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Die Zukunft der Visegrád 4

Episode 24 unseres Podcasts mit Andreas Kalina

Die Visegrád 4, Europas berüchtigtster Neinsager-Club, hat sich zerstritten. Nachdem sich Tschechien und die Slowakei vom Populismus abgewendet haben, geraten die Regierungschefs in Ostmitteleuropa immer häufiger aneinander. In der europäischen Migrationspolitik vertreten Ungarn und Polen auf der einen sowie Tschechien und die Slowakei auf der anderen Seite gegensätzliche Meinungen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán wirft seinem tschechischen Amtskollegen Petr Fiala vor, dieser hätte "die Seiten gewechselt". Der wiederum spricht von einer "absurden Stigmatisierung" durch die ungarische Regierung. Welche Auseinandersetzungen trennen die Visegrád-Staaten darüber hinaus? Und in welchen Bereichen zieht die Gruppe noch einem Strang? Andreas Kalina, gebürtiger Tscheche und Dozent für Europäische Integration der Akademie für Politische Bildung, spricht über die Zukunft der Visegrád 4.

Tutzing / Podcast / Online seit: 11.08.2023

Von: / Foto: APB Tutzing

Podcast

Beate Winterer: Es gibt Streit in der Europäischen Union. Anlass ist die Migrationspolitik und beteiligt sind vier Staaten, die häufig für Konflikte sorgen: Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn. Die sogenannten Visegrád-Staaten oder V4. Dieses Mal streiten die Ostmitteleuropäer aber nicht in erster Linie mit den anderen EU-Mitgliedern, sondern untereinander. Der EU-Gipfel in Brüssel liegt zwar schon einige Wochen zurück, aber der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und sein tschechischer Kollege Petr Fiala treten weiter nach. Worüber sich die Länder so uneinig sind, weiß mein Kollege Dr. Andreas Kalina. Hallo Andreas!

Andreas Kalina: Hallo Beate und vielen Dank für die Einladung!

Beate Winterer: Andreas, du leitest an der Akademie unter anderem den Arbeitsbereich europäische Integration. Du bist selbst gebürtiger Tscheche und beobachtest die Visegrád Staaten seit vielen Jahren.

Die Krise der Visegrád 4

Beate Winterer: Bisher galten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei in Europa mehr oder weniger als Block. Was ist beim EU-Gipfel im Juni passiert, dass Viktor Orban seinem tschechischen Amtskollegen jetzt vorwirft, er hätte "die Seiten gewechselt" und Petr Fiala wiederum von einer "absurden Stigmatisierung" durch die ungarische Regierung spricht?

