Schaffen wir das?
Wie sich Willkommenskultur und anhaltende Migrationsströme vereinbaren lassen
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 30.07.2016
Von: Isabella Zimmer
Foto: APB Tutzing
# Gesellschaftlicher Wandel, Integration, Europäische Integration
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Mit der Ausgangsthese, dass Angst vor Flüchtlingen lediglich die zeitgenössische Variante des altbekannten Phänomens der Xenophobie sei, begab sich der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie des Bezirksklinikums Mainkofen Wolfgang Schreiber zunächst auf die psychologische Erklärungsebene für den Umgang mit Fremden, speziell mit Flüchtlingen. Angst spiele in der Geschichte der Menschheit eine wesentliche Rolle, erläuterte Schreiber, sie habe immer einen rationalen Kern und sei daher kein rein pathologisches Phänomen, dennoch würden Ängste oftmals aus einem Bauchgefühl der Ungewissheit heraus geschürt, und später in offene Xenophobie umgewandelt. Auswirkungen dieser Xenophobie seien Rassismus, Vorurteile und Diskriminierung – und dem sei nur durch Bildung ein Ende zu setzen.
Angst vor dem Fremden beweist auch immer etwas über einen selbst: Eine gewisse Unsicherheit, vielleicht auch das Gefühl etwas zu verpassen. Prof. Dr. med. Wolfgang Schreiber, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie Mainkofen.
Auf Anfrage der Diskussionsteilnehmer wurden Vorurteile von fundierten Urteilen unterschieden, wobei der Chefarzt jedoch betonte, dass die meisten Urteile auch nur besser gestützte Vorurteile seien. Zu glauben, alle Flüchtlinge würden Frauen sexuell belästigen – wie es für eine Handvoll in der Kölner Silvesternacht der Fall war – sei allerdings schlichtweg falsch. Menschen, die so etwas glaubten, könne man in eine bestimmte Persönlichkeitsbranche einteilen: Meistens seien es Autoritätsgläubige, dogmatisch orientierte Charaktere oder aber stark abhängige Menschen, die sich weigerten Informationen, welche ihr persönliches Weltbild zerstörten, als real zu akzeptieren. Dieser Prozess sei durch die Zugehörigkeit zu einer gleichgesinnten Gruppe stark gefördert und man fühle sich in seiner Angst geradezu bestätigt und angefeuert, wenn Andere diese auch verspürten.
Neue Völkerwanderung: Zerbricht Europa an der Aufgabe?
Der ehemalige Inhaber des Jean-Monnet Lehrstuhls der Universität Duisburg Essen, Heinz-Jürgen Axt, hinterfragte die Standhaftigkeit der Europäischen Union: Nicht nur Regionalismen, Autoritäre Neigungen und das Aufbegehren antieuropäischer Parteien reißen die EU auseinander, auch makroökonomische Divergenzen, das britische Brexit und die Entwicklungen der Türkei würden erschwerend zur andauernden Flüchtlingskrise der EU hinzukommen (weitere Ausführungen von Prof. Axt im Tagungsbericht Europa, deine Wirtschaft).
Der Umgang mit Geflüchteten in den Betrieben
Auf die Regelung der Flüchtlingskrise bezogen meinte Axt, dass eine Demokratie nur dann funktioniere, wenn Wahlbürger wüssten, wer die Verantwortung habe. So frustrierend dies auch scheine, fügte Axt hinzu, eine gemeinschaftliche EU-Flüchtlingspolitik bleibe weiterhin eine Illusion, da die Mitgliedsstaaten zu einer vollen nationalen Kompetenzabgabe in diesem Bereich nicht bereit seien. In der darauffolgenden Gruppendiskussion wurden Schwächen der Dublin-Regulierungen für irreguläre Einwanderung besprochen, Wege zur Besserung der Flüchtlingshilfe auf nationaler Ebene gesucht, sowie beobachtet, dass die Grenzschließungen europäischer Mitgliedsstaaten automatisch einen Domino-Effekt hervorriefen. Auch persönliche Erfahrungen fanden Beachtung: Beispielsweise berichtete Horst Holzberger, der 39 Jahre bei Ford gearbeitet hat und zuletzt in dessen Betriebsrat tätig war, wie die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre Integration in einem Großkonzern mit Erfolg bewältigt würde.
Migration und der Ausbildungs- und Arbeitsmarkt
Der Vizedirektor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung Nürnberg Ulrich Walwei erklärte, dass Migration langfristig der stärkste Hebel zur Beeinflussung des Arbeitskräfteangebots sei – wenn die Aufnahmeländer weiterhin in Integrationsmaßnahmen investierten. Walwei berichtete von einem kurzfristig eher negativen Effekt der Fluchtmigration auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und einem leichten Anstieg der Arbeitslosenquote. Ernüchternd sei auch, dass Flüchtlinge zwar eher jung seien, unter ihnen aber nur wenige überhaupt einen qualifizierten Abschluss besäßen. Langfristig aber sei ein Anstieg des BIP zu erwarten. Dank anhaltender Integrationsbemühungen und einer hohen Motivation der jungen Flüchtlinge habe die aktuelle Krise also auch positive Auswirkungen auf die Wirtschaft. Was jetzt dringend benötigt würde, sei ein schlüssiges Einwanderungskonzept. Denn ganz gleich, was einige populistische Parteien predigten: der globale Wanderungsstrom sei nicht mehr zu stoppen.
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