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Das Leben an der Heimatfront

Frauen und Familien in den Weltkriegen

Der Erste Weltkrieg und der Zweite Weltkrieg haben Europa bis in die kleinste politische Einheit - die Familie - erschüttert. Was haben die Kriege mit Familien gemacht? Wie war das Leben abseits der Front? Und welche Rolle haben Frauen in den Weltkriegen übernommen? Diese Fragen haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung "Familie und Krieg" diskutiert. Die Veranstaltung war eine Zusammenarbeit der Akademie für Politische Bildung mit den Universitäten Augsburg, Heidelberg und Mainz sowie mit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 25.11.2021

Von: Carla Grund genannt Feist / Foto: Carla Grund genannt Feist

Programm: Familie und Krieg

Familie und Krieg

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"Die Angst an der Front hatte mit Zuhause nichts zu tun", erklärt Anette Neder von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz die gesellschaftliche Einstellung während des Ersten Weltkrieges und des Zweiten Weltkrieges. Dabei entstand in den Jahren von 1914 bis 1918 sowie von 1939 bis 1945 jeweils auch eine sogenannte Heimatfront. Diese hatte anders als die Kriegsfront keine institutionelle Struktur, folgte keinen klaren Befehlen und war nicht eingebettet in ein hierarchisches System. Sie war besonders im Ersten Weltkrieg auf sich gestellt und geprägt von Überforderung und Hilflosigkeit. Das Leid an der Heimatfront sei dem Leid an der Kriegsfront jedoch eindeutig untergeordnet worden, sagt Silke Fehlemann. Die Historikerin der Technischen Universität Dresden erklärt, wie die Frauen in der Heimat "tapfer, stoisch und still" ihr Leid ertrugen. Sie waren vom Staat angehalten, ihre Sorgen keinesfalls mit ihren Männern zu teilen. Nur sogenannte Sonntagsbriefe sollten die Front erreichen und den Soldaten das Bild einer intakten Heimat vermitteln.

"Die Familie sollte wie ein Schutzraum wirken", erklärt der Historiker Markus Raasch von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Silke Fehlemann ergänzt: "Die Bewahrung dieses Scheinbilds führte zu einer gestörten Kommunikation zwischen den Fronten." Sie trug dazu bei, dass die Kriegsjahre nicht nur Länder, Städte und Gemeinden, sondern auch die kleinste politische Einheit - die Familie - zermürbten. Über das Familienleben und die Rolle der Frauen während der Weltkriege, haben die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Tagung "Familie und Krieg" diskutiert, eine Zusammenarbeit der Akademie für Politische Bildung mit der Universitäten Augsburg, der Universität Heidelberg und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie mit der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Frauen im Ersten Weltkrieg: Versorgung und Emanzipation

"Alles dreht sich ums Essen", sagt Silke Fehlmann. Was heute wie der Slogan einer Kochshow klingt, war während des Ersten Weltkrieges Alltag für Frauen im Deutschen Reich. Der Hungerwinter und der darauffolgende Hungersommer 1917 lösten auch an der Heimatfront einen Überlebenskampf aus. Zur Doppelbelastung der Frauen durch die alleinige Verantwortung für Erwerbs- und Hausarbeit kam die Versorgung ihrer Familien. Neben Kleidung und Heizmitteln war Nahrung das zentrale Thema der Kriegsjahre - denn sie fehlte überall. Milch wurde mit Wasser gestreckt, Getreideanteile durch Kartoffeln ersetzt und die Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften bekamen einen eigenen Namen:"Lebensmittelpolonaisen". Sie führten allerdings oft zu verschlossenen Türen vor leeren Regalen. Die Lebensmittelknappheit im Ersten Weltkrieg, ausgelöst durch blockierte Handelsrouten und verdorrte Ernten, war so akut, dass das Kriegsernährungsamt die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zur öffentlichen Angelegenheit machte. Da Frauen als Expertinnen galten, musste mindestens eine weibliche Person in den Komitees zur Rationierungspolitik vertreten sein.

Doch nicht nur in Sachen Ernährung gewannen Frauen an Öffentlichkeit. Aus Männermangel begannen sie in Berufen zu arbeiten, die bisher ausschließlich Männern vorbehalten waren. Die Erwerbstätigkeit der Frau ermöglichte ihr ein selbständiges Leben jenseits des häuslichen Bereichs und brachte dem Ersten Weltkrieg den Ruf ein, neben dem Elend wenigstens für die Emanzipation der Frau gesorgt zu haben. Silke Fehlemann entzaubert diese Erfolgsgeschichte. Die Erwerbstätigkeit der Frau habe sich nicht erhöht, sondern verändert. Wer vorher Dienstmädchen war, wurde während des Ersten Weltkriegs zur Fabrikarbeiterin. Dies erweckte den Anschein, die Arbeit von Frauen hätte sich vermehrt, in Wirklichkeit wurde sie nur zum ersten Mal statistisch erfasst. Auch die politische Akzeptanz von Frauen habe schon vor 1914 begonnen. Sowohl die sozialdemokratischen als auch die konservativen Parteien öffneten sich schon vor Kriegsbeginn gegenüber weiblichen Mitgliedern. Die wachsende Selbständigkeit der Frau, die 1918 im Wahlrecht resultierte, war also keine alleinige Errungenschaft des Krieges. Der Erste Weltkrieg kann als Katalysator der Emanzipation gesehen werden, aber nicht als ihr Anfang. Die gestärkte Rolle der Frau stößt zudem bei vielen Kriegsrückkehrern auf Widerstand. Silke Fehlemann verweist auf antifeministische Rhetoriken, die auch durch die Dolchstoßlegende befeuert wurden.