Andreas Kalina: Es ist eine schöne und interessante Situation. Mein Eindruck ist, dass die Visegrád-Staaten von der Realität eingeholt worden sind bzw. in der Außenwahrnehmung eingeholt worden sind. Denn was wir - vor allem von der westlichen Seite - als Visegrád, als einen Block wahrgenommen haben, das war ja eine fast heterogene Gruppierung, das haben wir so nicht gesehen. Und das, was passiert ist, ist tatsächlich, dass innerhalb dieser Staatengemeinschaft Brüche entstanden sind. Da sehe ich zwei Entwicklungen: Zum einen sind zwei Staaten dieser vier vom Populismus abgekehrt: Die Slowakei und dann Tschechien. Die sind nicht mehr in diesen Handlungs- und rhetorischen Mustern verfangen und zum anderen eben diese zwei Staaten haben sich europapolitisch eher auf eine pragmatische Linie begeben. Das heißt, nicht mehr die permanenten Neinsager, sondern die Europapolitik mitgestalten und gerade in der Migrationspolitik ist das ein Feld, wo diese Brüche ganz deutlich werden. Viktor Orbán - das ist mein Eindruck - fühlt sich hier verlassen und hat seine Allianzen nicht mehr, auf die er seine Politik und seinen Staatsumbau gegründet hat. Die jetzige Migrationsfrage und das Verhältnis in der Visegrád-Gruppe nach innen ist auch längerfristig angelegt, weil beispielsweise die Slowakei und Tschechien eher konstruktiv eingestellt sind, wenn es um Europapolitik geht. Zweifelsohne erkennen auch alle anderen, dass die Migration eine riesige Herausforderung für die Europäische Union ist. Aber auch deswegen, weil alle vier Staaten laute Befürworter des Schengen-Systems sind. Wenn wir auf der einen Seite Schengen haben möchten - einen grenzenlosen Binnenraum - dann muss man die Migration auch europäisch regeln, weil wenn wir in einem Gebiet ohne Binnengrenzen sind, muss es auf die Migrationsherausforderung auch eine europäische Antwort geben. Das sind vor allem die Slowakei und Tschechien, die versuchen konstruktiver zu sein. Auf der anderen Seite verhärten sich die Fronten bei Orbán und Kaczyński sehr stark. Sie argumentieren sehr ideologiegeladen. Bei Kaczyński oder bei der PiS würde ich es mit etwas Abstrichen sehen, weil sich Polen gerade in einem Wahlkampf befindet und für Kaczyński und Morawiecki ist die Migrationsfrage natürlich eine Frage, um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren. Da kann es tatsächlich im Herbst etwas anders aussehen. Aber das ist auch ein Punkt, der jetzt virulenter wird: Die ungarische Positionierung gegenüber den anderen Visegrád-Staaten. Du hast schon das problematische Verhältnis zu Tschechien und der tschechischen Regierung thematisiert, aber genauso ist es mit der Slowakei. In dieser Rede, die Orbán gehalten hat, hat er die Slowakei als abtrünniges ungarisches Territorium bezeichnet. Das ist die ungarische Lesart, Phantomschmerzen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Slowakei ist Großungarn weggekommen. Das ist natürlich eine revisionistische Sichtweise, die in der Slowakei nicht so stark auf Freude und Entgegenkommen stößt - auch wenn es eine populistische, nationalistische Regierung in der Slowakei gibt und einen Fico, der ein natürlicher Verbündeter Orbáns ist. Der wird es sich nicht gefallen lassen, wenn Orbán sagt, Ficos Regierungsgebiet ist eigentlich nur eine ungarische Provinz. Da wird man auch nicht zusammenarbeiten können. Und auch umgekehrt: Tschechien und Polen. Da gibt es aktuell auch Streitigkeit. Beispielsweise ein Großtagebau, Turów im deutsch-tschechisch-polnischen Dreieck. Da hat Tschechien Polen vor dem EUGH verklagt und da gibt es auch Streitigkeiten.

Ungarn und Polen vs. Tschechien und Slowakei

Beate Winterer: Man bekommt jetzt den Eindruck, dass die Visegrád 4 in Zwei mal Zwei zerfallen. Stimmt dieser Eindruck so oder ist das eigentlich zu einfach?

Andreas Kalina: Der Eindruck stimmt. Aber es sind auch nicht zwei festgefügte Gruppen, sondern die Konstellationen sind verschieden. Dieses Zwei versus Zwei ist und war tatsächlich immer so eine Fragmentierung, die vielleicht etwas latent - also nicht ganz so wahrnehmbar - schon immer gegeben war. Als alle vier Staaten populistisch regiert waren, waren es unterschiedliche Populismen. In Ungarn und in Polen sind es ideologiegeleitete Populismen. Sowohl die Fidesz als auch Orbán als auch die PiS mit Kaczyński und Morawiecki haben ein größeres Ziel. Die wollen in dem Staat die Demokratie umbauen in Richtung eines konservativen Wohlfahrtsstaats, der nicht unbedingt nach den liberalen Kriterien aufgebaut ist. Die damaligen Populismen in der Slowakei und in Tschechien waren eher so pragmatische Populismen. Da ging es darum, Stimmen zu maximieren und es war keine Ideologie dahinter. Eine andere Zwei-mal-Zwei-Formatierung orientiert sich an dem Verhältnis zu Deutschland. Denn bei Ungarn und Polen ist es langfristig so, dass in Deutschland immer der Erzfeind gesehen wird - weil man dadurch politisch Stimmen maximieren kann. In der Slowakei und Tschechien ist es schon etwas differenzierter, weil da während der populistischen Zeit auch die Zusammenarbeit gesucht worden ist und da lavierte man so dazwischen. Dann gibt es tatsächlich noch zwei weitere Frontstellungen: Eine Drei versus Eins, die sieht man tatsächlich jetzt seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Hier wird deutlich, dass die langfristige strategische Orientierung grundverschieden ist. Auf der einen Seite Ungarn, die eine Art multivektorale Außenpolitik verfolgen. Das heißt, man weint der eigenen Zeit als Großmacht nach und versucht, mit allen Großmächten gleich zu paktieren. Egal, ob das Demokratien sind oder autoritäre Systeme. Man sieht das in der ungarischen Politik gegenüber Russland, aber auch in der ungarischen Politik gegenüber China. Auf der anderen Seite sind die drei übrigen Staaten, die im transatlantischen Raum verankert sind und die Russlands Großmachtfantasien mit gewissem Argwohn betrachten. Die letzte Konstellation ist eine Eins versus Drei. Die sieht man, wenn man sich das binneneuropäisch anschaut. Die Slowakei ist als einziger Staat dieser Visegrád-4-Gruppe im Eurowährungsraum. Auch als die Slowakei populistisch von der Regierung Fico regiert worden ist, hat man trotzdem darauf aufgepasst, dass man nicht aus der Eurogruppe ausschert und ein gewisser Teil Kerneuropas bleibt. Weil man angewiesen ist, in der Währungsgruppe mit drinnen zu sein und diese mitzugestalten. Diese Notwendigkeit sahen und sehen Polen und Ungarn nicht. Deswegen konnten sie hier auch viel mehr auf Konfrontation hinausfahren.

