Integration: Was kann Europa?

Europa-Abgeordnete Nadja Hirsch zu Chancen und Herausforderungen des Einwanderungskontinents

Brüssel / Tagungsbericht / Online seit: 01.08.2018

Von: Sebastian Haas

# Europa, Integration, Migration

Die FDP-Politikerin Nadja Hirsch ist Abgeordnete des Europaparlaments. Sie gehört dort der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) an. Am Rande der Brüsselreise des Tutzinger Diskurses haben wir mit ihr über Chancen und Herausforderungen der Integration, den Einwanderungskontinent Europa und die Kompetenzen der Europäischen Union gesprochen. Das komplette Interview finden Sie auf der Homepage des Tutzinger Diskurses.


Liebe Frau Hirsch, wie definieren Sie Integration?

Hirsch: Für mich bedeutet Integration, dass eine Person, die sich freiwillig entscheidet, mit und in einer Gesellschaft zu leben, ihre Identität, ihre Wurzeln nicht aufgeben muss – aber auch willens ist, die Rahmenbedingungen, die diese Gesellschaft teilt, zu wertschätzen und zu leben.

Was bringt gelungene Integration einer Gesellschaft? Und erkennen Sie Unterschiede vor Ihrer Haustür in Brüssel wie in München?

Hirsch: Definitiv. München ist eine sehr reiche, wohlhabende Stadt, in der wir keine wirklichen Verteilungskämpfe haben. Da können die meisten Menschen – auf welche Weise auch immer – am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Im Vergleich dazu Brüssel – wo die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anders sind, wo eine höhere Arbeitslosigkeit herrscht –, da merkt man eben auch: wo die Rahmenbedingungen gut sind, gelingt Integration eindeutig einfacher.

"Ein großer Mehrwert für die Gesellschaft"

Was die Chancen betrifft: Am einfachsten zu beschreiben ist der wirtschaftliche Aspekt – Fachkräftemangel, qualifizierte Mitarbeit, das kennen wir alle. Dazu kommt die Vielfalt: Ich genieße es, die Globalisierung im Kleinen durch einzelne Personen erleben zu dürfen. Das ist ein großer Mehrwert für die Gesellschaft. Wenn ich hier in Brüssel bin und mich auf diese Gesellschaft einlasse, eröffnet mir das doch ganz andere Lebensmöglichkeiten, Bildungsmöglichkeiten, berufliche Möglichkeiten, Möglichkeiten zur menschlichen Entwicklung. Für die Gesellschaft wie für das Individuum ist Integration ein wichtiger Punkt und bietet für beide Seiten Chancen.

Nadja Hirsch Europaparlament Brüssel

Welche drängenden Herausforderungen sehen Sie im Integrationsbereich?

Hirsch: Die echte Herausforderung ist tatsächlich, den Mehrwert unserer offenen Gesellschaft klar zu machen und herauszuarbeiten. Was sind die Kernelemente, die wir für so wichtig erachten, dass wir sie wertschätzen und einfordern? Diese Diskussion ist so schwammig, weil sie nie genau definiert wird: Es geht nicht um Kultur, nicht um Religion, nicht um persönliche Befindlichkeiten oder Lebensentwürfe – es ist ja unsere Stärke, dass wir in all diesen Bereichen Vielfalt haben. Und worauf ist diese Vielfalt zurückzuführen? Auf Demokratie, auf Rechtstaatlichkeit, auf die Gleichberechtigung von Geschlechtern. Das sind die Bausteine, die ermöglichen, dass wir diese Pluralität und Vielfalt gewährleisten können und niemanden einschränken.

Lebensentwürfe zusammenbringen

Die nächste Herausforderung: Bildung. Ich glaube, dass Schule der Ort ist, um unterschiedliche Lebensentwürfe kennenzulernen. Jede und jeder hat eine Familie, die prägt, mit der man glücklich ist oder nicht – und früh kennenzulernen und damit umzugehen, dass es verschiedene Familien- und Rollenmodelle gibt, ist für eine Gesellschaft extrem wichtig. Dazu kommt die Sprache: Sie ist nun einmal der Schlüssel – ohne Kommunikation auf einem annähernd gleichen Level ist kein Dialog, ist kein Austausch, kein Verständnis möglich. Nicht einmal in Bayern.

