Europa, Deine Wirtschaft!
Wirtschafts- und Parteienforscher zu ökonomischer Konvergenz, Divergenz und dem unvermeidlichen Brexit
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 13.07.2016
Von: Sebastian Haas, Marie-Sophie Platzer und Isabella Zimmer
Foto: APB Tutzing
# Parlamente Parteien Partizipation
Download: Ökonomische Konvergenz und Divergenz in Europa
Den Beginn der Tagung aber dominierte das Votum der Briten für einen EU-Austritt, den sogenannten Brexit. Der Wirtschaftshistoriker Harold James (Princeton) beschrieb diesen als logische Konsequenz der britischen Inselmentalität sowie eines lange gepflegten Misstrauens gegenüber der eigenen politischen Eliten, erst recht der europäischen (ähnlich auch in diesem lesenswerten Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung). Dass auch die Ermahnungen aus Kultur, Sport oder Wirtschaft für einen Verbleib in der EU wenig Gehör fanden, führt James darauf zurück, dass sich die selbsternannten Experten „nur darin einig sind, dass es keinen Brexit geben soll – aber nicht wissen, wie man die EU, Europa und seine Wirtschaft ausgestaltet“.
Währungsunion, Konvergenz und Wirtschaftskulturen
Dass es so gut wie unmöglich ist, innerhalb der EU die Wirtschaftsentwicklung komplett anzugleichen, erläuterte Michael Grömling, Leiter der Forschungsgruppe Konjunktur am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. So zeigt die deutsche Leistungsbilanz seit der Jahrtausendwende stetig nach oben – weiter als im Rest Europas, aber, betont Grömling, „nicht auf Kosten anderer EU- oder Euro-Länder“. Vielmehr sorge ein stetiger weltweiter Investitionsboom dafür, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer wirtschaftlich aufholen und ihr Kapital dorthin bringen, wo sowieso schon viele Güter produziert werden. Unterschiedliche Wirtschaftskulturen lassen sich eben nicht so schnell verändern.
Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser von der Universität Bielefeld stellte ein Typenmodell europäischer Wirtschaftskulturen vor - ein streitbares, wie er selber betonte: Rheinischer Kapitalismus, Anglo-Kapitalismus, Osteuropäischer Transformationsraum, Mediterraner Kapitalismus (Spanien, Portugal, Italien) sowie Griechenland/Balkan bilden demnach ein europäisches Wirtschaftssystem, das Einheit in Vielfalt sucht, indem es die individuellen Wettbewerbsvorteile der einzelnen Staaten nutzt und das Währungssystem ohne Einheitswährung neu konstruiert.
Wohlfahrtsstaaten in der Klemme
Dass die weltweiten Wanderungsbewegungen immens sind, aber bei weitem nicht so groß wie von den Einheimischen befürchtet oder von den Abwanderungswilligen erwünscht, war Thema von Gabriel Felbermayr, Leiter des Zentrums für Außenwirtschaft des Ifo-Instituts. So sollte man in Deutschland nicht vergessen: die Migration zirkuliert und spielt sich meist in geographischer sowie kultureller Nähe ab. Auch die USA, Russland, Großbritannien und Kanada sind Einwanderungsländer – attraktiv sind nun ebenso Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Italien und Spanien. Außerdem gibt es Auswanderung: jährlich verlassen etwa 150.000 meist hochqualifizierte deutsche Arbeitnehmer die Bundesrepublik.