Die Dolchstoßlegende: eine antifeministische Lesart

Die Dolchstoßlegende ist eine Verschwörungstheorie, die unter anderem von der Obersten Heeresleitung (OHL) verbreitet wurde. Sie besagt, dass nicht das Militär für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich sei, sondern die Novemberrevolution in der Heimat, die 1918 zum Sturz der Monarchie und zum Untergang des Deutschen Kaiserreichs geführt hatte. Die OHL um Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff verunglimpfte Friedensinitiativen, linke politische Agitation und Streiks als Dolchstoß in den Rücken des Heeres, das im Feld unbesiegt gewesen sei. Nur durch fehlendes Durchhaltevermögen und Sabotage in der Heimat sei der Krieg verloren worden. Die tatsächliche Entwicklung verlief umgekehrt: Das Militär hatte sich mit der Fortführung des Krieges trotz strategischer Fehler, erschöpfter Soldaten und wirtschaftlich überlegener Gegner in eine Situation manövriert, in der keine Chance mehr auf einen Sieg bestand, aber die Kriegsopfer immer weiter stiegen. Erst dadurch wuchs die innerdeutsche Opposition gegen den Krieg.

Die Dolchstoßlegende war auch Jahre nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin präsent. Auch die Nationalsozialisten erkannten in ihr einen Nährboden, um in der Gesellschaft Wut und Hass auf die neu enstandene demokratische Weimarer Republik und ihre Vertreter und Vertreterinnen zu schüren. Neben Juden und Bolschewisten wurden die Frauen für den "Diktatfrieden" von Versailles verantwortlich gemacht. Durch Jammerbriefe und Proteste seien sie den Soldaten an der Front in den Rücken gefallen. "Die Dolchstoßlegende hat eine starke antifeministische Stoßrichtung, die von vielen Historikern lange übersehen wurde", betont Silke Fehlemann. Der Mythos sorgte unter anderem dafür, dass die harte Arbeit der Frauen an der Heimatfront verkannt wurde.

Frauen im Nationalsozialismus: zwischen Kindern und Wehrmacht

Die arbeitende Frau galt deshalb als Versinnbildlichung der Notstandssituation. Sobald der Krieg vorbei sei, so die landläufige Meinung, würden die Frauen in die ihnen angestammten Rollen als Hausfrauen und Mütter zurückkehren. Doch dieses Bild sollte sich nicht bewahrheiten. Das Frauenwahlrecht und Berufe wie Sekretärin, Stenografin oder Krankenschwester ermöglichten vor allem Frauen in Städten mehr Eigenständigkeit als im Kaiserreich. Die reaktionäre Familienpolitik der Nationalsozialisten konnte das nur bedingt ändern, denn spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkrieges war das Deutsche Reich erneut auf erwerbstätige Frauen angewiesen. Vor allem junge und ledige Frauen sahen den Krieg als Chance, ihre Elternhäuser zu verlassen und die Welt zu entdecken. Manche beteiligten sich beispielsweise als Krankschwestern oder Aufseherinnen auch an Gräueltaten in Konzentrationslagern und Vernichtungslagern. In der Wehrmacht halfen insgesamt 500.000 Frauen dabei, Soldaten für den Fronteinsatz freizumachen, indem sie Kriegsaufgaben übernahmen, die sich nicht unmittelbar im Schützengraben abspielten. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges kam auf 20 Wehrmachtssoldaten mindestens eine Frau. An der Heimatfront bestand die Luftschutzwacht, die Brände von Bombeneinschlägen löschte und mit Blockwarten die Einhaltung der Schutzmaßnahmen kontrollierte, zu 70 Prozent aus Frauen.

Innerhalb der Familien verhielten sich die deutschen Mütter sehr unterschiedlich. Manche versuchten durch eine harte und disziplinierte Erziehung besonders ihre Söhne auf die Front vorzubereiten. Andere versteckten ihre Angst und hielten Politik und Krieg möglichst fern von ihren Kindern. Diese Ambivalenz zeigt auch eine Untersuchung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zu Familienbeziehungen und kindlichem Angstempfinden. Paula Kumerics und Linda Doreen Wentland haben Zeitzeuginnen interviewt und den Tagungsteilnehmerinnen und Tagungsteilnehmern Auszüge davon vorgestellt. "Ich bin nicht mit Angst aufgewachsen", erzählt eine Zeitzeugin, während eine andere berichtet, die Angst ihrer Mutter habe sich auf sie übertragen und für das ganze Leben geprägt. Bemerkenswerterweise, erklärt Markus Raasch, hätten aber fast alle Eltern - selbst Anhänger und Anhängerinnen der Nationalsozialisten - ihren Kindern den Beitritt zur Hitlerjugend erschwert.

Die zahlreichen Organisationen und Verbände der Nationalsozialisten zeigen, dass Familien während des Zweiten Weltkrieges im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg mehr in staatliche Institutionen eingebettet waren. Dem Leid an der Heimatfront schenkten jedoch auch die Nationalsozialisten nicht mehr Gehör. Im Zweiten Weltkrieg waren Frauen erneut aufgefordert, keinesfalls Jammerbriefe an Ehemänner und Söhne an der Front zu schicken. "Das in der Feldpost beschriebene Bild der intakten Heimat sollte die Soldaten mit ihrem Vorkriegsleben verbinden und ihnen emotionalen Rückhalt geben", erklärt Anette Neder.

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