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Streit um die Wahlsystemreform

Episode 21 unseres Podcasts mit Jörg Siegmund

Dass der Deutsche Bundestag kleiner werden muss, darüber sind sich alle Parteien einig. 736 Abgeordnete sitzen dort aktuell - 138 mehr als eigentlich vorgesehen. Schuld sind sogenannte Überhangmandate und Ausgleichsmandate. Wie eine Wahlsystemreform aussehen könnte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Nun streiten Regierung und Opposition über einen neuen Vorschlag der Ampelkoalition. Der sieht zwar vor, dass künftig regulär 630 Abgeordnete in den Bundestag einziehen, aber auch dass die Grundmandatsklausel abgeschafft wird. Sie erlaubt es Parteien, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, aber mindestens drei Wahlkreise gewinnen, dennoch entsprechend ihres Zweitstimmenanteils Abgeordnete ins Parlament zu entsenden. Vor allem für Die Linke und die CSU könnte diese Regelung gefährlich werden. Ob die Abschaffung der Grundmandatsklausel sinnvoll ist, welche Erfolgsaussichten eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hat und was das Wahlsystem mit Politikverdrossenheit zu tun hat, erklärt Jörg Siegmund, Wahlforscher der Akademie für Politische Bildung.

Tutzing / Podcast / Online seit: 16.03.2023

Von: Beate Winterer / Foto: APB Tutzing

Podcast

Beate Winterer: Hallo zusammen. Das ging jetzt schneller als gedacht, dass wir uns wieder hören. Aber der Bundestag zwingt uns quasi dazu. Er will nämlich noch diese Woche über die Reform des Wahlsystems abstimmen. Bei "Akademie fürs Ohr" haben wir erst vor einigen Wochen darüber gesprochen, dass der Bundestag kleiner werden soll. Aktuell sitzen dort nämlich 736 Abgeordnete. Das sind 138 mehr als eigentlich vorgesehen sind. Die zusätzlichen Sitze kommen durch sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate zustande. Die alte Folge verlinken wir euch natürlich in den Shownotes. Jetzt gibt es allerdings nochmal einen etwas anderen Vorschlag, wie man diese zusätzlichen Mandate künftig verhindern will und den wollen wir uns genauer anschauen. Ich bin Beate Winterer, Pressereferentin der Akademie und bei mir ist mein Kollege, der Wahlforscher Jörg Siegmund. Hallo Jörg!

Jörg Siegmund: Hallo Bea!

Beate Winterer: Jörg, vielleicht stellst du dich den Zuhörerinnen und Zuhörern, die dich noch nicht kennen von der letzten Folge, einfach mal kurz vor.

Jörg Siegmund: Mein Name ist Jörg Siegmund, ich bin seit etwas über zehn Jahren an der Akademie hier in Tutzing tätig und zwar als persönlicher Referent unserer Direktorin und daneben auch als wissenschaftlicher Assistent mit dem Schwerpunkt auf der Wahlforschung, auf der Parteien- und Parlamentarismusforschung.

Beate Winterer: Jörg, schön, dass du nochmal Zeit hattest. Gerade tauchen so viele Vorschläge für die Reform des Wahlsystems und wiederum so viel Kritik an diesen Vorschlägen auf, dass einem fast schwindlig wird.

Das bestehende Wahlsystem für den Deutschen Bundestag

Könntest du für unser Publikum nochmal zusammenfassen. Wie sieht denn das derzeitige Wahlsystem für den Bundestag aus und wo liegen da die Probleme die ein Reform so dringend nötig machen?

