Die Instrumentalisierung der Erinnerung
Wie Russland und Polen die eigene Geschichte lenken
Geschichte kann ein effektives Werkzeug und eine mächtige Waffe sein. Das zeigt der brutale Krieg in der Ukraine, den Wladimir Putin als historisch legitimiert darstellt. Dabei lenkt der russische Präsident die Geschichte und ihre Narration in seinem Land selbst. Im Nachbarland Polen wird die Erinnerungskultur ebenfalls instrumentalisiert, wobei es den Verantwortlichen vor allem um Nationalstolz geht. Wie Polen und Russland ihre historischen Narrative gestalten und verbreiten, welche Ziele sie damit verfolgen und wie man die Instrumentalisierung erkennt, haben Expertinnen und Experten im Rahmen der Tagung "Polen zwischen Deutschland und Russland" der Akademie für Politische Bildung und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 04.04.2022
Von: Sophia Maier / Foto: iStock/Diy13
Dass Erinnerungskultur unmittelbare Auswirkungen auf die Gegenwart haben kann, zeigt der Krieg in der Ukraine. Der russische Präsident Wladimir Putin begründet seinen Angriff auf das Land historisch: Die Ukraine und Russland seien eins, die Ukraine gehöre zum russischen Territorium, Nazis in der Ukraine würden die russische Sicherheit bedrohen und Russland müsse sich verteidigen, wie es im Zweiten Weltkrieg der Fall war. Die Vergangenheit wird als Werkzeug genutzt, um politische Ziele zu erreichen. Aber nicht nur Russland instrumentalisiert die eigene Vergangenheit. Dieses Phänomen existiert weltweit.
Über die Instrumentalisierung der Erinnerung in Polen und Russland diskutierten im Rahmen der Online Tagung-Tagung "Polen zwischen Deutschland und Russland" der Akademie für Politische Bildung und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur der Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, Jörg Morré, die polnische Professorin Dagmara Jajeśniak-Quast vom Zentrum für interdisziplinäre Polenstudien der Europa Universität Viadrina und die russische Historikerin Vera Dubina, die vor Kurzem aus Russland geflohen ist.
Geschichte als Waffe: Wladimir Putin als "Chef-Historiker"
In Russland, da sind sich Vera Dubina und Jörg Morré einig, wird die Geschichte schon seit Langem instrumentalisiert, um das Heimatgefühl und die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung zu steigern. "Mit Blick auf die Instrumentalisierung hätte man ahnen können, dass sich etwas anbahnt", sagt Jörg Morré, aber dass es zu einem Krieg diesen Ausmaßes in der gesamten Ukraine gekommen ist, habe ihn überrascht. Er erklärt, dass Wladimir Putin sich schon lange als "Chef-Historiker" des Landes inszeniert: Er verfasst Aufsätze, die seine Version der Geschichte wiedergeben. Die Bevölkerung hat sich diesem Narrativ zu fügen. Er sieht Russland in der Opferrolle: Angegriffen vom Nazi-Regime und von diesem unterschätzt. Nur durch den Sozialismus und die Industrialisierung sei das russische Volk gestärkt, geeint und wehrhaft genug gewesen, um den Feind zu besiegen und andere Länder zu befreien. Es gibt keine Diskurs über den Preis des Krieges und die vielen Opfer auf beiden Seiten, denn der Sieg steht über allem.
