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Der Krieg in der Ukraine als europäische Herausforderung

Passauer Tetralog diskutiert über Waffenlieferungen und NATO-Osterweiterung

Seit Februar herrscht Krieg in der Ukraine. Politik, Medien und Zivilgesellschaft diskutieren Möglichkeiten, die Ukraine zu unterstützen. Eine besondere Rolle spielen dabei Waffenlieferungen: Sie gelten als besonders wirksame, aber auch umstrittene Form der Hilfeleistung und Solidaritätsbekundung. Beim 23. Passauer Tetralog mit dem Titel "Freiheit - Frieden - Humanität" hat Heinrich Oberreuter, Altdirektor der Akademie für Politische Bildung, mit seinen Gästen über den Krieg in der Ukraine als europäische Herausforderung gesprochen.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 18.07.2022

Von: Theresa Schell / Foto: Theresa Schell

23. Passauer Tetralog: Freiheit - Frieden - Humanität

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Wenn Putin nicht gestoppt wird, kann sich alles was an Russland grenzt nicht sicher fühlen", sagt die russische Historikerin und Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa. Sie bringt damit zum Ausdruck, wie zentral die Unterstützung der Ukraine für die Region ist. Wie also umgehen mit Russland? Nach zwei Jahren Corona-Pause diskutierte Heinrich Oberreuter, Altdirektor der Akademie für Politische Bildung, dieses Jahr wieder im Audimax der Universität Passau. Seine Gäste bei der 23. Ausgabe des Passauer Tetralogs unter dem Titel "Freiheit - Frieden - Humanität" im Rahmen der Europäischen Wochen waren neben Irina Scherbakowa der amerikanische Politikwissenschaftler Jackson Janes, Ljudmyla Melnyk vom Institut für Europäische Politik, die selbst Ukrainerin ist, sowie der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei Manfred Weber.

War der Westen naiv im Umgang mit Russland?

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock sprach am 24. Februar 2022 davon, in einer anderen Welt aufgewacht zu sein. Damit meinte sie den russischen Angriff auf die Ukraine. Viele Menschen teilen die Meinung der Ministerin, für sie war ein Krieg in Europa undenkbar. Heinrich Oberreuter hält dagegen: "Wer im Februar 2022 in einer neuen Welt aufgewacht ist, der hat die vergangenen 20 Jahre verschlafen, was passiert ist." Dabei spielt der Politikwissenschaftler auf die Naivität des Westens an. Der Westen habe zu oft weggesehen und nicht zugehört, was Putin und die Bevölkerung sagten. Putin nämlich, sagt auch Manfred Weber, habe konsequent umgesetzt, was er in den vergangenen Jahren versprochen habe. Er wandelte das Land von einem autoritären Regime zu einer militanten Diktatur. Die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa schließt sich ihren Vorrednern an. Bei diplomatischen Besuchen in Russland hätten westliche Politikerinnen und Politiker die innenpolitische Wende des Landes ignoriert und die Gefahr nicht erkannt. Sie klagt, dass den westlichen Regierungen geopolitische und wirtschaftliche Interessen wie die beiden Nord-Stream-Pipelines wichtiger waren als Demokratie und sie ihre Politik an diesen Maßstäben ausgerichtet hätten.

Putins Angst vor der NATO-Osterweiterung

Auch Putin hatte geopolitische Interessen, die der Westen jedoch ignorierte. In einer Brandrede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 warnte Putin vor einer NATO-Osterweitung und den Konsequenzen für Russland. Damals war Russland politisch und wirtschaftlich schwächer als heute. Putin fühlte sich von der NATO bedroht und forderte Sicherheitsgarantien für sein Land, erklärt Irina Scherbakowa. Zwar hat der Westen Russland in Bündnisse wie die G8 aufgenommen, der russische Präsident fühlte sich durch die NATO in seiner unmittelbaren Nachbarschaft aber weiterhin bedroht - wenn auch ohne ersichtlichen Grund. Denn der Politikwissenschaftler Jackson Janes betont, dass die NATO eine Verteidigungsallianz und inzwischen auch eine Werteallianz bilde, aber keine Angriffsallianz.

