Russlands Fluch des Imperiums
Von Peter dem Großen bis zum Angriff auf die Ukraine
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine soll eine Zeitenwende stattgefunden haben - in eine neue Welt, die nicht mehr dieselbe ist wie die Welt davor. Ist das so? Oder wirkt vielmehr Russlands imperiale Vergangenheit in der Gegenwart fort? Sind die russischen Großmachtansprüche des 21. Jahrhunderts als historische Kontinuität seit Peter dem Großen und Katharina der Großen zu betrachten? Bei "Akademie After Work" haben die Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel und Joachim von Puttkamer über den "Fluch des Imperiums?" diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 06.10.2023
Von: Konstantin Hadzi-Vukovic / Foto: Konstantin Hadzi-Vukovic
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"Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum russischen Angriff auf die Ukraine. Inzwischen ist "Zeitenwende" das Wort des Jahres 2022 geworden und prägt immer noch den gegenwärtigen Diskurs. Die Frage, die sowohl die Wissenschaft als auch die Öffentlichkeit beschäftigt, ist die nach dem Warum: Warum kam es zu diesem Krieg? Wie kann der Westen Putins Überfall auf die Ukraine verstehen? Der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel von der Ludwig-Maximilians-Universität stellt in seinem Buch "Der Fluch des Imperiums: Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte" den Krieg in den historischen Kontext des russischen Imperialismus. Bei "Akademie After Work" in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing hat er mit seinem Kollegen Joachim von Puttkamer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu diesem Thema diskutiert.
Was bedeutet Zeitenwende?
"Mit dem Krieg wurde in Russland eine imperiale Politik auf brutale Art gesteigert", sagt Schulze Wessel. Dabei handle es sich aber nicht um einen plötzlichen Wandel, sondern einen kontinuierlichen Prozess: eine neue Etappe einer langen imperialen Geschichte. Laut Schulze Wessel bezeichnet Zeitenwende nur den veränderten Blick des Westens auf Osteuropa - insbesondere auf Russland. Allgemein wird unter dem Begriff Zeitenwende eine signifikante Veränderung in der Geschichte oder ein Wendepunkt verstanden. Putin operiert allerdings in seinen Reden mit historischen Narrativen und Argumenten. Um seine Motivation zu verstehen, muss das ungelöste Identitätsproblem Russlands betrachtet werden, das aus seiner imperialen Vergangenheit kommt. Schulze Wessel geht deswegen an die Wurzeln dieser imperialen Identität heran.
Wo beginnt der Fluch des Imperiums?
Der Beginn imperialer Strukturen in Russland liegt im 18. Jahrhundert. Mit dem Großen Nordischen Krieg unter Peter dem Großen gelang es Russland, Schweden als baltische Hegemonialmacht abzulösen. "Russland hat damit ein Fenster nach Europa geöffnet", sagt Schulze Wessel. In der Folge dieses Krieges fiel Ostmitteleuropa unter russische Hegemonie. Polen und die Ukraine verloren langsam ihre Selbständigkeit, bis die Ukraine in das russische Reich eingegliedert wurde. Katharina die Große führte schließlich diesen von Peter dem Großen angefangenen Prozess zu Ende und hob die ukrainische Autonomie vollständig auf. Ende des 18. Jahrhunderts war fast die ganze Ukraine Teil des russischen Imperiums. Polen wurde schrittweise zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt und bildete im 19. Jahrhundert den äußeren Teil des russischen Imperiums. Allerdings war Russland in seinen imperialen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts nicht alleine. Diese Kontrolle über Ostmitteleuropa übte Russland mit Berlin und Wien, dem Königreich Preußen und dem Habsburger Reich, aus. Dieser rein machtpolitische Aspekt nahm allerdings mit den Teilungen Polens einen ideologischen Aspekt an.