Jörg Siegmund: Ich würde zunächst beim aktuellen Wahlsystem kurz bleiben und damit anfangen. Das sieht ja vor, dass die Stärke einer Partei im Bundestag sich allein nach ihrem Zweitstimmenanteil richtet. Also die Zweitstimme ist insofern auch die wichtigere Stimme, weil sie eben darüber entscheidet, wie stark die Parteien im Bundestag vertreten sind. Mit der Erststimme entscheiden die Wähler im Grunde darüber, welcher Kandidat oder welche Kandidatin in ihrem jeweiligen Wahlkreis ein sogenanntes Direktmandat erhält. Und damit entscheiden die Wählerinnen und Wähler auch darüber, welche Person, eben der gewählte oder die gewählte Abgeordnete im Wahlkreis, einen der Sitze besetzen kann, die der Partei ohnehin aufgrund ihres Zweitstimmenanteils zustehen. Jetzt kann dabei aber das Problem auftreten, dass eine Partei in einem Land schon über die Erststimmen mehr Direktmandate in einem Wahlkreis erringt, als ihr aufgrund des Zweitstimmenanteil eigentlich Sitze zustehen würden. Damit wäre die Partei gemessen an ihrem Zweitstimmenanteil überrepräsentiert im Vergleich zu den anderen Parteien. Und das soll eben vermieden werden und die Lösung, die man vor etwa zehn Jahren gefunden hat, war die, dass in einem solchen Fall die anderen Parteien, die sozusagen benachteiligt wären, zusätzliche Sitze, also Ausgleichsmandate, erhalten bis am Ende das Stärkeverhältnis der Parteien wiederhergestellt ist - gemessen immer an ihrem Zweitstimmenanteil. Das führt aber eben dazu, dass der Bundestag anwächst und inzwischen eine doch recht beachtliche Größe jenseits der gesetzlichen Mitgliederanzahl erreicht hat.

Die Reformpläne der Ampelkoalition

Beate Winterer: Wie will die Ampel diese Probleme denn jetzt lösen?

Jörg Siegmund: Dieses Problem will die Ampelkoalition nun angehen, indem sie die Ausgleichsmandate gar nicht erst zulässt, indem schon Überhangmandate vermieden werden. Das Entstehen von Überhangmandaten soll vermieden werden. Wie will das die Ampelkoalition angehen? Indem nur noch Direktmandate in der Zahl vergeben werden für eine Partei, die auch durch ihren Zweitstimmenanteil abgedeckt ist. Man spricht hier also auch tatsächlich von der Zweitstimmendeckung. Konkret bedeutet das, nehmen wir jetzt ein konkretes Beispiel, meinetwegen von der letzten Bundestagswahl in Bayern. Da hat die CSU 45 Direktmandate errungen. Aufgrund des Zweitstimmenanteils hätten ihr aber nur 32 Direktmandate zugestanden. Also elf wären zu viel gewesen und dann würde man die erfolgreichen Wahlkreisbewerber der CSU in eine Reihenfolge entsprechend ihres jeweiligen Erststimmenanteils bringen. Und dann erhalten eben nur die 34, die den größten, den höchsten Erststimmenanteil errungen haben, die erhalten ein Mandat. Und die elf erfolgreichen Wahlkreiskandidaten mit dem schwächsten Erststimmenanteil, die bekommen dann kein Mandat.

Weniger Direktmandate, weniger Überhangmandate

Beate Winterer: Damit wäre bei dem aktuellen Vorschlag das Ziel, den Bundestag wirksam zu verkleinern, ja auf jeden Fall erreicht. Am bisherigen Ampelentwurf aus dem Januar wurde ja kritisiert, dass viele Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einziehen könnten, wenn ihre Partei zu wenig Zweitstimmen erhält. Auch das Problem würde sich durch den neuen Vorschlag jetzt nicht mehr so drastisch stellen, weil der ja vorsieht, dass der Bundestag nicht mehr 598 Sitze regulär hat, sondern 630. Also 32 Sitze hätte man ja quasi noch Puffer für Überhangmandate, die es nicht mehr geben dürfte, richtig?

Jörg Siegmund: Grundsätzlich richtig. Das, was ich bisher erläutert hatte, war ja der Vorschlag Stand Januar und diese Woche hat die Ampelkoalition das noch ein bisschen modifiziert und unter anderem vorgeschlagen, wie du es gesagt hast, dass die Gesamtzahl der Mandate auf 630 angehoben wird. Es bleibt aber bei 299 Wahlkreisen und 299 Direktmandaten, die damit vergeben werden. Also der Anteil der Direktmandate an allen Mandaten sinkt. Es ist nicht mehr die Hälfte und damit schwindet auch die Wahrscheinlichkeit, dass Überhangmandate im großen Stil, in großer Zahl entstehen. Und damit versucht man sozusagen dieses Problem, dass ein Wahlkreis dann gar nicht mehr durch ein Direktmandat im Bundestag vertreten wäre, dass das nur noch in ganz geringer Zahl auftritt.

Streitpunkt Grundmandatsklausel

Beate Winterer: Das klingt ja erstmal sinnvoll, aber eine Neuerung, die jetzt besonders kritisiert wird, ist dass die sogenannte Grundmandatsklausel gestrichen werden soll. Das ist eine Feinheit des bestehenden Wahlsystems, die viele Wählerinnen und Wähler wahrscheinlich gar nicht kennen. Was hat es denn damit auf sich?