Die Geschichte der Visegrád 4

Beate Winterer: Ich würde gerne nochmal einen Schritt zurückgehen. Wir verwenden die ganze Zeit den Begriff Visegrád-Staaten, Visegrád 4, V4, wenn es um Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn geht. Aber ich glaube, nicht alle, die uns zuhören, wissen wieso genau man diese Länder überhaupt unter diesem Schlagwort oder diesem Ortsnamen zusammenfasst.

Andreas Kalina: Ja, es ist ein künstliches Gebilde, das durchaus in gewissen historischen Fußstapfen gebildet worden ist. Visegrád ist eine Ortschaft in Ungarn am Donauknie und da haben sich historisch 1335 die Könige von Ungarn, Böhmen und Polen getroffen, um zu netzwerken, würde man heute sagen. Diese historische Begebenheit hat man Anfang der 1990er ausgegraben und 1991 haben sich die damaligen Staatspräsidenten Lech Wałêsa, Vaclav Havel und der ungarische Ministerpräsident József Antall gerade in dieser Tradition in Visegrád getroffen und haben beschlossen, zusammenzuarbeiten. Zusammenzuarbeiten in den Zielen, die man damals verfolgt hat: zum einen der Beitritt in die Nato und zum anderen der Betritt in die Europäischen Gemeinschaften, wie sie damals noch hießen. Es war so eine Art Zusammenarbeit, wo man gemeinsam strategische Ziele festgelegt hat und wo man angesichts einer gefühlten historischen Gemeinsamkeit davon ausgegangen ist, gemeinsam können wir diese Ziele besser verfolgen.

Streitthema Migration

Beate Winterer: Innerhalb Europas wirklich bekannt sind die Visegrád 4 erst 2015 mit der sogenannten Migrationskrise. Damals haben sie nämlich noch an einem Strang gezogen. Migration ist aber interessanterweise auch jetzt wieder ein Streitthema, aber dieses Mal zwischen den Staaten. Ist es also so, dass Migration einerseits bei den Visegrád-Staaten der Auslöser war für das angespannte Verhältnis zur Europäischen Union und andererseits jetzt auch für das angespannte Verhältnis zwischen den vier Staaten? Oder ist die aktuelle Debatte, die die Vier miteinanderführen tiefergehend und das Migrationsthema war jetzt eben nur so ein Punkt, der die Anspannungen sichtbar gemacht hat?