Auf europäischer Ebene geht es um Grenzschließungen, Fluchtursachenbekämpfung und Ausschiffungsplattformen, selten um Integrationsthemen. Weil die Europäische Union nicht zuständig ist?

Hirsch: Tatsächlich ist Integration als Politikfeld keine Kompetenz der EU, sondern ist nationalstaatlich oder auf Landesebene geregelt. Formal gesehen ist es kein Aspekt, wird aber natürlich diskutiert – weil Integration der Schlüssel ist, der unter Umständen Ängste auf- oder abbauen kann. Schauen Sie sich die Diskussionen über ein gemeinsames Asyl- und Einwanderungssystem an: Die hängen mit den Erwartung zusammen, ob Menschen, die zu uns nach Europa kommen, die Gesellschaft zum Positiven oder Negativen verändern. Wenn man dabei vorrangig einen negativen Einfluss betont, baut man natürlich eine andere, restriktivere Gesetzgebung auf; dann geht man zum Beispiel davon aus, dass Geld von den Asylsuchenden missbraucht wird – und gibt Sachleistungen aus. Die Frage ist: Mit welcher Brille mache ich Gesetze und leite Maßnahmen ein?

Mit Blick auf die Politik der letzten Jahre beschleicht einen das Gefühl: Die Europäische Union akzeptiert Europa als Einwanderungskontinent. Doch Maßnahmen, um diese Einwanderung zu regeln, kommen zu spät, gar nicht oder werden nicht umgesetzt. Sehen Sie diese Gefahr auch im Integrationsbereich? Ist man einmal mehr zu spät dran?

Hirsch: Man hat ja immer den Eindruck, die Europäische Union gehe seit der Eurokrise fast jeden Moment kaputt. Doch man benötigt eine gewisse Dynamik, um manche Länder zu bewegen, weil sie in ihrem alltäglichen Geschäft gefangen sind. Dass nicht langfristig und in Ruhe gearbeitet wird, sondern nur, wenn der Druck besonders hoch ist, das ist nicht gut, ist aber ein Funktionsmechanismus in der Politik.

Politik, Gesellschaft, Individuum - alle sind am Zug

Im Europäischen Rat zum Beispiel sind fünf von sieben Dossiers in der überarbeiteten Asylgesetzgebung fertig abgestimmt. Wir sind handlungsfähig. Doch die Punkte, die jetzt beschlossen wurden, hatten wir 2011 als Europäisches Parlament bereits angemerkt. Man lernt eben langsam, aber man lernt, und das ist ein Fortschritt. Nicht immer die, die am lautesten schreien, haben Recht.

Nun ist das ganze Thema Integration am schwierigsten zu greifen, weil es nicht gesetzlich zu verordnen ist. Ich kann regeln, wie schnell ein Asylverfahren durchgeführt werden muss, ich kann Qualitätsstandards und Fristen festsetzen. Doch diese Herausforderung kann nicht von der Politik alleine getragen werden. Das ist ein langer, intensiver und gesamtgesellschaftlicher Prozess. Wir haben lange den Fehler gemacht, Probleme nicht offen anzusprechen, doch das gehört zu einem demokratischen Prozess. Ein offener Diskurs wie dieser hier in Tutzing ist nötig, weil sonst die extremen Parteien gewinnen werden.


Das gesamte Interview mit Nadja Hirsch lesen Sie auf der Homepage des Tutzinger Diskurses


Weitere Informationen

Migration und Flucht – was tut die EU? Informationen aus der Europäischen Kommission

Migration, Mobilität und Entwicklung. EU-Mobilitätspartnerschaften als Instrument der Entwicklungszusammenarbeit – Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (PDF)


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