Europas geworden. Nun rückt der Brexit auf die Agenda: Spätestens im Jahr 2017 soll es ein Referendum über einen möglichen Austritt aus der Union geben. Soll und kann man das Vereinigte Königreich in der Europäischen Union halten? Das fragten wir in unserer Tagung „Entfremdet vereint?“

Unsere Tagung fand nicht ohne Grund auf der Fraueninsel mitten im Chiemsee statt. Die Insellage sollte Eingang finden in den Diskurs über die Inseln jenseits des Ärmelkanals. Eine Ortswahl, die Paul Heardman, dem Generalkonsul von Großbritannien und Nordirland in München, durchaus gefiel.

Von der Insel über die Insel

Eine Insel sei immer etwas Besonderes, unterstrich der Generalkonsul. Dennoch gehörten die britischen Inseln zu Europa – und das sei nicht rein geografisch gemeint. Den Vorwurf, die Briten erweckten mit ihren Forderungen an die Europäische Union häufig den Eindruck der „Rosinenpickerei“ wies er zurück. „Das machen alle“, sagte Heardman. „Wir Briten sind sehr direkt. Andere Staaten sind häufig geschickter darin, ihre Europapolitik zu verkaufen. Aber jedes Land hat seine nationalen Interessen.“ Zudem verortet Heardman in Brüssel zu viel Zentralismus und Bürokratie

Nach den Worten des Generalkonsuls strebt sein Land eine enge Zusammenarbeit mit Europa an. Noch enger soll die Kooperation aber nicht werden. Denn nun sei eine Grenze erreicht. Das heiße aber nicht, dass Großbritannien ein schlechtes Mitglied der Europäischen Union sei. Im Gegenteil: „Auch wenn das in der Öffentlichkeit nicht immer sichtbar ist: Großbritannien ist ein überzeugter Europäer.“

„Yes or NO“

Eine Äußerung, die der Botschafter des Vereinigten Königreichs in Deutschland, Sir Simon McDonald so wahrscheinlich unterschreiben würde. Nicht, ohne ganz diplomatisch darauf zu verweisen, dass das Vereinigte Königreich eine etwas andere Sicht auf Europa hat als andere. Das sei aber durchaus nützlich für Europa.

Der Botschafter warf eine kurzen Blick auf die gemeinsame Geschichte, um festzustellen, dass die Briten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus wirtschaftlichen und nicht aus politischen Motiven beigetreten seien. „Seit wir Mitglied in der Europäischen Union sind, gibt es meinem Land die Debatte, ob das der richtige Platz für uns in der Welt ist.“

Darüber soll möglicherweise noch im Jahr 2016 abgestimmt werden. Zwischen „Yes“ und „No“ müssen sich die Briten entscheiden, auf die Frage: Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der EU bleiben? McDonald versicherte, seine Regierung sei im Kern proeuropäisch und werde in den kommenden Monaten einen europaweiten Reformprozess anstoßen.

Wirtschaft fürchtet Brexit

Christian Schweiger von der Universität Durham, schätzt das ganz anders ein. Nach seiner Ansicht sieht es schlecht aus, mit einem Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU. Schweiger fragte in seinem Vortrag, warum die britische Regierung ausgerechnet jetzt ein Referendum plant. Seine Antwort: „Der britische Premier ist ein Getriebener. Er versucht eine Antwort auf Ukip zu finden und die Spaltung der Tories in der Europafrage zu überwinden.“

Ein Szenario, das der britischen Wirtschaft nicht gefällt. Denn die EU ist nicht nur der größte Handelspartner des Vereinigten Königreichs, aus Kontinentaleuropa kommen auch die höchsten Investitionen. Die britische Journalistin Svenja  O´Donnell arbeitet für das US-amerikanische Medienunternehmen Bloomberg und kennt die Ansicht großer Wirtschaftsunternehmen im Vereinigten Königreich. Sie fürchten die Nachteile eines Brexit und wollen lieber in der EU bleiben.

