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Brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung?

Podiumsdiskussion über direkte Demokratie und repräsentative Demokratie

In Umfragen gibt eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger an, sich stärker an der politischen Willensbildung beteiligen zu wollen. Tatsächlich politisch aktiv sind nur sehr wenige. Brauchen wir mehr direkte Demokratie oder funktioniert unser repräsentatives System auch in Zukunft? Darüber haben Akademiedirektorin Ursula Münch, der Philosoph Andreas Urs Sommer und Philip Husemann von Join Politics zum Auftakt des Werkraums Demokratie 2023 der Akademie für Politische Bildung, Bayern 2 und der Nemetschek Stiftung diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 22.04.2023

Von: Beate Winterer / Foto: Beate Winterer

Programm: Wer, wenn nicht wir?

Wer, wenn nicht wir? Werkraum Demokratie 2023

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

60 Prozent der Deutschen geben in Umfragen an, sich beteiligen zu wollen, aber nur ein Drittel sagt, dass es auch tatsächlich die Möglichkeit dazu hat. Ist das politische System zu schwerfällig? Zum Auftakt des diesjährigen Werkraums Demokratie der Akademie für Politische Bildung, Bayern 2 und der Nemetschek Stiftung haben Akademiedirektorin Ursula Münch, der Philosoph Andreas Urs Sommer von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Philip Husemann, der bei Join Politics politische Talente sucht, darüber gesprochen, wie wir aus der Unmutsfalle kommen und den Frust auf die Politik überwinden. Ein Mitschnitt der Podiumsdiskussion war bei Bayern 2 im Radio zu hören.

Direkte Demokratie vs. repräsentative Demokratie

"Die Zukunft gehört der direkten Demokratie", sagt Andreas Urs Sommer. Er bedauert es, dass Bürgerinnen und Bürger nicht in politische Sachentscheidungen eingebunden sind und sich ihre Beteiligungsmöglichkeiten auf Wahlen, Bürgerbegehren und Briefe an Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger beschränken. Ursula Münch hingegen verteidigt die repräsentative Demokratie als große Entlastung für Bürgerinnen und Bürger. Wer sich stärker engagieren will, habe grundsätzlich die Möglichkeit dazu. Bei zu viel direkter Demokratie befürchtet sie "Ermüdungserscheinungen". "Es gibt genug Leute, die anderes zu tun haben", sagt Ursula Münch. Außerdem bestehe die Gefahr, dass Wählerinnen und Wähler in einzelne direktdemokratische Entscheidungen ihren Frust über alles Mögliche projizierten. Ein Problem der Berufspolitik sei jedoch, dass dort - wie in vielen Bereichen - die Generation der Babyboomer dominiere.

Das Verhältnis von Parteien und Gesellschaft

Andreas Urs Sommer gibt zu bedenken, dass die Gesellschaft immer diverser wird und sich die Bevölkerungsstruktur von den Volksparteien kaum noch abbilden lässt. Während seine Urgroßeltern ihre politische Präferenz noch aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Klasse abgeleitet haben, gelingt eine starke Identifikation mit Parteien heute immer weniger. Sommer macht dafür eine wachsende Politikerverdrossenheit in der Bevölkerung verantwortlich. Ursula Münch sieht die Probleme eher auf der Seite der Parteien, deren Strukturen zu verkrustet seien und die deshalb schwerfällig agierten. Dennoch seien solche intermediären Organisationen wichtig, um den gesellschaftlichen Diskurs zu moderieren. "In einer Partei geht man anders miteinander um als online", sagt Münch. Veränderungen hält sie aber für dringend nötig.

Philip Husemann will die Strukturen der Parteien nicht generell kritisieren. Die politischen Talente, die Join Politics fördert, bekämen allerdings viel Frust von außen zu spüren, sobald ihr parteipolitisches Engagement zur Sprache kommt. "Man braucht eine große Frustrationstoleranz und Resilienz, um dennoch weiterzumachen", betont er. Seine Organisation unterstützt junge Menschen, die sich engagieren wollen, deshalb mit Knowhow und einem Netzwerk. Er hofft darauf, dass die nächste Koalition eine Senkung des Wahlalters anstrebt. Die Zivilgesellschaft, die Husemann "das Immunsystem der Demokratie" nennt, könnte dazu Druck ausüben. Auch dadurch wäre eine politische Beteiligung größerer Bevölkerungsgruppen möglich.

Direkte Demokratie: Vorteile und Nachteile

Andreas Urs Sommer geht das nicht weit genug. Er schlägt vor, die repräsentative Demokratie zu erhalten, sie aber um Referenden und direktdemokratische Elemente zu ergänzen. Obwohl er als Philosoph lieber das große Ganze in den Blick nehme und direkte Demokratie auf allen Ebenen als gute Übung sehe, hält er eine Umsetzung auf der kommunalen Ebene für am praktikabelsten. Philip Husemann unterstützt die Idee, denn er hat die Hoffnung, dass sich durch Abstimmungen auf kommunaler Ebene das Gefühl von "die da oben und wir da unten" bei Bürgerinnen und Bürgern lindern lasse. "Viele kennen die Komplexität des Maschinenraums Politik nicht", betont er. Zum Beispiel wüssten viele nicht, dass ein Gemeinderat zum Teil bis in die Nacht tagt und viel Gutes macht.

Ursula Münch erinnert daran, dass viel Kapital nötig ist, um Referenden auf den Weg zu bringen. Als Beispiel nennt sie direktdemokratische Elemente in der Schweiz. "Das Schweizer System ist eines, in dem finanzstarke Verbände ihre Interessen durchsetzen", sagt Münch. Andreas Urs Sommer, selbst Schweizer, hält dagegen, dass viele Initiativen auch aus dem links-grünen Spektrum kommen. Er gibt aber zu, dass die direkte Demokratie kein Garant für die Umsetzung fortschrittlicher Ideen ist. In der Schweiz wurde das Frauenstimmrecht zum Beispiel erst 1971 nach mehreren Anläufen eingeführt. Dennoch sieht Sommer in seinem Heimatland einen stärkeren Sachbezug bei politischen Entscheidungen. "Man steht sich bei Frage X unversöhnlich gegenüber, bei Frage Y sieht es wieder anders aus", erklärt er. Dass direkte Demokratie zu mehr Austausch führe und unabhängige Bürgerinnen und Bürger frei von Einflüssen entscheiden, hält Ursula Münch für unrealistisch. "In der direkten Demokratie vertrete ich ausschließlich meine eigenen Interessen. Repräsentanten hingegen dürfen nicht ihre eigenen Interessen vertreten, aber die Partei steht für etwas", sagt die Direktorin der Akademie für Politische Bildung.

Bürgerrat als Diskussionsforum

Philip Husemann erinnert daran, dass Beteiligung nicht nur in Form von direkter und repräsentativer Demokratie möglich sei und bringt den gelosten Bürgerrat ins Gespräch. "Hier steht der Diskurs stärker im Vordergrund. Die Bürgerinnen und Bürger sind gezwungen, sich einzuarbeiten und mit Sachfragen auseinanderzusetzen, sie können nicht nur ja oder nein sagen."

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