Wählen ab 16 oder ab Geburt?
Verfassungsrechtliche Spielräume für eine Wahlrechtsreform
Die Forderungen nach einer stärkeren politischen Teilhabe junger Menschen werden lauter. Die Debatte um das Wahlalter für den Deutschen Bundestag und die Landtage geht mittlerweile über die Senkung auf 16 Jahre hinaus und umfasst alternativen Ansätze wie das Wahlrecht ab Geburt. Sowohl das Wahlrecht ab 16 als auch andere Varianten berühren den Kern des demokratischen Systems und stellen die Frage nach der Repräsentation aller Teile der Bevölkerung, unabhängig von ihrem Alter. Im Rahmen der Tagung "Wählen mit 16: Mehr Demokratie oder mehr Unsinn?" der Akademie für Politische Bildung und der Hochschule Osnabrück haben Teilnehmerinnen und Teilnehmer gemeinsam mit Fachleuten aus Politik und Wissenschaft diskutiert, ob eine Senkung des Wahlalters in Deutschland flächendeckend möglich ist und welche Alternativen dazu existieren.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 22.03.2024
Von: Rebecca Meyer / Foto: Rebecca Meyer
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In elf Bundesländern dürfen 16-Jährige auf kommunaler Ebene ihre Stimme abgeben, in sechs sogar auf Landesebene. Auch bei den Europawahlen im Juni gilt das Wahlrecht ab 16. Was die Wahlen zum Deutschen Bundestag betrifft, sind sich die Parteien nicht nur über das Wahlsystem, sondern auch über das Wahlalter uneinig. Wäre Wählen ab 16 auch dort möglich? Und welche Alternativen existieren dazu? Über verfassungsrechtliche Spielräume und Bedenken haben Fachleute mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung "Wählen mit 16: Mehr Demokratie oder mehr Unsinn?" der Akademie für Politischen Bildung und der Professur für Öffentliches Recht und Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule Osnabrück diskutiert.
Rechtslage zum Wählen ab 16
Eine Senkung des Wahlalters für den Deutschen Bundestag ist rechtlich möglich, indem Bundestag und Bundesrat gemeinsam Art. 38 Abs. 2 des Grundgesetzes ändern. Dazu braucht es eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern. Die Mehrheitserfordernisse für eine Senkung des Wahlalters bei Landtagswahlen variieren je nach Bundesland. Im Saarland, in Rheinland-Pfalz, Thüringen, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist eine Zweidrittelmehrheit im Landtag nötig. Bayern müsste zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit im Landtag ein Verfassungsreferendum abhalten. In Hessen ist neben dem Verfassungsreferendum die einfache Mehrheit im Landtag ausreichend.
Hermann K. Heußner von der Universität Osnabrück argumentiert für das Wahlrecht ab 16 auf allen politischen Ebenen. Denn 16- und 17-Jährige haben kein demokratisches Mitbestimmungsrecht, müssen aber die meisten Gesetze befolgen, über die andere entschieden haben. Kinder und Jugendliche sind bereits mit Vollendung des 14. Lebensjahrs strafmündig, wenn auch unter der Anwendung des Jungendstrafrechts. Dabei ist das Jugendstrafrecht eine gesetzliche Vorsichtsmaßnahme, um diejenigen zu schützen, die aus Unreife falsche Entscheidungen treffen. Diese Schutzkonstruktion komme aber nur bei einem Bruchteil der Minderjährigen zum Tragen. Etwa 95 Prozent aller Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren werden nicht straffällig. Außerdem können Minderjährige weitgehend rechtswirksame Geschäfte abschließen. Ihre Geschäftsfähigkeit ist ebenfalls nur aus Schutz bis zur Volljährigkeit beschränkt. In beiden Fällen hält der Gesetzgeber Jugendliche für reif genug, um Verantwortung zu übernehmen, nicht aber beim Wählen. Heußner spricht von einem Verhältnis von Rechten zu Pflichten, das derzeit ungefähr "null zu 90" betrage. Jugendlichen das Wahlrecht vorzuenthalten, hält der Jurist deshalb für falsch. Mit dem Wahlrecht ab 16 stünde das Verhältnis von Rechten zu Pflichten bei 100 zu 90.
Das Wahlalter im europäischen Vergleich
Das Wahlrecht für Minderjährige sei nichts Exotisches, betont Heußner. In Europa existiert das aktive Wahlrecht für unter 18-Jährige bereits in Malta, Schottland, Wales und im schweizerischen Kanton Glarus. In Österreich beträgt das Wahlalter bereits seit 2007 auf allen Ebenen 16 Jahre. In Deutschland wurde das Wahlalter laufend gesenkt. Im Deutschen Kaiserreich durften nur Männer, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten, wählen. Das Reichswahlgesetz der Weimarer Republik von 1920 gab nicht nur Frauen das Stimmrecht, sondern senkte auch das Wahlalter auf 20 Jahre - und das obwohl die Volljährigkeit damals erst ein Jahr später, mit 21 Jahren, erreicht war. Seit 1972 gilt in Deutschland das aktive Wahlrecht ab 18. Die Reform wurde unter anderem durch die Studentenproteste der 1960er-Jahre vorangetrieben, die mehr Mitspracherechte für junge Menschen forderten.
