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Die Entwicklung der deutsch-tschechischen Nachbarschaft

Was die beiden EU-Mitglieder verbindet und trennt

Für Deutschland ist Tschechien oft der vergessene Nachbar. Doch die beiden Länder verbindet eine gemeinsame Geschichte, enge wirtschaftliche Verflechtungen und nicht zuletzt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. In der Tagung "Endlich Entspannt?! Deutschland und Tschechien in Europa" hat die Akademie für Politische Bildung mit dem Adalbert Stifter Verein e.V. und den Tschechischen Zentren Berlin und München vor dem Hintergrund der tschechischen Ratspräsidentschaft die deutsch-tschechischen Beziehungen unter die Lupe genommen.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 02.11.2022

Von: Martina Maier / Foto: Martina Maier

Programm: Endlich entspannt?!

Endlich entspannt?! Tschechien und Deutschland in Europa

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Deutschland teilt mit Tschechien 817 Kilometer Grenze, so viel wie mit Österreich und mehr als mit allen anderen Nachbarländern. Täglich überqueren sie mehr als 30.000 Berufspendlerinnen und Berufspendler. Vor allem aber einen die Nachbarn gemeinsame Werte, die nicht zuletzt durch den tschechischen EU-Beitritt gestärkt wurden. Über die deutsch-tschechischen Beziehungen und ihre Relevanz für die Europäische Union haben Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft in der Tagung "Endlich Entspannt?! Tschechien und Deutschland in Europa" der Akademie für Politische Bildung, des Adalbert Stifter Vereins e.V. und der Tschechischen Zentren Berlin und München diskutiert.

Kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Austausch

"Das Verhältnis von Deutschland zu Tschechien ist dichter und größer als man es sich vorstellt", betont Robert Luft, Vorsitzender der Historischen Kommission für die böhmischen Länder. Schon immer spielte die deutsche Sprache in Tschechien eine bedeutende Rolle. Für Tschechinnen und Tschechen ist sie nicht irgendeine Fremdsprache: Lange Zeit war die deutsche Sprache eine der meistgesprochenen Sprachen in Tschechien. "Deutsch sprachen bis in das 20. Jahrhundert fast alle Tschechinnen und Tschechen - einen Bildungsweg ohne Deutsch gab es kaum", erzählt Luft. Zwar sinkt die Zahl Deutsch sprechender Bürgerinnen und Bürger, doch die Sprache gilt weiterhin als fester Bestandteil der tschechischen Gesellschaft. "Der Großteil der amtierenden Regierungsmitglieder spricht Deutsch besser als Englisch", ergänzt Peter Lange, Hörfunk Korrespondent für das Deutschlandradio und die ARD in Prag.

Auch wirtschaftlich sind Deutschland und Tschechien eng miteinander verflochten. Für Tschechien ist Deutschland einer der wichtigsten Handelspartner: Allein im Jahr 2021 exportierte die Tschechische Republik Waren im Wert von mehr als 62 Milliarden Euro nach Deutschland. Außerdem pendeln viele Tschechinnen und Tschechen täglich zur Arbeit über die gemeinsame Grenze, die mit 817 Kilometern genauso lang ist wie die zu Österreich und länger als zu allen anderen Nachbarstaaten. Als zu Beginn der Corona-Pandemie plötzlich die Grenzen geschlossen wurden, litten nicht nur tschechische Arbeitskräfte, sondern auch die von ihnen abhängigen Unternehmen in Sachsen und Bayern.

Jahrzehntelange Konfrontation und Feindschaft

Das enge Verhältnis zwischen beiden Ländern gründet sich auf historischen Erfahrungen, die auf die deutschen Siedlungsbewegungen nach Böhmen und Mähren ab dem 12. Jahrhundert zurückgehen. Doch nicht immer waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Tschechien harmonisch. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschärfte sich der Streit um das Sudetenland. Trotz der deutschen Dominanz in den Grenzgebieten des tschechoslowakischen Vielvölkerstaats wurde der deutschen Minderheit kein Selbstbestimmungsrecht gewährt. Mit dem steigenden Nationalismus im Deutschen Reich spitzte sich der Konflikt zu und endete mit dem Münchner Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien vom 28. September 1938. Die Tschechoslowakei, die nicht zur Konferenz eingeladen war, musste das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten und binnen zehn Tagen räumen. Schon während dieser Zeit begann der Einmarsch der Wehrmacht. Ein Jahr später ließ Hitler völkerrechtswidrig die sogenannte Rest-Tschechei annektieren und schuf das Protektorat Böhmen und Mähren.

Unter der deutschen Besatzung wurde die tschechische Bevölkerung massiv unterdrückt. Die schlimmsten Gräueltaten begingen die Nationalsozialisten in Lidice. In einem Racheakt nach dem Attentat auf SS-Führer Reinhard Heydrich wurden 1942 fast alle männlichen Einwohner erschossen und das tschechische Dorf wurde komplett zerstört. Nach Kriegsende erließ der neue Staatspräsident der Tschechoslowakei, Edvard Beneš, die sogenannten Beneš-Dekrete: Die entschädigungslose Enteignung aller Personen deutscher oder ungarischer Nationalität. Bis zu drei Millionen Sudetendeutsche wurden anschließend vertrieben.