Jörg Siegmund: Wenn wir auch hier kurz damit anfangen, was die Wählerinnen und Wähler wahrscheinlich kennen, dann ist das die Fünf-Prozent-Hürde, die normale Sperrklausel sozusagen. Das heißt, eine Partei bekommt nur dann Sitze im Bundestag, wenn sie bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen errungen hat. Es gibt aber eben eine Ausnahme und das ist die Grundmandatsklausel und die besagt, dass eine Partei auch dann Sitze in dem Maße ihres Zweitstimmenanteils erhält im Bundestag, wenn sie mindestens drei Direktmandate in Wahlkreisen gewonnen hat. Das können irgendwelche Wahlkreise quer durch die Bundesrepublik sein, das muss nicht regional konzentriert sein. Aber mit drei Direktmandaten nimmt diese Partei an der Verteilung der Sitze entsprechen der Zweitstimmenanteile teil. Bei weniger als drei Direktmandaten, wenn eine Partei also nur ein oder zwei Direktmandate gewinnt, dann ist es gegenwärtig so, dass sie diese behalten darf, aber dann auch nur diese. Das hat die Partei die Linke oder damals noch die PDS getroffen 2002. Da war sie nur mit zwei Abgeordneten im Bundestag vertreten.

Beate Winterer: Ist es denn jetzt wirklich sinnvoll diese Grundmandatsklausel zu streichen oder schafft das nicht wieder Probleme an anderen Stellen?

Jörg Siegmund: Die Koalition hat jetzt eben in dieser Woche zur Überraschung vieler tatsächlich den Vorschlag gemacht, diese Grundmandatsklausel zu streichen. Grundsätzlich ist es nicht verkehrt, denn die Veränderungen, die für das Wahlsystem geplant sind, orientieren sich ja sehr stark an der Verhältniswahlkomponente, also die Ausrichtung unseres Wahlsystems soll noch stärker dem einer Verhältniswahl angenähert werden. Und in einem solchen Verhältniswahlsystem wäre eine solche Grundmandatsklausel nicht erforderlich, wenn nicht unter Umständen sogar systemwidrig. Das Problem besteht aber darin, dass die Grundmandatsklausel einerseits gestrichen werden soll, aber gleichzeitig die Vergabe von Direktmandaten an die Zweitstimmendeckung gekoppelt ist. Und das kann gravierende Folgen für die künftige Zusammensetzung des Bundestags haben.

Hat eine Verfassungsklage von CSU und Linken Aussicht auf Erfolg?

Beate Winterer: Die Linke und die CSU, die von der Grundmandatsklausel bisher profitieren oder erwarten, dass sie davon vielleicht irgendwann profitieren, drohen damit vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Glaubst du, dass eine solche Klage erfolgreich sein könnte oder geht's eigentlich um ganz was anderes und gar nicht unbedingt um eine Verfassungswidrigkeit?

Jörg Siegmund: Schauen wir uns doch einfach mal ganz kurz die konkreten Fälle an. Also bei der Linken war es bei der letzten Bundestagswahl ja so, dass sie 4,9 Prozent der Zweitstimmen erreicht hat. Also diese Fünf-Prozent-Hürde nicht überwunden hat. Sie hat aber drei Direktmandate errungen, sodass sie trotzdem entsprechend ihres Zweitstimmenanteils im Bundestag vertreten war, mit jetzt aktuell 39 Mandaten. Die CSU hat bei der letzten Wahl, wie auch bei allen anderen Wahlen davor, die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen, obwohl sie ja nur in Bayern antritt. Sie hat trotzdem so viele Zweitstimmen in Bayern errungen, dass sie bundesweit auf mehr als fünf Prozent kam - allerdings bei der letzten Wahl nur recht knapp mit 5,2 Prozent der Stimmen bundesweit. Und damit liegt es durchaus im Bereich des Möglichen, des Erwartbaren, dass sie bei einer künftigen Wahl vielleicht auch an dieser Hürde scheitert. Und dann wäre ihr Einzug in den Bundestag tatsächlich davon abhängig, ob es eben die Grundmandatsklausel weiterhingibt, oder eben nicht. Und wenn sie also wie bei der letzten Wahl 45 Direktmandate in Bayern erringen würde, aber an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern würde und die Grundmandatsklausel nicht mehr gelten würde und gleichzeitig auch Direktmandate nur noch vergeben werden, wenn ein Zweitstimmenanspruch auf Mandate besteht, der ja nicht gegeben wird, weil sie an der fünf Prozent Hürde gescheitert ist, dann würde die CSU in einem solchen Fall kein einziges Mandat im Bundestag erringen. Und das kann man durchaus kritisieren, unabhängig davon, wie man zu der Partei steht, zur CSU steht. Aber ich glaube, es ist nicht gut, wenn ein wesentlicher Teil der Wahlbevölkerung nicht im Bundestag vertreten wäre. Zu deiner Ausgangfrage zurück, ob ich denke, dass eine solche Klage erfolgreich sein könnte. Ich glaube ehrlich gesagt eher nicht, dass eine Klage Erfolg hat. Das liegt daran, dass unser Wahlsystem im Grundgesetz gar nicht im Detail geregelt ist und deswegen sich aus dem Grundgesetz keine konkreten, keine unmittelbaren Anforderungen ableiten lassen, die ein solches Wahlsystem erfüllen muss. Ich finde allerdings auch, dass die Frage nach der Verfassungswidrigkeit nur den einen Teil sozusagen abbildet.

