Manns Kampf
Thomas Mann und die politische Kultur der Deutschen
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 30.04.2010
Von: Kathrin Haimerl
# Nationalsozialismus, Politische Philosophie, Zeitgeschichte
Er hat ihn angewidert und fasziniert zugleich: Wie Adolf Hitler den Literaten Thomas Mann zur Auseinandersetzung gezwungen und damit auch sein Werk geprägt hat und warum dieses Werk spätestens ab 1933 eminent politisch war - in Tutzing sind namhafte Forscher diesen Fragen nachgegangen.
Nach wie vor, auch 55 Jahre nach dem Tod Thomas Manns, streiten sich die Forscher um ein Thema: War Thomas Mann ein politischer Schriftsteller? Nach einer Tagung in Tutzing, wo sich erneut namhafte Experten getroffen haben, beginnen sich die Fronten nun aufzuweichen: Insbesondere von 1933 bis 1945 sei Thomas Mann ein eminent politischer Schriftsteller gewesen, sagt Hans Wißkirchen, Präsident der Deutschen Thomas-Mann Gesellschaft. Der Grund: Manns Zeitanalysen seien immer dort am stärksten "und auch heute noch interessant, wenn wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen, wo es um ihn persönlich geht, wo die Grundlagen seiner intellektuellen Identität tangiert wurden".
Also eben zu der Zeit, als Mann mit Schrecken Parallelen zu Hitler feststellt. Oder, wie es Wißkirchen nennt, den "geheimen Kitt dieser Verbindung zwischen Thomas Mann und Hitler". Dieser Kitt, das sei Richard Wagner: "Nicht nur hat Thomas Mann von Wagner gelernt, wie man Hitler sehen sollte, sondern Hitler hat seine Machtinszenierungen von Wagner hergeleitet."
Da es sich nun bei beiden um Wagnerianer handelt, spreche Mann, genau wie Hitler, diese ästhetische Sprache. Thomas Mann sieht, wie Hitler viele Mechanismen Wagners übernimmt - das wiederum befähigt den Schriftsteller dazu, den Wagnerianer Hitler auf eine Weise zu begreifen, wie dies ab 1933 nur wenigen zeitgenössischen Intellektuellen möglich ist.
Als einen Mann, der die Möglichkeiten der Inszenierung im Sinne Wagners verstand. Als einen geschickten politischen Redner, der die unpolitischen Massen in der Hand hatte.
Die Liebe Hitlers zu Wagner - sie wird für Thomas Mann ab 1933 zu einem zentralen Lebensproblem, analysiert Wißkirchen und zitiert den Schriftsteller mit dem Worten: "Wenn zweien dasselbe gefällt und einer davon ist minderwertig - ist es dann auch der Gegenstand?"
Mann löst diesen Konflikt Wißkirchen zufolge, indem er gegen Hitler im Wagnerschen Sinne kämpft, er wird zum "Wanderredner" der Demokratie, "als Redner gegen Hitler, der diesen mit dessen ureigensten Waffen angriff". Diesen Kampf macht Mann im Exil auch zu seiner eigenen, neuen Identität: Immer wieder müsse er sich im Exil als Gegenfigur zu Hitler beweisen. Als Höhepunkt der medialen Auseinandersetzung mit dem Hitlerregime führt Wißkirchen Thomas Manns Reden an die Deutschen Hörer an, die der Schriftsteller von Oktober 1940 bis Mai 1945 hielt und die durch die BBC übermittelt werden.
Im romantischen Deutschland verwurzelt
"Wenn ich es übersetze", wirft Akademiedirektor Heinrich Oberreuter ein, "dann war Thomas Mann ein entschiedener Gegner der Barbarei. Aber eben auch ein entschiedener Verkenner der Aufbaubewegung in der neuen Bundesrepublik." Wißkirchen nickt. "Die junge Bundesrepublik, das war nicht mehr sein Terrain", sagt er. Zeit seines Lebens sei Mann einer geblieben, der "im romantischen Deutschland verwurzelt war und blieb".
Wißkirchen ist nur einer der Experten, die Oberreuter nach Tutzing geladen hat. Darüber hinaus zu Gast waren von Montag, 26. April, bis Mittwoch, 28. April, auch der in den USA lehrende, international führende Thomas-Mann- und gleichzeitig Wagnert-Spezialist Hans Rudolf Vaget, der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, und der Germanist Georg Wenzel, der seit 1966 das Thomas-Mann-Archiv in Greifswald geleitet hat und über die Rezeption Thomas Manns in der DDR referierte.
Vaget hatte eindrucksvoll den immensen Lernprozess Thomas Manns analysiert: vom antiparlamentarischen und antidemokratischen Verfechter des Obrigkeitsstaats und einer "machtgeschützten Innerlichkeit" deutscher Nationalkultur, die sich gegen substanzlose westliche Zivilisation richtete, zur scharfen Kritik an der NS-Barbarei, zur Unterstützung universeller, Humanität-stiftender Werte.
Doch es ist schließlich ein Schweizer, der auf der Tagung eine Frage anspricht, die am Kern des Tätertraumas der Deutschen rührt: Wie viel Anteil hatte die deutsche Kultur an der deutschen Katastrophe? Philipp Gut, Redakteur der in Zürich erscheinenden Weltwoche, hat sich intensiv mit der deutschen Kultur in den Werken Thomas Manns befasst. Er hat das gesamte Werk - von Manns Frühwerk bis zu seinen späten Texten - auf diesen Begriff hin analysiert und damit die erste umfassende Studie zu diesem Thema vorgelegt.
Ästhetizismus als Wegbereiter der Barbarei
In Tutzing nun versucht er den Erfolg des Nationalsozialismus mit Hilfe von Gegensatzpaaren herauszuarbeiten, wie sie sich auch ansatzweise in Thomas Manns Lebenslauf finden lassen: Von der notorischen Apolitik hin zur totalen Politik, vom politischen Vakuum hin zu einem Staat, in dem die Bürger zu bloßen Funktionsträgern der totalen Politik gemacht worden seien. Oder, um es mit den Begrifflichkeiten zu sagen, die Thomas Mann selbst geprägt hat: Der Ästhetizismus, die Schöngeisterei, sei schlussendlich zum Wegbereiter der Barbarei geworden.
Es ist diese Erkenntnis, die bei Mann zu einer radikalen Selbstkritik geführt habe. Die Einsicht, dass die Kultur, die er noch während des Ersten Weltkriegs als Gegenmodell zur Zivilisation leidenschaftlich verteidigt hat, ohne zivilisatorische Bindungen Gefahr läuft, in der Barbarei zu enden. Die pragmatische Konsequenz: Mann verbündet sich mit der westlichen Zivilisation gegen die Nazis.
Die Zeit im Exil, vermutet Gut, müsse Thomas Mann als zutiefst unnatürlich empfunden haben. Schließlich habe er sich als Deutscher definiert: "Mit der Welt allein kann ich nichts anfangen", zitiert Gut den Exilanten. Die Deutsche Kultur, sie sei immer Manns Bezugsgröße gewesen. Im Deutschen habe er die europäische Prägung gesucht.
Und da ist sie wieder, die Nähe und gleichzeitig der Kontrast zu Hitler, der von einem deutschen Europa träumte. Mann habe sich, so Gut, nach einem europäischen Deutschland gesehnt. Oder, wie es Akademiedirektor Oberreuter formuliert: "Heimat haben und Welt." Oberreuter zitiert mit diesen Worten einen Schriftsteller, der in seinen Werken die Erfahrung der zweiten deutschen Diktatur verarbeitet: Reiner Kunze.
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