Wiederannäherung zwischen Tschechien und Deutschland

Diese Ereignisse belasteten die deutsch-tschechischen Beziehungen viele Jahrzehnte. Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs begann die vorsichtige Annäherung zwischen den beiden Ländern, die 1992 mit der Unterzeichnung des Deutsch-Tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrags durch Bundeskanzler Helmut Kohl und den tschechischen Präsidenten Václav Havel institutionalisiert wurde. Fünf Jahre später, im Jahr 1997, wurde dieser durch die Deutsch-Tschechische Erklärung ergänzt. Im selben Jahr entstand auch der Deutsch-Tschechische Zukunftsfond, der als wichtige Plattform für den deutsch-tschechischen Dialog dient. Wenngleich nicht makellos, hat sich die Beziehung zwischen Deutschland und Tschechien seither positiv entwickelt.

Václav Havel wusste um die Wichtigkeit der bilateralen Beziehungen und entschuldigte sich erstmals für die Vertreibung der Sudetendeutschen. "So wie die Zeit der Entschuldigungen und der Aufstellung von Rechnungen für die Vergangenheit enden und die Zeit einer sachlichen Debatte über sie beginnen solte, so muss auch die Zeit der Monologe und einsamer Aufrufe enden und durch eine Zeit des Dialogs abgelöst werden. Mit anderen Worten, die Zeit der Konfrontation muss ein für alle Mal zu Ende gehen, und eine Zeit der Kooperation muss beginnen [...]", sagte er 1995.

Der EU-Beitritt Tschechiens

Einen weiteren Wendepunkt in der Entwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungen stellte der Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union dar. Von Deutschland stets befürwortet, erfolgte dieser Schritt im Jahr 2004. Heute sorgt er in der tschechischen Bevölkerung für große Unzufriedenheit: Gegenüber der Europäischen Union überwiegt eine gewisse Skepsis, welche sich unter anderem in der Zurückhaltung von der Eurozone ausdrückt, sagt Zuzana Lizcová von der Karlsuniversität Prag. Ihren Zahlen zufolge positioniert sich ein Viertel der Tschechinnen und Tschechen gegen die EU. Rund 62 Prozent würden heute gegen einen EU-Beitritt stimmen. Neben der Slowakei verzeichnet Tschechien zudem eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen bei Europawahlen.

Die tschechische EU-Skepsis sei kein neues Phänomen, erinnert Lizcová. Schon Václav Klaus war in seiner Zeit als Ministerpräsident bekennender EU-Kritiker und prägt das tschechische Bild von der EU als Gefahr für die eigene Souveränität bis heute. Vor allem während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 fühlten sich viele Tschechinnen und Tschechen in ihrer Skepsis bestätigt. Das Misstrauen gegenüber der EU begründet sich jedoch nicht in unterschiedlichen Wertvorstellungen. Im Gegenteil: Tschechinnen und Tschechen teilen die gemeinsamen europäischen Werte, fühlen sich aber in ihren Forderungen oft missverstanden und vernachlässigt. Auch die Bürokratie der EU enttäusche viele Tschechinnen und Tschechen, sagt Lizcová. Die tschechische Gesellschaft habe kein Problem mit Europa per se. Die eigene Wahrnehmung als Mitglied zweiter Klasse mache aber große Teile der Bevölkerung skeptisch.

Tschechische EU-Ratspräsidentschaft 2022: Europa als Aufgabe

Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli kam auf die tschechische Regierung eine gewaltige Herausforderung zu. Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine besteht ein Großteil ihrer Agenda in der Bewältigung der Fluchtbewegungen und dem Wiederaufbau der Ukraine. Unter dem Slogan "Europa als Aufgabe" besinnt sich die tschechische Regierung auf das Erbe des ehemaligen Staatspräsidenten Václav Havel, der sich in seiner Amtszeit für die europäische Zusammenarbeit einsetzte. Die Ratspräsidentschaft dient auch als Gelegenheit zur Stärkung des europäischen Bewusstseins in Tschechien. Ministerpräsident Petr Fiala sieht die Chance, pro-europäische Stimmen in der tschechischen Gesellschaft zu mobilisieren. Allerdings liegt es auch in der Verantwortung der EU, das Vertrauen der Tschechinnen und Tschechen zurückzugewinnen. Die Bevölkerung ist sich bewusst, dass die EU-Mitgliedschaft für die Wirtschaft ihres Landes eine enorme Bedeutung hat. Die Vorteile auf politischer und gesellschaftlicher Ebene spüren viele Menschen in Tschechien weniger stark. Das zu ändern, ist auch eine wichtige Aufgabe im nachbarschaftlichen Dialog mit Deutschland.

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