Politikverdrossenheit durch Unwucht im Wahlsystem

Ich finde es wichtiger, auch zu klären, ob eine solche Streichung der Grundmandatsklausel verfassungspolitisch klug wäre. Denn es geht ja schließlich bei Wahlrecht nicht ausschließlich darum, ob es der Verfassung entspricht. Das sollte es auf jeden Fall tun, nicht verfassungswidrig sein. Aber genauso wichtig ist auch, dass das Wahlrecht als legitim anerkannt wird in der Bevölkerung und hier sehe ich eben ein großes Problem. Ich komme nochmal auf mein Beispiel zurück: Wenn die CSU in Bayern viele Direktmandate erringen würde, aber bundesweit an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern würde und damit gar nicht mehr im Bundestag vertreten wäre. Das würde, glaube ich, bei vielen Wählerinnen und Wählern auf großes Unverständnis stoßen und den Politikverdruss eher noch befördern.

Passen Verhältniswahl und Grundmandatsklausel zusammen?

Beate Winterer: Woher kommt denn dieser Vorschlag jetzt plötzlich? Dem Wunsch der Opposition, die die Ampel ja eingeladen hat, sich zu beteiligen, scheint das Ganze ja eher nicht zu entsprechen.

Jörg Siegmund: Wer genau der Urheber dieses Änderungsvorschlages jetzt ist, kann ich auch nicht genau sagen. Das weiß ich nicht. Es ist tatsächlich so, dass die Union im Januar, als die Ampelkoalition den ersten Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht hat, einen eigenen Antrag gestellt hat und darin vorgeschlagen hat, die Grundmandatsklausel zumindest zu verschärfen. Die Union hat in ihrem Vorschlag angeregt, dass die Grundmandatsklausel auf fünf gewonnene Direktmandate angehoben wird, also schon verschärft wird. Wenn man sich das jetzt mal politisch anschaut, könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass die Unionsfraktion damit auf der einen Seite die Rolle der CSU absichern wollte - auch künftig -, aber die Linke damit treffen wollte, die bei der letzten Wahl ja nur drei Direktmandate gewonnen hat und damit möglicherweise bei künftigen Wahlen auch an so einer Grundmandatsklausel scheitern könnte. Es hat zu dem Gesetzesvorschlag der Ampelkoalition eine Anhörung im Innenausschuss des Bundestages stattgefunden und da haben sich interessanterweise auch Sachverständige, die von der Unionsfraktion nominiert wurden, kritisch zur Grundmandatsklausel geäußert. Also da ist zum Teil, wenn man die Gutachten liest, die Rede davon, dass die Grundmandatsklausel wohl zur verfassungswidrigen Systemausnahme würde, weil sich eben das geänderte Wahlsystem nach dem Bild der Ampelkoalition sehr, sehr stark an einer Verhältniswahl orientiert. Also hier haben selbst Sachverständige der Union die Grundmandatsklausel als möglicherweise verfassungswidrig bezeichnet und unter Umständen war das wieder eine Steilvorlage für die Ampelfraktion, jetzt zu sagen: "Na gut, dann nehmen wir das auch in unseren Entwurf auf und streichen die Grundmandatsklausel ganz."