Unbestritten ist dennoch, dass sich Migration und Wirtschaftsentwicklung auch hierzulande beeinflussen. So verdient die Hälfte aller Einwanderer aus Entwicklungs- oder Krisenländern, die erst seit fünf Jahren in Deutschland leben, weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Ins Positive gedreht: je länger Migranten – vor allem die aus ähnlichen Kulturkreisen – im Land sind, desto mehr verdienen sie. Weil das Sozialsystem trotzdem dafür sorgt, dass Einkommen einigermaßen gerecht verteilt sind, können auch Personen mit wenig Potenzial anständig leben. Das macht Deutschland, Frankreich und Skandinavien attraktiv für geringqualifizierte Zuwanderer – und belastet den Wohlfahrtsstaat. Hochqualifizierte wiederum zieht es dahin, wo Gehälter exorbitant hoch sein können: nach Großbritannien, in die USA, die Schweiz. Die Konsequenz? Diskriminierung, meint Gabriel Felbermayr: „Man diskriminiert entweder im Inland und lässt zur Entlastung des Sozialstaats zum Beispiel zu, dass Migranten auf Zeit keinen Mindestlohn verdienen. Oder man diskriminiert das Ausland, indem man die Einwanderung beschränkt und das Elend anderswo zulässt.“
Divergenz der europäischen Finanzmärkte
Zur Entwicklung der europäischen Finanzmärkte waren sich Markus Demary (IW Köln) und Harmut Bechtold (TSI Frankfurt/Main) in einem Punkt einig: Sie haben sich in den letzten Jahren zunehmend desintegriert. Bechtold betonte, dass Staaten über die Hälfte des Europäischen Kapitalmarktes (circa 15 Billionen Euro) verfügen – was wichtig sei, meint Demary, da Staaten und Banken im Gleichschritt liefen. Staatsanleihen hätten folglich direkte Auswirkungen auf das Bankenrisiko, sichtbar beispielsweise am Griechischen Schuldenschnitt. Ein weiteres Problem ist nach Einschätzung von Demary die ungleiche Verteilung der Altlasten von Banken – dies habe zu einer finanziellen Schieflage in der Europäischen Union geführt. Beide Experten meinen: Die Europäische Zentralbank packt das Problem am falschen Ende an. Sie vergesse beim Versuch, Banken zu einer vermehrten Kreditvergabe zu bewegen, dass Banken ohne Eigenkapital selbst keine Kredite aufnehmen können.
Fehlgeleitete Strukturpolitik?
Wie lässt sich messen ob die EU-Staaten wirtschaftlich konvergieren oder divergieren? Michael Dauderstädt (ehemals bei der Friedrich-Ebert-Stiftung) bemerkte, dass eine eindeutige Antwort schwerlich gefunden werden kann – je nachdem welche Daten man sich ansehe, variierten die Befunde. Sein Appell lautet: Was Divergenz fördert, sollte vermieden werden.
Heinz-Jürgen Axt (Jean Monnet Lehrstuhl, Universität Duisburg-Essen) äußerte sich zu den Vorteilen einer Struktur- und Kohäsionspolitik in der Europäischen Union. Einleitend erinnerte er daran, dass der EU-Haushalt noch heute hauptsächlich aus Agrarausgaben (41%) und Strukturpolitik (46%) bestünde. Ziel der Union sei es, Unterschiede in Regionen und Gebieten zu verringern, aber nicht auszugleichen. Axt zweifelt an diesem Ziel und skizzierte daher mögliche Reformen der Strukturpolitik wie eine doppelte Konzentration auf bedürftige Staaten und auf wachstumsfördernde Projekte. Mit harten Worten beschrieb Axt die Lage Griechenlands, das noch nicht wettbewerbsfähig geworden sei, und die Finanzhilfen der EU: „Fördergelder werden per Gießkannenprinzip an Griechenland verteilt. Es gibt keine geregelte Struktur.“
Der Süden der EU: Vom Sehnsuchtsort zur Krisenmetapher
Der Wirtschaftsberater Jens Bastian war Mitglied der EU-Task-Force für Griechenland und schloss sich in seiner Analyse Hans-Jürgen Axt an. Er gab den Tagungsteilnehmern einen Einblick in die täglichen Herausforderungen des Lebens in Griechenland - das seit sieben Jahren in der Rezension steckt, das seit vier Jahren eine offizielle Arbeitslosenquote von 24 Prozent aufweist und das vor allem junge Menschen in Scharen verlassen. Seine eindringliche Warnung: Ohne wirtschaftlich verwertbare Ressourcen und eine substanzielle Änderung der wirtschaftlichen Kultur drohe Griechenland ein Schicksal wie einst Argentinien.
Griechenland wird weiterhin auf der Intensivstation der europäischen Rettungspolitik bleiben. Jens Bastian beurteilt die Zukunft Griechenlands weiter negativ.
Zum Abschluss unserer Tagung „Konvergenz und Divergenz in Europa“ ging es um die politische Sichtweise der europäischen Entwicklung: So betonte unser ehemaliger Direktor Heinrich Oberreuter, dass Politik für viele Menschen nicht mehr spürbar sei, dass Europa einen Wandel der Funktionsbedingungen von Parteien mit einem hohen Maße an Volatilität erlebt. Auch der Journalist der Süddeutschen Zeitung Sebastian Schoepp sowie Heinz-Jürgen Axt schlossen sich dem Statement Oberreuters an, wobei beide vor populistischen, zentrumsfernen Bewegungen in der Europäischen Union warnten. Der mediterrane Raum, argumentierte Schoepp, basiere seit jeher auf einem tributären System, welches es für diese Staaten schwierig mache, sich an die heutige Globalisierung anzupassen. So bleibe die Zukunft der EU und vor allem ihrer schwächsten Mitglieder ungewiss.
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