Aktuell ist eine weitere NATO-Erweiterung geplant. Finnland und Schweden wollen Mitglieder im transatlantischen Verteidigungsbündnis werden. Auf den geplanten Beitritt reagiert der russische Präsident betont gelassen. Es gebe mit den beiden Ländern keine territorialen Differenzen, kommentierte er. Sollten in den Staaten jedoch Militärkontingente stationiert werden, wäre Russland gezwungen, in gleicher Weise zu handeln.

Ist das Prinzip Wandel durch Handel gescheitert?

Neben der gescheiterten Sicherheitspolitik stellt der Krieg in der Ukraine auch das Prinzip Wandel durch Handel infrage. Heinrich Oberreuter bezeichnete diese Politik als Fehler Deutschlands in den vergangenen 20 Jahren. Der Theorie nach wirkt Außenhandel friedensstiftend und demokratiefördernd. Die Logik dahinter: Gemeinsamer Handel bedeutet im Kriegsfall ökonomische Einbußen und Verluste. Das Konzept geht auf die Neue Ostpolitik von Egon Bahr und Willy Brandt in den 1960er Jahren zurück. Unter dem Leitmotiv "Wandel durch Annäherung" baute die sozialliberale Regierung wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen zur DDR auf und bemühte sich um eine Entspannung des Ost-West-Konflikts. Der Handel mit Russland nach der Deutschen Wiedervereinigung schließt an diesen Gedanken an. Er sollte den Wohlstand der russischen Bevölkerung steigern und ihren Präsidenten zu zivilisierten Partnern formen. Nun müssen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker anerkennen, dass dieser Plan nur dann erfolgreich ist, wenn alle Beteiligten ein gewisses Maß an gutem Willen zeigen.

Obwohl Russland ein gravierend negatives Beispiel darstellt, ist das Prinzip Wandel durch Handel nicht grundsätzlich gescheitert. Als Positivbeispiele gelten Südkorea und Taiwan. Expertinnen und Experten raten jedoch, sich nicht von Partnerstaaten abhängig zu machen, vor allem nicht sicherheitspolitisch. Für die Zukunft empfiehlt es sich, Länder in den internationalen Handel einzubinden, die sich bereits an demokratischen Werten orientieren.

Wie Europa die Ukraine mit Waffen unterstützen kann

Von Partnerschaft spricht auch Ljudmyla Melnyk und fordert Hilfe von den westlichen Ländern für die Ukraine. Doch wie können der Westen und insbesondere Europa die Ukraine sinnvoll unterstützen? Der Europaabgeordnete Manfred Weber ist dafür, die Ukraine so gut es geht mit Waffen zu beliefern. Was das betrifft, bezeichnet er sich selbst als "Hardliner". Die bisherigen Lieferungen sind ihm nicht genug, Deutschland müsse auch eigene Reserven herausgeben. Positiv gegenüber Waffenlieferungen gestimmt ist auch Heinrich Oberreuter. Er gibt klar zu verstehen: "Keine Waffen zu liefern bringt auch keinen Frieden." Weber kreidet der NATO an, dass ihre Truppen größtenteils nicht in Europa stationiert sind. Deswegen müsse die EU eine eigene Militärstruktur aufbauen. Auch hier stimmt Heinrich Oberreuter zu, Deutschland und die EU seien aktuell zu schwach, um sich im Falle eines Angriffs zu verteidigen. Jackson Janes bezeichnet den Krieg in der Ukraine als globale Herausforderung und zweifelt die Stellung der USA als Weltpolizei an. Der Politikwissenschaftler fordert Europa dazu auf, mehr Aufgaben als Führungsmacht zu übernehmen, das sei die Herausforderung Europas in diesem Jahrhundert. Er appelliert außerdem an Deutschland: Die Bundesrepublik müsse ihre Chance wahrnehmen und ihre Führungsrolle unter Beweis stellen, denn die USA blicken mehr auf den Pazifikraum.

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