Anfang der Nullerjahre wurde ein Bildungsprogramm ins Leben gerufen, die "patriotische Erziehung". Während es sich dabei anfangs vor allem um eine Stärkung des Heimatgefühls handelte, radikalisierte sich die Bewegung schnell. Es wurde Wehrsport angeboten und Unterricht über die so bezeichnete "wahrhaftige Geschichte", die Stück für Stück verfälscht wurde und von den wissenschaftlichen Kenntnissen abwich. Die Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte liegt beim Präsidenten. 2012 wurde diese Erinnerungspolitik dann durch den neugegründeten "Militärhistorischen Verein" vor allem medial der russischen Bevölkerung nähergebracht. Der Zweite Weltkrieg wird dabei als "Großer Vaterländischer Krieg" bezeichnet und als Siegesgeschichte eines starken sowjetischen Volkes über den Faschismus glorifiziert. Dieses Narrativ spielte schon 2014 bei der Annexion der Krim eine wichtige Rolle. Damals behauptete Putin, dort sammelten sich Faschisten, die Russland bedrohen. Nun legitimiert er den Angriff auf die Ukraine als "Entnazifizierung", spricht von einem "wehrhaften Russland" und verbietet die Bezeichnung "Krieg". "Den letzten Schritt der Instrumentalisierung der Geschichte durch die russische Regierung erleben wir gerade mit. Während Putin lange Zeit Chef-Historiker war, führt er heute seine Narrative aus", schließt Morré.
Die Auswirkungen davon bekommt auch Dagmara Jajeśniak-Quast zu spüren, die in Frankfurt/Oder lehrt und lebt. Die Stadt sei wegen der Grenzlage und der Infrastruktur schon immer eine Art "Drehschreibe" für Migration im Zuge von Kriegen gewesen, erklärt sie. Nun beobachtet sie, wie viele Kriegsflüchtlinge, die über Polen nach Deutschland reisen, am dortigen Bahnhof ankommen. "Ich sitze auf heißen Kohlen", sagt sie. Von allen Seiten erreichen sie Hilfegesuche. Durch die Nähe zu Polen und der Ukraine gibt es an der Universität viele Menschen, die Bekannte und Verwandte unterstützen wollen. Sie selbst hat Kontakte, um die sie sich kümmern möchte, und ununterbrochen klingelt das Handy mit Nachrichten aus Chatgruppen der vielen freiwilligen Helfer, die die Flüchtlinge empfangen.
Die polnische PiS Partei und die Zäsur der Aufarbeitung
Auch sie stimmt Jörg Morré und Vera Dubina zu: Putin instrumentalisiert seine eigene Version der Geschichte. Die polnische Regierung betreibt eine ähnliche Erinnerungspolitik, bei der es allerdings einen zentralen Unterschied gibt: Während Russland die Sowjetunion glorifiziert, vertritt Polen einen strikten Anti-Kommunismus. Er prägt die Geschichtsschreibung und spiegelt sich in den Schulen, in der Popkultur und in Institutionen wieder. Beispielsweise regelt das "Institut des Nationalen Gedächtnisses" den Diskurs über die deutsche Besatzungszeit. Polen bewegte sich nach dem Zerfall der UdSSR auf die EU zu und arbeitete auch die dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit auf, wie die Kooperation mit den Nazis im Holocaust. Doch die Parlamentswahlen 2015, mit denen die PiS-Partei an die Macht kam, bedeuteten eine Zäsur dieser Entwicklung. Die Rechtskonservativen wollen nicht, dass der Heldenmythos Polens, das nur Opfer des Krieges gewesen sein soll, untergraben wird. Die Geschichte wird gegen Jüdinnen und Juden und kommunistische Bewegungen umgedeutet. 2018 sollte ein Gesetz verabschiedet werden, das die Beteiligung der Polen an den Modern an der jüdischen Bevölkerung leugnet und jenen, die etwas anderes behaupteten, mit Haftstrafen droht. Nur Proteste in Israel und im Westen konnten das abwenden.