Beate Winterer: Wenn man jetzt mal einen großen Kreis um den aktuellen Vorschlag und die aktuellen Teile zieht, wie würdest du das sehen? Ist dieser Vorschlag eine Verbesserung zu dem Vorschlag aus dem Januar oder ist es eher eine Verschlechterung?

Jörg Siegmund: Also wenn man die einzelnen Bausteine mal so nebeneinander legt, dann würde ich sagen, die jetzt geplante Anhebung der Gesamtmandatszahl auf 630 ist gut, denn sie verringert die Wahrscheinlichkeit, dass Wahlkreise nicht besetzt werden können. Die Grundmandatsklausel schafft meines Erachtens Unfrieden, das halte ich für keine gute Entscheidung. Übrigens ist noch eine dritte Änderung letzte Woche in das Gesetzgebungsverfahren mit aufgenommen worden. Nämlich, dass es bei der bisherigen Bezeichnung der Stimmen bleiben soll. Die heißen ja Erst- und Zweitstimme. Und ich habe es jetzt mehrfach schon gesagt, die Zweitstimme ist eigentlich die wichtigere Stimme. Im Januar hatte die Ampelkoalition vorgeschlagen, diese Stimmen umzubenennen und die Zweitstimme als Hauptstimme zu bezeichnen und das würde ihrer Bedeutung meines Erachtens nach auch gerechter. Das soll jetzt nicht erfolgen. Es soll bei Erst- und Zweitstimme bleiben. Das finde ich sehr schade, weil das auch in der politischen Bildung es einfacher machen würde, die Bedeutung der jeweiligen Stimmen zu erläutern. Also unterm Strich: Anhebung der Gesamtmandatszahl ja, alle anderen Änderungen, die jetzt noch in der letzten Woche auf den Weg gebracht wurden, halte ich für nicht sinnvoll.

Beate Winterer: Glaubst du, dass der Entwurf trotzdem so durch den Bundestag geht diese Woche oder rechnest du damit, dass noch etwas passiert?

Jörg Siegmund: Das ist eine schwierige Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob das am Freitag so beschlossen wird. Ich glaube, die Kritik ist jetzt doch recht massiv und zwar nicht nur aus parteipolitisch eigennützigen Motiven, sondern auch in Bezug auf die Akzeptanz des Wahlverfahrens in der Bevölkerung. Und ich habe vielleicht zumindest die Hoffnung auch, dass da in der Koalition nochmal drüber nachgedacht wird.

Jeder Regierung ihr Wahlsystem?

Beate Winterer: Angenommen, die Ampel würde diesen Entwurf so wie er jetzt auf dem Tisch liegt, wirklich annehmen. Wäre das Thema Wahlsystemreform, über das wir ja wirklich seit Jahren reden, damit dann beendet? Oder glaubst du, dass wir dadurch in eine Spirale kommen und uns in den kommenden Jahren und vor allem in den kommenden Legislaturperioden, vielleicht auch bei einer anderen Regierung, immer wieder damit beschäftigen werden?

Jörg Siegmund: Ich befürchte Letzteres. Denn wenn die Ampelfraktionen jetzt tatsächlich in dieser Woche den vorliegenden Entwurf so annehmen würden, dann würde das ja eine Änderung des Wahlsystems im Alleingang der aktuellen Bundesregierung bedeuten, ohne dass die wesentlichen Teile der Opposition hier einbezogen würden. Rechtlich kann die Ampel das. Aber das wäre möglicherweise eine Steilvorlage für jede andere künftige Mehrheit im Bundestag, wiederum das Wahlrecht auf die Tagesordnung zu setzen, das Wahlsystem zu ändern nach ihren jeweiligen Vorstellungen. Und ich fürchte, dass wir hier einen Präzedenzfall schaffen und Anreize setzen auch für künftige Mehrheiten im Bundestag, das Wahlrecht nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Beate Winterer: Vielen Dank Jörg, dass du dir Zeit genommen hast. Ich bin gespannt, ob du mit deinen Annahmen Recht behältst. Falls es Neuigkeiten zum Wahlsystem gibt, sprechen wir darüber natürlich bei "Akademie fürs Ohr". Wir haben aber auch ganz viele andere aktuelle Themen in der Akademie für Politische Bildung, mit denen wir uns beschäftigen. Falls ihr, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, das noch nicht gemacht habt, freuen wir uns, wenn ihr unseren Podcast abonniert und bei Spotify und Co. auch eine Bewertung für uns hinterlasst. Bis bald!

Jörg Siegmund: Bis bald!

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