Andreas Kalina: Nach meiner Wahrnehmung ist das Migrationsthema eher ein Symptom und ein konkreter Anlass. Sowohl was das Verhältnis der Visegrád 4 zur restlichen EU und auch zu Brüssel als der oberen Einheit anbelangt als auch was die jetzigen Verwerfungen innerhalb der V4-Gruppe betrifft. Ein Symptom deswegen, weil hier die Verwerfung nicht schon sehr langfristig angelegt war. Schauen wir uns das Verhältnis der Visegrád-4-Staaten zur EU, zur Europäischen Integration insgesamt an: Ich glaube hier sind es langfristige strukturelle Faktoren, die zu diesem Bruch anlässlich der Migrationskrise geführt haben und da sehe ich drei verschiedene Faktoren, die wirklich im Hintergrund schon lange schlummerten. Zum einen ist es die sogenannte asymmetrische Anpassung bei der Europäischen Integration. Weil der Beitrittsprozess - und zwar nicht nur der Visegrád 4 von Seiten der Beitrittskandidaten immer als eine Anpassung an Europa wahrgenommen worden ist. Man musste die Kopenhagener Kriterien erfüllen und man ist immer bewertet worden - naja kommen die näher - und dann ist es abgehackt worden und dann kam das nächste Kapitel. Die EU kann nur so funktionieren und das ist sinnvoll. Auf der anderen Seite ist es so: Brüssel diktiert uns was und wir müssen es erfüllen, sonst sind wir nicht Mitglieder dieser Gruppe. Diese asymmetrische Anpassung führte dazu, dass man sich nie als Einheit gefühlt hat, sondern mehr als eine Art Bittsteller, der reinkommt. Man hat sich nie mit der Europäischen Union identifiziert in dem Sinne, dass man selbst ein Baustein der Union ist, sondern, dass man fremdbestimmt wird. Das kulminierte tatsächlich 2015. Der andere Faktor ist, dass es in Europa, egal, ob man sich westeuropäische oder osteuropäische Staaten anschaut, unterschiedliche Leitbilder der Europäischen Integration gibt. Bei den Visegrád-Staaten und hier nur als Beispiel für ganz Mittelosteuropa hat man schon insgesamt das Leitbild eines - ja schon fast - gaullistischen Europas der Nationalstaaten. Das heißt, man ist grundsätzlich für die Europäische Integration, aber die soll mit dem Einklang einer Nationalstaatlichkeit einhergehen. Weil man den eigenen Nationalstaat so oft in der Vergangenheit in Gefahr gesehen hat und darum kämpfen musste. Das ist eine starke Errungenschaft. Diese Staaten wünschen sich diese Nationalstaatlichkeit in die Europäische Union hineinzutragen und da sind sie natürlich im Konflikt mit anderen Leitbildern, die ein eher föderales Europa sehen. Das ist ein Gebiet, wo es oft knistert. Der dritte Aspekt - zumindest mit Blick auf Ungarn und Polen - ist ein etwas abweichendes Demokratieverständnis, das sich erst in den letzten Jahren herauskristallisiert hat. Wir kennen alle das Zitat Orbáns von einer illiberalen Demokratie und das Ganze kann man auch auf Polen anwenden und mit Abstrichen zumindest auf Teile der tschechischen Gesellschaft und Parteienlandschaft – und genauso in der Slowakei. Denn in diesen Staaten wird die Demokratie nicht so stark mit der Freiheitlichkeit eines Immanuel Kant gesehen. Freiheit ist schon ein wichtiges Gut, wenn man darum kämpfen muss. Aber es kommt auch auf Gleichheit und Identität an. Hier wird gerade die Gleichheit und Identität sehr hoch geschrieben und gleichzeitig herrscht ein sehr stark formalistisches Demokratieverständnis. Das heißt die Mehrheit entscheidet und wenn die Mehrheit entschieden hat, ist es eine demokratische Entscheidung. Man schaut nicht so stark auf Minderheitenschutz und einen Pluralismus. Das sind die Kernprobleme, weil dieses Demokratieverständnis unserem westlichen nicht entspricht. Aber trotzdem kann man das zumindest auf den Fahnen als Demokratie draufschreiben und ähnlich auch bei der Rechtsstaatlichkeit. Das sind die Streitfelder. Alles zusammen genommen ist es wirklich so eine Gemengelage, die sehr explosiv ist. Dann kam die Migrationskrise und das Ganze hat gezündet.

Die Visegrád 4 nach den Wahlen in Polen und der Slowakei

Beate Winterer: Welche Perspektive siehst du denn für die Visegrád 4 mittel- und langfristig?

