„Wir müssen uns immer integrieren"
Tutzinger Diskurs „Wege der Integration" besucht Europaparlament in Brüssel und Bart Somers, den Bürgermeister von Mechelen
Brüssel/Mechelen / Tagungsbericht / Online seit: 18.07.2018
Von: Sebastian Haas
Foto: APB Tutzing
# Europa, Gesellschaftlicher Wandel, Integration
So trafen die 15 Stipendiatinnen und Stipendiaten des Tutzinger Diskurses unter anderem Grünen-Europaparlamentarierin Barbara Lochbihler. Sie wies darauf hin, dass die Politik gut daran tue, in der Debatte um die weltweite Migration statt nackter Zahlen wieder die Menschen in den Mittelpunkt zu rücken.
Neuankömmlinge willkommen
Dies passiert eindeutig bei VIA, einer Agentur, die in Brüssel den Willkommensprozess für Neuankömmlinge – kein Wort von Integration, Flüchtlingen oder Migranten – organisiert. (Mehr zu VIA auch auf der Homepage des Tutzinger Diskurses.) Bis zu 2000 Personen pro Jahr durchlaufen hier einen zunächst freiwilligen Grundlagenkurs und treten nach einer symbolischen Vereinbarung über ein persönliches Projekt in den offiziellen Teil der Willkommensphase ein. Von Sozialarbeitern und Sprachtrainern begleitet gibt es dann Beratungsgespräche, Sprach- und Staatsbürgerkurse, in denen der Austausch über alle Belange von Staat und Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Die erfolgreiche Teilnahme ist Voraussetzung dafür, um über kurz oder lang die belgische Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Erst geht es darum zu klären, wer Du selbst bist, dann reden wir darüber, wer Du werden kannst und teils auch sollst. Laura Diop, stellvertretende VIA-Leiterin.
VIA selbst kämpft mit den Spitzfindigkeiten des föderalen Systems in Belgien: Zertifikate, die man hier nur für den wallonischen Landesteil oder Brüssel ausstellt, haben im flämischen Teil keine Gültigkeit. Und wie es nach den Gemeinde- und Provinzialwahlen im Oktober 2018 generell in Sachen Integration weitergeht, steht auf einem ganz anderen Blatt: Rechtspopulisten und -radikale, die ganz auf Assimilation statt Willkommenskultur setzen, sind gerade in Flandern stark.
Mechelen: Inklusiv und strikt
Doch hier gibt es auch einen, der seine Stadt zur „inclusive city" machen möchte: Bart Somers, seit 2001 Bürgermeister von Mechelen. In der 90.000-Einwohner-Stadt hat ein Drittel der Einwohner keine belgischen Wurzeln, hier leben Bürger aus 138 Nationen, die 69 verschiedene Sprachen sprechen. Und hier wird eine Stadtentwicklung unter dem Leitmotiv betrieben, die Vielfalt der Einwohner als Reichtum zu begreifen. Begonnen hat alles mit denkbar einfach erscheinenden und vergleichsweise günstigen Maßnahmen, um das Lebensumfeld der Bürger allgemein zu verbessern:
- viele Kehrmaschinen und hohe Strafen fürs Müllverteilen sorgen für saubere Straßen;
- eine weitestgehend autofreie Altstadt und hohe Steuern auf Motorroller bei gleichzeitiger Förderung von E-Fahrrädern sorgen für bessere Luft;
- im öffentlichen Raum sorgen Minijobber abends für Rücksicht, Ruhe und Sauberkeit;
- Eltern, die Ihre Kinder auf dem Polizeirevier abholen, werden in einem Beratungsgespräch vor die Wahl gestellt: entweder 50 Euro Verwaltungsgebühr zahlen, oder in einer offiziellen Vereinbarung versprechen, die eigenen Sprösslinge besser im Auge zu halten.
Das mag spießig oder nach Sittenpolizei klingen, und was nicht den gewünschten Effekt bringt, wird eben wieder sein gelassen. „Praktische Lösungen, keine theoretischen Überlegungen", sagt Bart Somers zu seiner Politik, die zwischen offenen Armen und law & order schwankt. Und es funktioniert: Junge Familien, kleine wie große Unternehmen ziehen zu, die Kinderarmut geht leicht zurück und Umfragen bescheinigen der Stadtverwaltung ein hohes Ansehen – zumal man dort heute „deutlich effizienter arbeitet als früher" (was wiederum nach Stellenabbau, -umschichtung und einer intensiven Suche nach den sogenannten Synergien klingt).
Sind Traditionen zum Überwinden da?
Hinter all diesen Initiativen steckt ein Menschenbild, das sich deutlich von dem der öffentlichen Diskussion unterscheidet: In Mechelen versucht man, das Denken in Gruppen zu überwinden – und damit Rassismus, Diskriminierung und überkommene Traditionen. „Man kann hier Marokkaner, Belgier und Bürger von Mechelen zugleich sein", meint Somers. „Wer immer an allen Traditionen festhält, gefährdet die Freiheit aller. Wir müssen uns immer alle in neue Situationen integrieren. Sonst wären die Rechte von Arbeitern, Frauen oder LGBT noch immer nicht durchgesetzt." An denen der neu Hinzugezogenen arbeitet man weiter.
Das Forschungs- und Diskursprojekt „Wege der Integration" wird aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren und für Integration gefördert, die Ergebnisse werden im November 2018 vorgestellt. Auf der Informationsreise traf die Diskursgruppe in Brüssel außerdem Vertreterinnen und Vertreter der Abteilung für Legale Migration und Integration der Europäischen Kommission, der EVP-Fraktion im Europaparlament, der Friedrich-Ebert- sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In Mechelen standen zusätzlich Gespräche mit Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung und Besuche von Integrations-, Jugend- und Sozialprojekten auf dem Plan.
Weitere Informationen
Politur der Perle: Ein Mechelen-Porträt aus der Süddeutschen Zeitung
SPIEGEL-Interview: Wie Bart Somers die dreckigste Stadt Belgiens gerettet hat
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