Verflixte acht Jahre

Die Entwicklungen nach dem „Arabischen Frühling" kritisch hinterfragt

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 28.11.2018

Von: Anja Opitz

Foto: APB Tutzing

# Internationale Politik, Gesellschaftlicher Wandel, Demokratie, Naher und Mittlerer Osten, Afrika

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Vergessen sind sie nicht, die Bilder tausender Menschen in der arabischen Welt, die 2011 gegen die herrschenden autoritären Regime protestierten. Das Ziel war die Veränderung der politischen und sozialen Strukturen, die Teilhabe der jungen Generation und eine Verbesserung der Menschenrechtslage. Acht Jahre danach werfen die Entwicklungen in der Region alte und neue Fragen auf. Gerade in der deutschen Öffentlichkeit und Politik haben die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten an Priorität verloren, das Narrativ hat sich geändert. Wir blicken auf Syrien im Hinblick auf Fragen der Rückführung und des Wiederaufbaus. Doch ein verkürzter Blick auf die Region greift nicht nur angesichts der geopolitischen Lage zu kurz; er birgt Gefahren mit sich. Unsere Tagung griff genau diese auf und hinterfragte die Entwicklungen nach dem „Arabischen Frühling" differenziert.


Tutzing Oktober 2018 Tagung Arabischer Frühling

(ExpertInnen im Gespräch - von links: Edmund Ratka von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, der ehemalige Sozialreferent an der Deutschen Botschaft in Tunis und SPD-Landtagsabgeordnete Franz Maget, unsere Tagungsleiterin Anja Opitz und Lena Marie Al-Odeh vom Auswärtigen Amt.)

Die Bilanz ist bedrückend: In Syrien, Jemen und Libyen sind seither mehr als eine halbe Millionen Menschen im Krieg gestorben. Freie Wahlen hat es seit 2013 zwar in Tunesien, und zunächst auch in Ägypten gegeben. Bei der jüngsten Wahl 2018 in Ägypten wurde Präsident Abd al-Fattah as-Sisi mit 97 Prozent wiedergewählt, die Wahlbeteiligung lag bei kläglichen 41 Prozent. Die politische Freiheit in den Ländern wird immer weiter eingeschränkt; lediglich Tunesien geht hier als Beispiel voran. Die Jugendarbeitslosigkeit, einer der Hauptgründe für die Proteste 2011, ist in beiden Ländern gestiegen und korreliert mit der politischen Instabilität in den Ländern. Mit Ausnahme von Tunesien sind fast alle Länder des arabischen Raums unter den weltweiten Korruptionsdurchschnitt gefallen. Insgesamt hält der Nahe Osten heute den Weltrekord in sozialer Ungleichheit.

Ist es den arabischen Staaten überhaupt möglich, auf die Proteste und Unruhen zu reagieren und auf die Forderungen der Zivilbevölkerung einzugehen? Allein der Blick auf die Frage der Jugendarbeitslosigkeit lässt erahnen, dass es hierfür keine einfachen und schnellen Lösungen geben wird. Allein um sie auf derzeitigem Niveau stabil zu halten, müssten im arabischen Raum mehr als zehn Millionen neue Jobs in den kommenden zehn Jahren geschaffen werden. Dafür fehlt es an Liquidität, Reformwillen und -fähigkeit.

Das Beispiel Tunesien

Hat Demokratie und Entwicklung im arabischen Raum überhaupt eine echte Chance? Ja, wie das Ursprungsland des „Arabischen Frühlings", Tunesien zeigt. Tunesien ist heute ein anderes Land, berichtete Franz Maget, der Co-Tagungsleiter unserer Tagung. Es ist ein demokratisch regiertes und verfasstes Land, ein Nationalstaat mit Selbstbewusstsein, mit dem sich die Zivilgesellschaft identifiziere. Auch die Rolle der Frau spiele eine zentrale Rolle im Entwicklungsprozess Tunesiens: Im Parlament sitzen heute 40 Prozent Frauen, auch die erste Bürgermeisterin des Landes ist eine Frau. Tunesien sei ein kleines Versuchslabor für westliche Demokratien, so Maget, um im islamisch, arabischen Raum Demokratien aufzubauen. Das Land könne eine Vorbildfunktion einnehmen und so einen positiven Effekt auf die Entwicklung seiner Nachbarländer entfalten.

Können wir also einen echten „Arabischer Frühling" 2.0 erwarten? Politischer Wandel war nie linear. Demokratie kommt stets in kleinen Schritten und nach vielen Rückschlägen.

Tagung Arabischer Frühling Tutzing

Blick aufs Podium der Akademie für Politische Bildung - von links: Christine Straßmaier (MEIA Research), Ilyas Saliba (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung), Anja Opitz (Akademie für Politische Bildung), Lena Marie Al-Odeh (Auswärtiges Amt) und Edmund Ratka (Konrad-Adenauer-Stiftung).


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