Alternativen zum Wählen ab 16: das Wahlrecht ab Geburt
Heute geht das Wahlrecht ab 16 manchen nicht weit genug. Sie wollen allen 13 Millionen Kindern und Jugendlichen zwischen 0 bis 17 Jahren das Wahlrecht geben und ihre demokratische Teilhabe fördern. In der wissenschaftlichen Debatte um das Wahlrecht ab Geburt existieren drei Modelle: das originäre Kinderwahlrecht, das originäre Elternwahlrecht und das Wahlrecht ab Geburt mit elterlicher Stellvertretung. Alle Modelle argumentieren, dass Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes, der festlegt, dass die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, Kinder und Jugendliche nicht ausschließt. Das starre Wahlalter von 18 Jahren führe zu einem Repräsentationsdefizit innerhalb der Demokratie und einer Ausrichtung der Politik an den Interessen einer alternden Gesellschaft und zulasten jüngerer Generationen.
Das originäre Kinderwahlrecht sieht deshalb vor, dass alle Personen ab ihrer Geburt wahlberechtig sind und ihr Wahlrecht selbst ausüben. Beim originären Elternwahlrecht erhalten Eltern für jedes ihrer Kinder eine zusätzliche Stimme, die sie als "Elternstimme" nutzen. Sie handeln als "Treuhänder" und wählen sowohl für sich selbst als auch für ihre Kinder direkt. Das Modell steht allerdings im Konflikt mit dem Prinzip der gleichen Wahl nach Art. 38 des Grundgesetzes, wonach jede Stimme gleich viel zählen muss. Das originäre Elternwahlrecht wäre ein Pluralwahlrecht und rechtlich unzulässig. Diesen rechtlichen Bedenken versucht das dritte Konzept, das "Wahlrecht ab Geburt mit elterlicher Stellvertretung", Rechnung zu tragen. Es sieht vor, dass Kinder ab Geburt die rechtlichen Inhaber ihres Wahlrechts sind, das ihre Eltern jedoch als "echte Stellvertreter" in ihrem Sinne ausüben. Dadurch sollen die Anliegen von Kindern in den politischen Prozess einfließen, ohne das Wahlalter auf 0 zu senken oder den Eltern zusätzliche Stimmen zu geben. Damit sei der Wahlgrundsatz der gleichen Wahl gewahrt, sagt der Jurist Axel Adrian von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Rechtliche Hürden für das Wahlrecht ab Geburt
Ein Argument gegen die elterliche Stellvertreterwahl ist jedoch der Schutz der Höchstpersönlichkeit, der besagt, dass das Wahlrecht eine persönliche Angelegenheit ist und daher nicht auf andere übertragen werden kann. Axel Adrian ist allerdings der Meinung, dass nicht jedes höchstpersönliche Recht vertretungsfeindlich sei und im Fall des Wahlrechts nicht zwingend die gesetzliche Vertretung der Kinder durch ihre Eltern verbietet. Ob das elterliche Stellvertreterwahlrecht dem demokratischen Prinzip der unmittelbaren Wahl entspricht, ist ebenfalls ungeklärt. Unmittelbar ist die Wahl eigentlich nur, wenn die Wählerinnen und Wähler die Abgeordneten direkt, also ohne eine Zwischeninstanz, wählen. Adrian ist der Ansicht, dass das Stellvertreterwahlrecht durch Eltern den Grundsatz der direkten Wahl respektiert, da die Eltern im Sinne ihrer Kinder handeln. Sie üben das Wahlrecht nicht in ihrem eigenen Namen aus, sondern im Namen der tatsächlichen Rechtsinhaber. Die Interessen der Minderjährigen seien so angemessen vertreten und die individuellen politischen Rechte der Kinder gewährleistet. Die Integration der elterlichen Stellvertreterwahl in das bestehende Wahlrecht erfordert allerdings eine rechtliche Regelung, die Missbrauch durch die Eltern verhindert und die tatsächliche politische Teilhabe der Jugendlichen sicherstellt. Eine Lösung wäre ein Wahlregister, in das sich Jugendliche eintragen, sobald sie ihr Wahlrecht selbst ausüben wollen.
Die Chancen, dass ein Wahlrecht ab 16 eingeführt wird, scheinen höher zu liegen als die für ein Wahlrecht ab Geburt. Wählen ab 16 ist anders als Wählen ab Geburt bereits in einigen Ländern sozial und politisch akzeptiert. Es lässt sich zudem auf institutioneller und rechtlicher Ebene leichter bewerkstelligen und innerhalb der bestehenden demokratischen Strukturen realisieren. In der politischen Realität sind schrittweise Veränderungen einfacher umzusetzen als ein radikaler Umsturz des Status quo, wie er für ein Wahlrecht ab Geburt nötig wäre.