Weltbühne Olympia
Bei den Spielen steht neben dem Sport die Politik im Mittelpunkt
Traditionell ist Olympia neben dem sportlichen Wettkampf ein gesellschaftliches Großereignis, das die gesamte Welt verbindet und eine Bühne für die Politik bietet. Die Bühne der Spiele in Tokio sieht seit Corona anders aus als geplant. Ein Beitrag von Gero Kellermann aus dem Akademie-Report 3/2021.
Tutzing / Akademie-Report / Online seit: 27.07.2021
Von: Dr. Gero Kellermann / Foto: iStock/Agnesstreet
Weltbühne Olympia
Akademie-Report 3/2021
Nicht nur die Besonderheiten von Olympia in Japan, sondern auch die Geschichte der Spiele ebenso wie heiße sportpolitische Eisen erörterte eine Tagung, die gleich dem Sportspektakel um ein Jahr verschoben worden war. Die Tagung war eine Kooperation mit der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung Dillingen. Zunächst standen die Olympischen Spiele der Antike im Blickpunkt des Freiburger Sportwissenschaftlers und Historikers Diethelm Blecking: Frauen waren damals nicht mit dabei. Nur die Erstplatzierten wurden ausgezeichnet. Bei Niederlagen drohte in der Heimat Schande. Im antiken Griechenland waren die Olympischen Spiele ein "Gottesdienst zu Ehren des Zeus", so Blecking. Seit den von Coubertin initiierten ersten "Olympischen Spielen der Neuzeit" 1896 in Athen habe sich die Motivlage verändert. Verlierer werden in der Regel nicht verspottet, allein die Teilnahme gilt als Erfolg. Heutzutage geht es um Sport und Unterhaltung. Daneben sollen die Spiele Frieden und internationale Verständigung symbolisieren. Blecking stellte verschiedene Theorien vor, die die vielfältigen Funktionen des Sports in der modernen Gesellschaft kennzeichnen: zum Beispiel das Verständnis von Sport als Habituslehre der Industriegesellschaft, in der es auf Konkurrenzkampf, Leistungsfähigkeit und Rekorde ankommt, oder als Frage von "schrankenloser Kommerzialisierung" mit der Folge von Vereinnahmungen, Projektionen und Manipulationen.
Lange Liste mit "Problemspielen"
Zur Frage, inwieweit sich auf der Weltbühne Olympia System- und Regionalkonflikte zeigen, legte er eine lange Liste mit "Problemspielen" vor, zum Beispiel die "Nazi-Spiele" von Berlin im Jahr 1936 sowie die vielen Spiele, bei denen das Instrument des Boykotts eine Rolle spielte, so etwa 1980 in Moskau, als 60 Länder boykottierten, und 1984 in Los Angeles, als die Sowjetunion und ihre Satelliten fernblieben (der einzige Teilnehmer aus dem Verbund des Warschauer Pakts war Rumänien).
Mit den Themen Doping sowie Depressionen im Spitzensport widmete sich der Darmstädter Sportsoziologe Felix Kühnle zwei Problembereichen des Sports, die sich auf Olympia, aber auch darüber hinaus auswirken. Zur Erklärung erwiesener Dopingfälle wird in der öffentlichen Diskussion oftmals pauschal auf "Sittenverfall" und "Kommerzialisierung" verwiesen. Kühnle hält Doping dagegen für ein Konstellationsphänomen, bei dem verschiedene Systeme hineinspielen. Er analysierte aus soziologischer Perspektive die Beziehungen des nationalen Spitzensports zu seinen verschiedenen Leistungsabnehmern: dem Publikum, den Medien, der Wirtschaft und der Politik.
Sport hat Moralisierungspotenzial
Für das Publikum ist Sport fester Bestandteil des Freizeit- und Unterhaltungslebens und bedient eine Vielzahl typischer moderner Bedürfnisse: so den Wunsch nach einem "harmlosen Spannungserleben" mit der Möglichkeit der Heldenverehrung sowie eines Gemeinschaftserlebens. Eine hohe Passfähigkeit des Spitzensports ergibt sich auch mit den Massenmedien, sagte Kühnle. Für diese sind die Publikumsattraktivität des Sports für hohe Einschaltquoten oder Auflagen interessant. Zudem sei Spitzensport Serienproduzent von Neuigkeiten mit hohem Personalisierungs- und Moralisierungspotenzial. Auch für die Wirtschaft ist die Sichtbarkeit und Publikumsattraktivität wertvoll etwa mit Blick auf Personen- und Bandenwerbung sowie Imagetransfer. Für die Politik ist der Spitzensport ein Aspekt der internationalen Repräsentation und Herstellung eines Wir-Gefühls. Auch die Gewogenheit des Publikums für spätere Wahlentscheidungen lässt sich so unter Umständen steigern, so der Leiter des Arbeitsbereichs Sportsoziologie der TU Darmstadt.
