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30 Jahre Deutsche Einheit

Was trennt, was verbindet Ost und West?

30 Jahre nach der Deutschen Wiedervereinigung leben, verdienen und wählen Ostdeutsche noch immer anders als ihre westdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ist Deutschland nach wie vor ein gespaltenes Land? Und woran liegt das? Über regionale Unterschiede, Identitäten und Erwartungshaltungen haben an der Akademie für Politische Bildung Akteure aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 21.10.2020

Von: Beate Winterer / Foto: Beate Winterer

Programm: 30 Jahre Deutsche Einheit

30 Jahre Deutsche Einheit

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"Die Deutsche Einheit ist ein sagenhafter Erfolg", findet Michael Frehse, Leiter der Abteilung Heimat des Bundesinnenministeriums. Die zentrale Leistung der Wende sieht er darin, dass 1990 die Hauptkampflinie zwischen Ost und West gefallen ist und Europa sicherer wurde. "Wir leben seitdem im Windschatten der Geschichte", sagt Frehse. Zum Jubiliäum der deutschen Wiedervereinigung diskutierten der Ministerialdirektor sowie Vertreter von Wissenschaft und Zivilgesellschaft auf der Tagung "30 Jahre Deutsche Einheit - Ein nach wie vor gespaltenes Land?" der Akademie für Politische Bildung.

Abgehängte Regionen

Die Kehrseite der Wiedervereinigung leugnet auch Frehse nicht: "Im Westen hat sich de facto nichts geändert - außer, dass man mit dem Auto in den Osten fahren konnte. Für die 16 Millionen im Osten begann ein ganz neuer Lebensabschnitt." Und der war in vielen Fällen verbunden mit Arbeitslosigkeit, Frustration und Abwanderung. "In vielen Regionen ist niemand mehr, der abwandern kann", sagt Steffen Maretzke vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Bis zu 30 Prozent der Einwohner haben manche Landkreise in den 30 Jahren seit der Einheit verlassen. Und mit den Menschen verschwanden Supermärkte, Schulen und Arztpraxen. Genau in diesen strukturschwachen und peripheren Regionen sieht Maretzke 2020 den größten Ballast der Wiedervereinigung. "Wenn kein Dorf aufgegeben wird, muss die Infrastruktur in die Fläche gebracht werden - und dafür sind mehr Finanzen nötig", betont er.

Grundsätzlich handelt es sich dabei nicht um einen Ost-West-Konflikt, sondern um einen zwischen strukturstarken und -schwachen Regionen, die es jeweils auch in Westdeutschland gibt. Allerdings liegen im Osten wesentlich mehr strukturschwache Regionen als im Westen. Oder wie es Thomas Lenk von der Universität Leipzig ausdrückt: "Ein sehr hoher Anteil der Gesamtbevölkerung lebt in lebenswerten Landkreisen und nur wenige in nicht lebenswerten." Da die Steuereinnahmen der ostdeutschen Länder nur bei 60 Prozent des Bundesdurchschnitts liegen, wäre der Länderfinanzausgleich ein Mittel, um um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Aktuell verstärkt er aber eher Ungleichheiten. "Die finanzstarken Länder haben bei der Reform gewonnen", sagt Lenk. Zwar haben die 16 Länder gemeinsam durchgesetzt, dass der Bund mehr Einnahmen an sie abgibt und so alle mehr Geld erhalten als früher. Von der Steuerzuordnung profitieren wirtschaftsstarke Regionen jedoch in einem Ausmaß, das der Länderfinanzausgleich nicht mehr wettmachen kann.

Ostdeutsche erleben Benachteiligung

Die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern wird immer wieder als Erklärung für die dortigen Wahlergebnisse bemüht - insbesondere wenn es um die Stärke des linken und des rechten Randes geht. Die Politikwissenschaftlerin Susanne Pickel von der Universität Duisburg-Essen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Thematik und widerspricht: "Die Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage kann die Einstellungen zur Demokatie in Ost und West nicht erklären." Dass Ostdeutsche mit dem politischen System unzufriedener sind als Westdeutsche und den Parteien weniger vertrauen, sieht sie in einem kollektiven Gefühl der Benachteiligung begründet, der sogenannten relativen Deprivation. Pickel zitiert den Präsidenten der Bundeszentrale für Thomas Krüger: "Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil: Wir haben uns immer als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR. Die gemeinsamen Erlebnisse von Benachteiligung und fehlender Wertschätzung haben sie geschaffen."