Dass Cameron bislang keine konkrete Liste von Reformforderungen an die EU vorgelegt hat, nennt O´Donnell einen geschickten Schachzug. So könne er vorgeben einen schweren Kampf gefochten und gewonnen zu haben, selbst wenn das Entgegenkommen der EU nur klitzeklein sei.

Regierungsfähige Ergebnisse als Ziel von Wahlen

Skeptisch sieht auch Roland Sturm von der Universität Erlangen-Nürnberg das geplante Referendum. „Wenn es nicht gelingt, handfeste Aussichten auf Neuverhandlungen der Verträge zu bekommen, dann möchte ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass die Abstimmung gut ausgeht.“

Generell legen die Bewohner der britischen Inseln in im Nordatlantik nicht allzuviel Wert auf geschriebene Normen wie Sturm verdeutlichte. In Deutschland undenkbar, macht im Vereinigten Königreich das die Verfassung aus, was die Interpreten der Verfassung sagen. Meist sind das keine Juristen. Traditionell hat das Parlament die Macht zu entscheiden, nicht das Volk. Mit Bezug auf das Mehrheitswahlrecht sagte Sturm: „Der Sinn von Wahlen in UK ist es regierungsfähige Ergebnisse zu generieren, nicht die Meinung des Volkes abzubilden.“

Doppelproblem: Devolution und Migration

Ebenso wie Schweiger und O´Donnell hält auch der Direktor des Deutschen Historischen Instituts, Andreas Gestrich, die Migrationsfrage für die eigentlich entscheidende. Zusammen mit der Aushöhlung der parlamentarischen Kompetenzen durch Devolution und die Abgabe von Kompetenzen nach Brüssel und Straßburg, belaste diese Doppelproblemlage das Verhältnis zur EU.
Zudem sei es dem Land nie gelungen, föderale Strukturen aufzubauen, sagte Gestrich. Nach seiner Ansicht eine wesentliche Voraussetzung mit Blick auf den politischen Prozess in Europa.

Die zunehmende Regionalisierung, mit der Autonomiebewegungen wie die in Schottland in den Fokus rücken, nahm Peter A. Kraus von der Uni Augsburg unter die Lupe. Er sieht darin die Chance zu einer demokratischen Erneuerung Europas.

Schottisches Vorbild

Gelegenheit zu einer empirischen Untersuchung des Vorbilds Schottland hatten die Teilnehmer der Tagung bei einer Whisky-Probe der Slyrs Destillerie aus Schliersee. In einem Gewölbe des Klosters Frauenwörth testeten viele Interessierte verschiedene Bavarian Single Malt Whiskys und erweiterten ihr Wissen über Produktion und Lagerung der ursprünglich schottischen Spezialität.

Mehr Europa oder weniger Europa

Als „Querdenker“ bezeichnete die bayerische Europaministerin Beate Merk, MdL, die Briten. „Wir brauchen diese Querdenker, wir brauchen die Briten“, sagte Merk. In dem Versuch, aus der Krise eine Chance zu machen erklärte die Ministerin, Cameron zwinge dazu, Europa den Bürgern besser zu erklären. Nicht verhandelbar sei allerdings eine der Schlüsselerrungenschaften der EU: die Arbeitnehmer-Freizügigkeit.  Stattdessen forderte sie mehr Europa im Großen und weniger Europa im Kleinen.

Um die Frage „more or less Europe?“ drehte sich auch die von Akademiedirektorin Ursula Münch moderierte abschließende Podiumsdiskussion. Von einer möglichen Chance durch den Brexit sprach die Volkswirtin Barbara Böttcher, Deutsche Bank Research. Sie erhofft sich von der Diskussion über ein britisches Ausscheiden den Anstoß für ein moderneres Europa. Gisela Stuart, Abgeordnete im House of Commons, stellte eine Identitätskrise fest: „Das Problem auf der Insel ist mangelnde Britishness, ist englischer und schottischer Nationalismus. Nur die Queen und die BBC sind noch britisch.“

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Getwittert wurde auch fleißig: Unter #withorwithoutuk lassen sich die Tweets aus der Tagung abrufen.

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