Grenzüberschreitende Räume
Regionale Verflechtung und Zusammenarbeit in Europa
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.06.2015
Von: Beryll Kunert
# Gesellschaftlicher Wandel, Regionalismus
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In der Europäischen Union sind die Grenzen fast unsichtbar geworden. Es ist normal, über Grenzen hinweg zu arbeiten und zu leben. So entstanden transnationale Verflechtungen und Projekte, denn benachbarte Regionen kämpfen häufig mit ähnlichen Problemen und haben nicht selten gemeinsame Interessen. Welche Formen grenzüberschreitender Zusammenarbeit gibt es? Wie bewähren sie sich in der Praxis? Welcher Mehrwert, welche Herausforderungen entstehen durch die Kooperation? Und trägt diese Regionalisierung zu mehr Bürgernähe im Sinne einer europäischen Identität bei? Die Akademie für Politische Bildung diskutierte diese Fragen zusammen mit namhaften Wissenschaftlern und Akteuren.
Grenzüberschreitende Verflechtung findet auf zwei Ebenen statt: Erstens auf der sozio-ökonomischen und zweitens auf der institutionellen Ebene. Geograph Tobias Chilla (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) betont eingangs, dass Verflechtung auf der einen Ebene nicht automatisch Verflechtung auf der anderen Ebene bedeutet. Außerdem sei es kein Automatismus, dass nach einer Grenzöffnung überhaupt grenzüberschreitende Verflechtung stattfindet. Ob sozio-ökonomischen Integration gleichsam hieße, dass sich die Grenzregionen beider Seiten auf gewisse Art anpassen und assimilieren, sei nicht abschließend zu beantworten; Dass aber Unterschiede als Ressourcen fungieren können, treffe in Metropolregionen (im Gegensatz zum ländlichen Raum) zu. So entstand beispielsweise im Gebiet Saarland - Luxemburg eine verstärkte Dynamik durch die Spezialisierung: Arbeiten in Luxemburg, Wohnen im Saarland. Aus der institutionellen Perspektive sei zu beobachten, dass eine Verlagerung auf andere Politik- und Verwaltungsebenen stattfindet. Eine Enträumlichung oder ein Souveränitätsverlust entsteht, laut Chilla, aber durch weiche nationalstaatliche Grenzen nicht.
Ein Europa der Regionen?
Professor Franz Schausberger vom Institut der Regionen Europas (IRE) nennt Europa einen "veritablen Friedhof für Staaten". So seien im Laufe der Geschichte viele Nationalstaaten zu Bruch gegangen, während die Regionen meist gleichbleibend stabil waren. Das Konzept eines Europas der Regionen, das zum Ziel hat, möglichst viel Kompetenz vom Gesamtstaat auf die Regionen zu übertragen, sei also letztendlich eine Stärkung des Kontinents und seiner politischen Verflechtung. Dieses Konzept würde effizientere regionale Verwaltungen etablieren, mehr Bürgernähe zur Politik schaffen, den Wettbewerb zwischen den Regionen fördern, die regionale Vielfalt anerkennen, das Subsidiaritätsprinzip verwirklichen und schlussendlich der gesellschaftlichen Anonymisierung durch Identifikation der Bürger mit ihrer Region Einhalt gebieten.
"Das Eigene im Fremden erkennen"
Wie aber sieht so eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit konkret aus? Drei Fallbeispiele von Makroregionen offenbarten Unterschiede und Parallelen:
(1) Die Initiative der Europäischen Kommission im Donauraum zur Förderung von Umweltschutz, Wohlstand, besserer An- und Verbindung und Stärkung der gesamten Region stellte Jürgen Raizner (Steinbeis-Donau-Zentrum) vor. Ziel der Donaustrategie sei es eine effektivere Struktur zur Verwaltung der finanziellen Mittel zu erreichen und vor allem die transnationale Kommunikation fördern.
(2) Von der Donaustrategie zur Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino: Laut Dr. Alice Engl (Europäische Akademie Bozen) ist die grenzüberschreitende Kooperation in der Bevölkerung der drei Provinzen zwar nicht sehr bekannt, doch wird grundsätzlich der Ausbau der Zusammenarbeit begrüßt. Die Institutionalisierung der Euregio Tirol-Südtirol-Trentino geschehe auf zwei Ebenen: zum einen auf der zweckorientiert-funktionalen und zum anderen auf der politisch-symbolischen. Voraussetzungen für derartige grenzüberschreitende Verflechtungen seien die Zustimmung der politischen Eliten, die Beteiligung gouvernementaler und non-gouvernementaler Akteure, die Etablierung überregionaler Mechanismen und die funktionelle Berücksichtigung der regionalen Unterschiede.
(3) Regionale Unterschiede wurden ganz deutlich im deutsch-tschechischen Grenzgebiet rund um die Stadt Eger: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Euregio Egrensis zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gegründet. Dr. Birgit Seelbinder (Präsidentin Euregio Egrensis Arbeitsgemeinschaft Bayern) berichtet von verschiedenen Projekten, wie Kindersommerlagern und Gastschuljahren zum Austausch zwischen den Ländern. Auch wurden im Laufe der Jahre transnationale Großprojekte, wie die Gartenschau, ein Geopark, ein eigener, gemeinsam organisierter Ausbildungslehrgang und Radwege realisiert.
Im deutsch-tschechischen Grenzgebiert gibt es auch eine intensive Zusammenarbeit zwischen der deutschen und der tschechischen Polizei. Josef Eckl (Koordinator des Gemeinsamen Zentrums der deutsch-tschechischen Polizei- und Zollzusammenarbeit) verdeutlichte anhand von Fallbeispielen die enge Zusammenarbeit der Behörden.
Bringing the people back in
Kann Regionalisierung die Bürgernähe in der Europäischen Union stärken und das Demokratiedefizit verringern? Nicht unbedingt, sagt Dr. Franz Fallend von der Universität Salzburg. Anhand einer europaweiten Meinungserhebungsstudie (CANS (Citizenship after Nation State)) zeigt er auf, dass zwar grundsätzlich das Vertrauen in regionale und lokale Politikebenen größer ist, als in nationale; Paradoxerweise spricht sich die Mehrheit der Befragten aber für nationale Regelungen zentraler Politikfelder, wie Bildung, aus. Die Befragung zeigte außerdem deutlich, dass sich die Bürger größtenteils dual oder mehrfach identifizieren, also regional und national oder national und europäisch.
Innerhalb der Europäischen Union wird oftmals vom Fehlen eines europäischen Demos gesprochen. Ein Demos ist laut Dr. Claudia Wiesner (Philipps-Universität Marburg) keine reine Ansammlung von Bürgern, sondern demokratische Identität meint vielmehr die Selbstdefinition des Demos. Eine kollektive Identität ist dazu nicht einfach vorhanden, sondern bilde sich erst in sozialen Prozessen. Kollektive Identität heißt kollektiv geteilte Haltungen, Werteorientierung und Wahrnehmungsweisen, die immer an die individuelle Identität gekoppelt sind. Transregionale Identitäten (beispielsweise entstanden durch die Offenheit im Schengenraum) können laut Wiesner zur Bildung eines europäischen Demos beitragen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
Weitere Informationen
Blog Prof. Chilla: Regionalentwicklung Bayern
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