Die Luft ist raus
...oder bläst ein frischer Wind? Krisen und Zukunftskonzepte der Europäischen Union
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 29.11.2017
Von: Luisa Schmid und Sebastian Haas
Foto: Luisa Schmid
# Regionalismus, Europäische Integration
Ist der europäische Einigungsprozess zwischen Ideenlosigkeit, nationalen Egoismen und gemeinsamem Handlungsdruck komplett ins Stocken geraten? Wo hat die EU den größten Reformbedarf und auf welche Aufgaben sollte sie sich konzentrieren? Große Fragen, die drei Europäer aus drei verschiedenen Perspektiven beantwortet haben:
- Eugénia da Conceição-Heldt, die Reformrektorin der Hochschule für Politik München, bemerkt: Nicht nur die fortschreitende Integration, auch die Euro- sowie die liberale Handelspolitik innerhalb der EU sind an ihre Grenze geraten. Doch sie kann dieser Lage etwas Positives abgewinnen: "Die Diskussion über die Finalität der EU kann beginnen. Will man eine politische Union, wer trägt die Verantwortung, wer geht voran?"
- Franz Fischler, Präsident des Europäischen Forums Alpbach und ehemaliger österreichischer Minister sowie EU-Kommissar für Landwirtschaft, sieht eine "enorme Chance für die EU, weltweit eine größere Rolle zu spielen" - wenn sie unabhängig von Vertrags-Diskussionen die drängenden Probleme angeht, die kein Staat alleine lösen kann: Migrationspolitik, Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion, Äußere Sicherheit, Digitalisierung, Klima- und demografischer Wandel.
- Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung betont, dass das Mehrebenen-System der EU zwar zur Selbstblockade neigt, aber auch Möglichkeiten für Zwischentöne bietet. Zum Beispiel: Mehr Europa in der Umweltpolitik; weniger Europa bei der versuchten Vereinheitlichung der Sozialpolitik; eine differenzierte Integration in der Steuerpolitik, in der eine "Koalition der Willigen" ihre Kapitalertragssteuern harmonisiert.
Brexit - was nun?
Durch die Brexit-Verhandlungen ist die Zukunft Großbritanniens in Europa ungewiss. Um eine lose-lose Situation zu verhindern, rät Erdal Yalcin (ifo-Zentrum für Außenwirtschaft), Großbritannien nicht abzustrafen, sondern ein ambitioniertes Handelsabkommen zu schließen. Ein schwacher Nachbar würde auch der EU schaden. Roland Sturm (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) schließt nicht aus, dass der britische Inselstaat wider Erwarten in der Europäischen Union bleiben wird. Denn das Referendum sei aus einer Laune heraus und ohne Plan entschieden worden. Zoe Lefkofridi (Paris Lodron Universität Salzburg) zieht hier eine Parallele zu Griechenland. Dessen EU-Beitritt war wenig durchdacht und konnte somit die Wirtschaft und Politik des Landes aus dem Gleichgewicht bringen. Doch ein Verlassen der Union war keine Option für die Griechen.
Chance zur Zusammenarbeit
Bisher bleibt nach dem Brexit-Votum ein Domino-Effekt aus, der (mögliche) Austritt der Briten wird auch als Chance wahrgenommen, erklärt Kai-Olaf Lang (Stiftung Wissenschaft und Politik). Wenige Staaten ziehen sich zurück, die Mehrheit der Mitglieder pocht auf eine verstärkte Zusammenarbeit, ohne die nationale Souveränität einzudämmen. Parteien hätten im digitalen Zeitalter an Bedeutung verloren, vor allem fehlt der Bürgerkontakt. Zoe Lefkofridi schlägt eine transnationale Mobilisierung vor: Europäische Probleme verlangen nach europäischen Lösungen. Das Potenzial liege in der Zusammenarbeit, nicht im Konzept der exklusiven Solidarität. Das bewusste Ausgrenzen bestimmter Gruppen spalte die Gesellschaft. Das Phänomen des aufstrebenden Populismus untersucht Jochen Franzke (Universität Potsdam): Dieser kann Gefahr oder Chance sein, auch wie ein Korrektiv wirken, zu einer Re-Politisierung führen und letztlich die Demokratie stärken.
Starke Regionen – Starkes Europa
Matthias Bieri (Center for Security Studies der ETH Zürich) erforscht den europäischen Regionalismus. Er betont, dass Regionalismus weder den Nationalstaat überwinden, noch einen neuen Staat gründen möchte und somit klar vom Separatismus abzugrenzen ist. Nur sehr selten schlägt Regionalismus in separatistische Bestrebungen um. In solchen Fällen müsse sich die Europäische Union unbedingt heraushalten - wie in den Diskussionen um die Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich oder um ein unabhängiges Katalonien. Denn hier gilt das Subsidiaritätsprinzip: Agieren auf der tiefsten Ebene. 70 Prozent der europäischen Gesetze werden von substaatlichen Einheiten umgesetzt. Die Regionen profitieren sehr vom europäischen Binnenmarkt und steigern so die Integrität der Mitgliedsstaaten.
Die Einheit eine Illusion
Das Zukunftsmodell für Europa liegt in der differenzierten Integration. Die Heterogenität der Nationalstaaten verlangt ein flexibles System. Eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten wie im Schengener Abkommen ist ein Beispiel dafür: nicht alle Mitgliedsstaaten sind Teil davon. Europa kann nur funktionieren und zusammenhalten, wenn die Staaten freiwillig ihre Kompetenzen abgeben und nichts erzwungen wird.
Der sicherheitspolitische Jahresrückblick auf 2024
Europas Rolle in der globalen Weltordnung
Alternde Gesellschaft
Wie der demografische Wandel Japans Demokratie verändert
Populismus als Prüfstein der Demokratie
Wie populistische Bewegungen die Grundlagen liberaler Demokratien infrage stellen
Geopolitik und transatlantische Beziehungen
So steht es um die Zukunft der europäischen Außenpolitik
Europa unter Druck
Manfred Weber diskutiert über Krisen und Zukunft der EU
Osteuropa und die NATO
So entwickelt sich das Bündnis seit dem russischen Angriffskrieg