Ideologisierung der russischen Ansprüche über Ostmitteleuropa
Die Teilung Polens führte zu einer polnischen Auflehnung und zu Unabhängigkeitsbestrebungen im 19. Jahrhundert. Die Polen kämpften für eine eigene Nation, wobei es 1830/31 zu einem großen Aufstand gegen Russland kam. Laut Schulze Wessel hatte dieser Aufstand die Ausmaße eines Krieges. Auf beiden Seiten, aber auch in Westeuropa, gab es eine große öffentliche Anteilnahme. "Dieser Krieg von 1830/31 hat in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit dem, was wir heute erleben", sagt der Osteuropahistoriker. Die Solidarisierung der westlichen Öffentlichkeit damals mit Polen sei vergleichbar mit der heutigen Solidarisierung mit der Ukraine. Der Konflikt wurde allerdings in Russland anders aufgenommen. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin schrieb zur Zeit des Konflikts ein Gedicht unter dem Titel "An die Verleumder Russlands". Schulze Wessel betrachtet dieses Gedicht als polenfeindlich, allerdings auch anti-europäisch. Puschkin wirft den Europäern im Gedicht vor, sich in eine slawische Familienangelegenheit einzumischen. "Die Alternativen vor denen Russland und Polen stehen, sind, ob die slawischen Flüsse sich ins russische Meer ergießen oder ob dieses russische Meer austrocknet", zitiert Schulze Wessel. Diese russische Unbedingtheit - entweder ganz oder gar nicht - habe sich in Bezug auf Polen und die Ukraine entwickelt. Daraus speist sich auch das Narrativ, dass Polen und die Ukraine keine eigene Identität und keine eigene Geschichte besitzen und Teil des russischen Volkes sind. Darin ähneln die heutige russische Kultur und die Reden Putins denen der damaligen Zeit. "Das hängt damit zusammen, dass man sich in derselben Spur imperialer Politik bewegt", sagt Schulze Wessel.
Kritik am Fluch des Imperiums
Joachim von Puttkamer kritisiert den Buchtitel "Fluch des Imperiums". "Es ist völlig unstrittig, dass die imperiale Mentalität aufgegeben werden muss, bevor man sich Russland als ein demokratisches und friedliches Land wie Kanada vorstellen kann", erklärt er. Von einem "Fluch des Imperiums" zu sprechen, sei allerdings problematisch, da es sich nicht um eine analytische Kategorie handle. Schulze Wessel weist den Vorwurf zurück. Der Titel sei provokant gewählt und impliziere damit nicht eine Determiniertheit, sondern eine Kontinuität. "Ein Fluch kann auch gebrochen werden", sagt der Osteuropahistoriker. Der Untertitel "Irrweg der russischen Geschichte" bedeute nicht, dass sich hinter diesem Irrweg ein Masterplan befand. Peter I. konnte nicht absehen, dass mit der Teilung Polens auch eine ideologische Trennung Europas zustande kommen würde. Joachim von Puttkamer versucht differenzierter vorzugehen. "Die vollkommene Fokussierung auf den repressiven Charakter eines Imperiums kann missführend sein", sagt der Professor. In den Großen Reformen Alexanders II. nach dem Krimkrieg sieht er ein Abweichen von der imperialen Geschichte. Zu den Reformen zählte unter anderem die Aufhebung der Leibeigenschaft. In den 1860ern und 1870ern habe das russische Reich im Kern eine Modernisierung durchlebt, sei gleichzeitig aber auch imperial und unterdrückend gewesen. Dieser zweifache Charakter eines Imperiums fehlt von Puttkamer bei Schulze Wessels Ausführung.
Die größte Zäsur in der imperialistischen Geschichte war aber die Revolution 1917. Ein Ende der Assimilierung der Ukraine schien zustande zu kommen, als in der Folge die Sowjetunion als Föderation nach ethnischen Gesichtspunkten gegründet wurde. Die Ukraine bekam innerhalb der Sowjetunion zum ersten Mal ein institutionelles Gefüge. Für diese Entwicklung war vor allem Lenin verantwortlich, während sie in den Jahren darauf von Stalin beendet wurde, der laut Schulze Wessel "alle großrussischen Kulturmuster" vertrat und innerhalb der sowjetischen Föderation eine russische Hegemonie implementierte. Im Großen Terror, seiner brutalen Verfolgungskampagne gegen mutmaßliche Gegner des Regimes, gab es viele ukrainische Opfer. "Allerdings auch viele russische", sagt Joachim von Puttkamer. Das sei ein Faktor, der eine große Rolle spiele und die Verarbeitung dieser Terrorjahre erschwere. Schulze Wessel leugnet nicht, dass unter den Opfern des Stalinismus viele Russen waren. "Der Große Terror hatte aber eine ethische Komponente", betont er. Der "Holodomor" in den 1930ern sei eines der größten russischen Einzelverbrechen gewesen, das neben dem Gulag oft vergessen wird. Der geplanten Hungersnot fielen etwa drei bis sieben Millionen Ukrainer, Südrussen und Kasachen zum Opfer. Die Ukraine bemüht sich seit ihrer Unabhängigkeit 1991 um eine internationale Anerkennung als Völkermord. Schulze Wessel findet es erschütternd, dass in der deutschen Geschichtsschreibung der Holodomor nicht so sehr bekannt ist. "Es ist ein Bias, der die ukrainischen Opfer nicht sieht." Deswegen bekennt sich der Osteuropahistoriker zu einer gewissen Einseitigkeit seines Buchs. "Es geht mir darum, die russische Geschichte durch das Prisma der beherrschten Imperien zu sehen", argumentiert er.