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Wie umgehen mit Protestwahl?

Akademiegespräch im Landtag mit Michel Friedman, Thomas Petersen und Astrid Séville

Immer mehr Menschen geben populistischen und extremistischen Parteien ihre Stimme. Das hat zuletzt die Bayerische Landtagswahl gezeigt. Worin besteht die Anziehungskraft dieser Parteien und wie gehen wir mit Protestwählerinnen und Protestwählern um? Darüber haben beim Akademiegespräch im Bayerischen Landtag der Publizist, Jurist und Philosoph Michel Friedman, Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach und die Politikwissenschaftlerin Astrid Séville von der Leuphana Universität Lüneburg diskutiert. Eingeladen hatten Akademiedirektorin Ursula Münch und Landtagspräsidentin Ilse Aigner unter dem Titel "Bayern nach der Wahl: Gesellschaftliche Trends als Herausforderungen für die Parteien".

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 11.12.2023

Von: Beate Winterer / Foto: Rolf Poss/Bayerischer Landtag

Programm: Akademiegespräch im Bayerischen Landtag: Bayern nach der Wahl

Bayern nach der Wahl

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Abgeordnete, die durch Proteststimmen in den Landtag eingezogen sind, hätten die Kräfteverhältnisse im Parlament verändert. "Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen", sagte Landtagspräsidentin Ilse Aigner in ihrer Begrüßung beim Akademiegespräch im Bayerischen Landtag. Unter dem Titel "Bayern nach der Wahl: Gesellschaftliche Trends als Herausforderungen für die Parteien", hatte sie gemeinsam mit Akademiedirektorin Ursula Münch geladen. Dass sich mit Blick auf die Wahlergebnisse etwas ändern müsse, darüber waren sich alle einig auf dem Podium. Was genau eine Protestwahl aber bedeutet und wie mit den entsprechenden Wählerinnen und Wählern umzugehen sei, darüber scheiden sich die Geister von Michel Friedman, Thomas Petersen und Astrid Séville.

Extremismus und Gefühle in der Politik

Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach hielt den Impulsvortrag und hatte für die Veranstaltung im Senatssaal die Krawatte des ehemaligen Bayerischen Senats angelegt, die von einem früheren Landtagsbesuch mit Elisabeth Noelle-Neumann stammt. "Sie hat ein Dritteljahrhundert gewartet, um an den Ort ihrer Herkunft zurückzukehren", scherzte Petersen, bevor er sich einem ernsten Thema, der Wahl extremistischer Parteien zuwandte. Diese erklärt er mit subjektiven Gefühlen. Diejenigen, die sich vorstellen können, die AfD zu wählen, machen sich Sorgen über Einwanderung, glauben, dass Deutschland "den Bach runter geht", finden, dass die Vertreterinnen und Vertreter der AfD "reden wie normale Menschen" und wollen mit ihrer Stimme Protest ausdrücken oder ein Zeichen setzen. "Bei allem Respekt vor Gefühlen... Die Frage ist, ob man Gefühlen nachlaufen muss. Das, was Sie machen, darf nicht überbewertet werden", kommentierte der Publizist, Jurist und Philosoph Michel Friedman den Vortrag des Demoskopen. Der entgegnete frei nach Gottfried Wilhelm von Leibniz: "Wissen ist besser als Nichtwissen. Das ist der Grund, warum wir die Demoskopie brauchen." So hoch ging es selten her in den ersten Minuten eines Akademiegesprächs im Bayerischen Landtag.

So kommt es zu Protestwahlen

"Mir war klar, dass das ein interessanter Abend wird", kommentierte Akademiedirektorin Ursula Münch, die mehrfach beschwichtigen musste. "Ich weiß jetzt, warum Sie wollten, dass ich in der Mitte sitze", bemerkte Politikwissenschaftlerin Astrid Séville mit einem Augenzwinkern. Immerhin sie blieb durchweg ruhig in ihren Einordnungen, auch beim Thema Gefühle. "Politik funktioniert immer, wenn sie auf Skandale und Affekte setzt. Damit kann man auch Nichtwähler mobilisieren. Das ist aber ein zweischneidiges Schwert, denn dann weiß man auch, wo die stehen" und das sei eben nicht immer an der Seite der demokratischen Parteien, erklärte die Professorin von der Leuphana Universität Lüneburg.

Besonders gefährlich sei Extremismus laut Petersen in Kombination mit anschlussfähigen Thesen, die von Teilen der Bevölkerung unterstützt werden. Mit dieser "Zuckerpille" ließen sich Protestwählerinnen und Protestwähler deutlich besser mobilisieren als damit, "den Wahnsinn einfach rauszulassen". An dieser Stelle drohte das Gespräch nochmals zu kippen. Michel Friedman reagierte sensibel, warf Petersen vor, Protestwahl herunterzuspielen. "Ich glaube nicht, dass es ein Missverständnis beim Publikum gibt. Ich lasse mir von Ihnen nicht eine Rechtfertigung von Extremismus in die Schuhe schieben", betonte Petersen und erntete Beifall von den mehr als 200 Zuhörerinnen und Zuhörern.

Die AfD, Hubert Aiwanger und die Verrohung des politischen Diskurses

Als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, diskutierte die Runde schließlich über die Verrohung des politischen Diskurses. Ein Phänomen, das Michel Friedman in der bürgerlichen Mitte schon seit der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Büchern vor mehr als zehn Jahren beobachtet. Die AfD sorge nun dafür, dass das Aber im Diskurs über Migrantinnen und Migranten immer größer werde. "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber...", sei immer öfter zu hören. Astrid Séville erinnerte in diesem Zusammenhang an die Reden von CSU-Generalsekretären in den 1990er-Jahren. "Die sind teilweise vergnüglich, aber nicht immer. Auch dort ist zum Beispiel von einer 'durchrassten Gesellschaft' die Rede. Jetzt heißt es von der AfD: Man darf nichts mehr sagen, aber früher war's okay. Der CSU-Generalsekretär durfte das sagen."

Einer, der immer noch sagt, was er will, ist Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger, den Michel Friedman - ein anderer, der sagt, was er will - beim Akademiegespräch als einzigen Politiker gleich mehrfach namentlich erwähnte. "Wer hat die Demokratie gestohlen, dass er sie zurückholen muss?", fragte Friedman in Bezug auf Aiwangers Rede in Erding. Aiwangers Worte stellt er in Zusammenhang mit der Verrohung des Diskurses, den eigentlich eine andere Partei betreibt. "Die AfD hat uns alle verändert, da sie demokratisch gewählt ist, aber keine demokratische Partei", betonte Friedman. Für den Zustand der Demokratie macht er aber andere verantwortlich. "Die Demokratie wird nicht an der AfD kaputtgehen und nicht einmal an Herrn Aiwanger kaputtgehen. Sie wird an denen kaputtgehen, die sagen, sie sind für die Demokratie, aber nicht mit leuchtenden Augen für sie einstehen." An die anwesenden Abgeordneten richtete sich Friedman direkt: Die Politik dürfe sich nicht zu sehr an Umfragen orientieren. "Bürger haben mehr Respekt, wenn man sich nicht danach richtet und die nächste Wahl verliert."

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