René Sternberg vom Netzwerk 3te Generation Ost spricht von einer "Marginalisierung durch die Mehrheitsgesellschaft". Nach der Wende wurden die Eliten im Osten faktisch ausgetauscht. Tausende Stellen, vor allem an den Hochschulen, in der öffentlichen Verwaltung und an den Gerichten, wurden von Westdeutschen besetzt. Bis heute kommen gerade einmal drei der 336 Bundesrichter aus Ostdeutschland. Von den Abteilungsleitern in den Bundesministerien sind es drei Prozent - und das obwohl fast jeder Fünfte Deutsche aus dem Osten kommt. "Diese Marginalisierung lässt sich nicht allein überwinden", sagt Sternberg. Eine Chance sieht er, wenn in den kommenden Jahren die Babyboomer in Rente gehen. "Jetzt ist die Zeit, den Wendekindern Verantwortung zu übergeben." Davon erhofft er sich auch bei der älteren Generation eine stärkere Identifikation mit der gesamtdeutschen Gesellschaft und der Demokratie.

Diktaturerfahrung noch nicht überwunden

Joachim Klose von der Konrad-Adenauer-Stiftung will die geringere Zufriedenheit mit dem politischen System aber nicht nur auf das Gefühl der Benachteiligung schieben und warnt davor, die Umfragen überzubewerten: "Die Zustimmung zur Demokratie ist in Ostdeutschland heute vergleichbar mit Westdeutschland in den 70er Jahren. Die Transformation der politischen Kultur dauert mindestens 40 Jahre." Mit der jüngeren Diktaturerfahrung erklärt Volker Mittendorf von der Bergischen Universität Wuppertal auch die niedrigere Wahlbeteiligung das geringere politische Engagement der Ostdeutschen. Beides ist unter anderem stark vom Vereinsleben abhängig. "Aber zivilgesellschaftliche Vernetzung war im Osten schwierig, weil die Stasi immer dabei war", erklärt er. Deshalb entstanden die Proteste rund um die Wende auch in den wenigen Freiräumen, die der Staat den Bürgern ließ: den Kirchen.

Bis heute sind die Parteien mit Ausnahme der Linken in der ostdeutschen Gesellschaft kaum verwurzelt. Laut Benjamin Höhne vom Institut für Parlamentarismusforschung liegt das auch daran, dass mit der Deutschen Einheit "Westparteien in den Osten verpflanzt" wurden. Gerade mit Blick auf die Landespolitik wehrt sich Hendrik Träger von der Universität Leipzig jedoch dagegen "den Osten" als homogen zu sehen. Schließlich regieren in den fünf neuen Bundesländern Ministerpräsidenten von drei verschiedenen Parteien - der CDU, der SPD und der Linken. Höhne spricht von einer "zentrifugalen Wettbewerbsdynamik": Die Ränder des politischen Spektrums gewinnen an Zuspruch, während die Identifikation zu den Volksparteien sinkt.

Um die Partizipation der Bürger zu stärken, schlägt Mittendorf eine Senkung der Hürden für Bürgerbegehren und sogenannte Mini-publics vor, bei denen zufällig ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer miteinander über politische Fragen diskutieren. "Bedürfnisse und Probleme äußern ist ein wichtiger Teil von Politik", betont auch Madeleine Henfling, Landtagsabgeordnete der Grünen in Thüringen. Die Streitkultur in Ostdeutschland sei weniger ausgeprägt als im Westen. "Es herrscht ein seltsames Neutralitätsverständnis", sagt sie. Auch an den Schulen werde kaum über Politik gesprochen. Und auch Pickel verbreitet Hoffnung: "Nicht einmal zehn Prozent der Deutschen wünschen sich die Mauer zurück. Die überwältigende Mehrheit will eine liberale Demokratie."

 

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