Russland ging angesichts der vielen Staaten, die sich dem Westen zuwandten, schon in den 90er Jahren in den Verteidigungsmodus und beharrte auf die sowjetische Vergangenheit und die territorialen Grenzen des Zarenreichs. Hier gibt es bereits Gesetze, die die staatliche Lenkung und Instrumentalisierung der Geschichte zementieren. Wer die Sowjetzeit mit dem NS-Regime in Verbindung bringt, dem drohen Strafen. So ist beispielsweise der Hitler-Stalin-Pakt in keinem Museum oder Geschichtsbuch in Russland zu finden, erzählt Vera Dubina. Dennoch gibt es auch andere Perspektiven. "Putin ist nicht der einzige, der den Diskurs bestimmen will, es gibt auch Gegenbewegungen", sagt sie. Doch die haben es schwer, da die Macht über Gerichte und Gesetze beim Präsidenten liegt. Der Angriff auf die Ukraine erklärt das Verbot der Gesellschaft für historische Aufklärung MEMORIAL im vergangenen Herbst. Als Verein mit geschichtlicher Expertise sollte er der Regierung nicht in die Quere kommen. Heute sitzen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Haft, die Räumlichkeiten der Organisation wurden durchsucht und historische Dokumente zerstört. Vera Dubina musste selbst vor Kurzem aus Russland flüchten, da als Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung für eine internationale Organisation tätig war und als Historikerin an der Moskow School of Social and Economic Sciences Wahrheiten aussprach, die nicht in Wladimir Putins Narrativ passen.
Doch die Instrumentalisierung und Lenkung von Geschichte muss nicht zwangsweise in Krieg enden. Polen verfolgt mit seinem Narrativ andere Ziele, erklärt Dagmara Jajeśniak-Quast: Es ginge darum, in Europa ernst genommen zu werden. Sie erklärt, Polen würde sich wie Ostdeutschland nach der Wende fühlen: Als zweite Klasse, nicht auf Augenhöhe. Trotz der geografischen und kulturellen Nähe wurde Polen aus den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine nach der Annexion der Krim verdrängt. Dabei sieht sich Polen mit seiner Vernetzung, seiner Größe und seiner Kultur als wichtigen Teil der EU. Durch ihre Politik will die PiS-Regierung sich in Europa neuetablieren und nebenbei die eigenen Fehler der Vergangenheit verharmlosen.
Die Instrumentalisierung der Geschichte entlarven
Auch wenn die Instrumentalisierung der Geschichte nicht immer zu Kriegen führt, sind sich die Teilnehmerinnen und der Teilnehmer der Diskussion einig, dass sie als Waffe dienen kann. "Das haben wir schon oft erlebt, in fast allen Auseinandersetzungen", erklärt Frau Jajeśniak-Quast. Das Phänomen sei deswegen sehr gefährlich und müsse in Schulen und an Universitäten behandelt werden. Die Referentinnen und der Referent erklären, was Erkennungszeichen für instrumentalisierte Geschichte sind und wie man mit Menschen umgeht, die ein anderes Geschichtsbild haben. Überprüfbarkeit ist dabei ein wichtiges Kriterium. Wenn alle verfügbaren Akten monopolisiert bei einem Träger, wie dem Staat oder einer Organisation, liegen und nicht zugänglich sind, dann sollten die Alarmglocken läuten, erklärt Jörg Morré. Im direkten Gespräch hilft es, sein Gegenüber zu hinterfragen: Ist die Person in der Lage, andere Meinungen zu antizipieren? Kann sie ihre Meinung argumentieren? Für Museen gilt: Je älter die Ausstellung ist, desto misstrauischer sollte man sein. Eine gute Ausstellung sollte auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft sein und stetig erneuert werden. Dagmara Jajeśniak-Quast fügt hinzu, dass es wichtig sei, dass Museen international ausgelegt sind. Wenn sie sich nur auf ein Land beziehen und keine Kooperationspartner in anderen Ländern haben, sei Vorsicht geboten. In Polen soll einmal vorgeschlagen worden sein, polnischen und globalen Geschichtsunterreicht voneinander zu trennen. "Das sollte eigentlich gar nicht möglich sein, das ist nicht trennbar", erklärt sie. Außerdem müsse man aufpassen, wenn nach Regierungswechseln auf einmal gut finanzierte, neue Museen auftauchen. Generell helfe es, die Gelder zu verfolgen, die in Ausstellungen fließen.