Negative Folgen sportlicher Minderleistung
Kühnle erklärte, wie diese spezifischen Leistungsbeziehungen unbeabsichtigt Dopingneigung bewirken können: Erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler und Teams werden hofiert und medial bevorzugt, dauerhaften Verliererenden wird die Aufmerksamkeit entzogen, manchmal müssen sie sogar hämische Kommentare hinnehmen. Die erfolgreichen Athleten werden von der Wirtschaft bevorzugt, sportliche Minderleistung führt in der Regel zur Reduzierung oder gar Entzug von Fördermitteln.
Kühnle gab zudem Einblicke in seine Forschungen zum Thema "Depression im Spitzensport". Dafür hatte er kurz vor der Tagung den Wissenschaftspreis des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) erhalten. Kühnle wies auf das Phänomen hin, dass Sportakteure immer häufiger mit Depressionen und Burn-Out-Syndromen in Verbindung gebracht werden.
Symbolfigur "depressiver Athlet"
Kühnle konstatierte ein "Doppelleben" der Depression als psychischen Leidensdruck einerseits und Kommunikationsthema andererseits. Depression von Spitzensportlern habe sich zu einem Modethema in der Sportöffentlichkeit und Massenmedien entwickelt, welches trotz häufiger Erörterung immer noch als "Tabu" gekennzeichnet wird. Die "Sozialfigur des depressiven Athleten" trete als Symbolfigur im gesellschaftlichen Diskurs über Depression als Volkskrankheit auf. So sei ein Narrativ der Unmenschlichkeit des Spitzensports entstanden. Kühnle plädierte jedoch dafür, den Spitzensport nicht zu schnell zu pathologisieren.
Die Ausrichtung der Olympischen Spiele bedeutet für das Gastgeberland auch immer, auf der Bühne der Weltöffentlichkeit zu stehen. Ursprünglich wollte Japan mit den Olympischen Spielen 2020 an den Erfolg der Spiele aus dem Jahr 1964 anknüpfen, wie Jane Khanizadeh vom Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München ausführte. Damals konnte Japan den erfolgreichen Wiederaufbau und seine Resilienz nach dem II. Weltkrieg präsentieren.
Japans Erholung nach der Dreifachkatastrophe
Die Spiele sollten nunmehr eine Bühne für eine neue Inszenierung Japans sein, insbesondere Japans Erholung nach der Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Fukushima aus dem Jahr 2011 zeigen. Japan sollte gegenüber dem Ausland als ein auf die Zukunft ausgerichtetes und dabei gleichzeitig an seinen Traditionen festhaltendes Land gesehen werden. Die internationalen Zuschauer sollten vor Ort erleben, wie Japan die Spiele mit Nachhaltigkeitskonzepten und hohen sozialen Standards durchführt. Japan hat aber Probleme, die verkündeten Werte wie Diversität und Gleichberechtigung aufgrund nach wie vor wirksamer veralteter Gesellschaftsbilder nicht lediglich als dekorative Phrasen aussehen zu lassen, so Khanizadeh. Jedenfalls seien die japanischen Eliten aufgrund der internationalen Bühne Olympia gezwungen, sich intensiver mit entsprechenden Themen auseinanderzusetzen.
Differenzgesellschaft Japan
Gabriele Vogt vom Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktorin des Departments für Asienstudien ging näher auf die Dynamiken von Politik und Gesellschaft Japans ein.
Die Spiele in Tokio aus dem Jahr 1964 fielen in eine Zeit, die von Wirtschaftswachstum und sozialer Gleichstellung geprägt war. Parallel zum Hochwachstum entstand das Bild eines egalitären und homogen Japans und einer "Mittelschichtsgesellschaft". Diese ist mittlerweile von einer Differenzgesellschaft abgelöst worden, so Vogt.
Die ökonomische Schere klaffe in Japan immer mehr auseinander. Besonders davon berührt seien nicht-regulär Beschäftigte, Alleinerziehende und deren Kinder sowie Senioren. Frauen seien besonders von Armut bedroht. Ursachen seien Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, der sich inzwischen deutlich sichtbar in regulär und nicht-regulär Beschäftigte aufgeteilt hat. Letztere sehen sich niedrigen Löhnen, einer unsicheren Beschäftigung und einem eingeschränkten Zugang zu Sozialleistungen gegenüber. Als Reaktion darauf haben sich in Japan verschiedene Protestbewegungen formiert, die sich gegen die Prekarisierung, die Atompolitik und für mehr Demokratie in dem von dem Interessengeflecht aus Politik, Bürokratie und Wirtschaft geprägten Japan ("Eisernes Dreieck") einsetzen.