Andreas Kalina: Also was die Zukunft der Visegrád-4-Staaten anbelangt, entscheidet sich glaube ich sehr vieles diesen Herbst bei den Wahlen in der Slowakei und Polen: Inwieweit die tatsächlich proeuropäisch bzw. europakonstruktivistisch ausgerichtet werden, weil Visegrád 4 kann nicht weiterhin so funktionieren, wie es bis 2021 funktioniert hat - als ein reiner Neinsager-Club. Weil man sich so ausgeschlossen hat und jetzt hat man gesehen, nachdem die Wahlen in der Slowakei und in Tschechien eine Abkehr vom Populismus bedeutet haben, dass es doch viel mehr bringt, europäisch nicht nur Nein zu sagen, sondern eigene Politiken mitreinzubringen, weil dann tatsächlich mehr rauskommt. Das war die tschechische Ratspräsidentschaft 2022, die trotz aller Europaskepsis doch in Europa sehr vieles vorangebracht hat, was auch die westlichen Staaten entsprechend honoriert haben. Das ist jetzt auch der Migrationspakt, der durchaus problematisch gesehen werden kann. Aber es ist das erste Mal, dass man wirklich eine europäische Einigung hat. Und man kann mit einer Einigung besser vorankommen als ohne eine Einigung und die kann man natürlich noch nachjustieren. Da tatsächlich die Zukunft der Visegrád-Staaten sehr stark davon abhängt, bleibt man eher konstruktivistisch. Man kann dabei durchaus skeptisch sein, aber es ist zentral, dass man Europa gestalten will. In welche Richtung es weitergehen wird, ist, dass man die Zusammenarbeit gerade in den außen- und sicherheitspolitischen Fragen stark reduzieren wird angesichts der ungarischen Sympathien für Russland. Weil da können sich die anderen drei Staaten nicht damit abfinden und dass man sich viel stärker auf wirtschaftliche und kulturelle Themen fokussieren wird. Also auf die ausgewählten und benennbaren Fragen. Da sehe ich tatsächlich Bereiche, wo man sich gut abstimmen kann. Einfach deswegen, weil diese Staaten in einer Region sind und weil die Interessen ziemlich ähnlich sind. Es wird aber nicht das geben, was wir die letzten fünf Jahre wahrgenommen haben - so einen monolithischen Block. Eher eine fragile Einigkeit, eine fluide Zusammenarbeit, wo man manchmal nur zu dritt zusammenarbeiten wird. Wo beispielsweise Polen oder Ungarn nicht dabei sein werden. Wo manchmal auch externe Mitglieder herangezogen werden, etwa Österreich, weil die Interessen sich sehr stark überschneiden und diese Zusammenarbeit europäisch doch einiges bringt. Da gibt es auch ein alternatives Format - das sogenannte Austerlitz-Format -, wo Österreich, Tschechien und die Slowakei bereits zusammenarbeiten. Oder auch eine andere Kooperationsform, die sogenannten Central Five, wo man auch Slowenien mit an Bord hat.

Minilateralismus als europäisches Erfolgsmodell

Beate Winterer: Du hast jetzt Austerlitz und die Central Five schon angesprochen. In der EU vergisst man ja durch den Ruf der Visegrád-Staaten, dass eine Art Minilateralismus durchaus gewollt ist und zwischen anderen Ländern auch gut funktioniert. Welche positiven Beispiele für so eine Zusammenarbeit von kleineren Gruppen gibt es denn im Gegensatz zu den negativ besetzten Visegrád 4?

Andreas Kalina: Ich werde zuerst mich an deinen negativbesetzten Visegrád 4 aufhängen, denn das ist wirklich unsere Wahrnehmung. Aber trotzdem hat auch diese Zusammenarbeit einiges vorangebracht, vor allem bis 2015. Und dann sind wir bei den anderen Formaten, die tatsächlich auch durchaus sichtbar sind und die Europäische Einigung in einer gewissen Richtung mitsteuern. Das klassische sind die Beneluxstaaten: Belgien, Niederlande, Luxemburg, wo der Benelux-Begriff einfach in Fleisch und Blut übergelaufen ist und wo auch eine geografische Nähe, eine gewisse Gleichheit der Staatsgrößen, die strategische Ausrichtung dazu beigetragen haben - naja, wenn wir etwas verändern wollen, dann gelingt es uns eher als Dreierkoalition als ein eigenständiger Staat. Das gleiche bei neuen Mitgliedstaaten: das Baltikum. Das Baltikum ist ein geografischer Begriff, aber es ist auch ein politischer Begriff, weil die drei Staaten durchaus an einem Strang ziehen und weil sie an einem Strang ziehen, schaffen sie es, ihre Positionen in Brüssel besser zu verankern. Auch eine ganz konstruktive Zusammenarbeit, die wir vielleicht medial nicht so wahrnehmen, sind die nordischen Staaten, die auch Europapolitik mitsteuern. Die sind auch insofern interessant, weil hier auch externe Staaten mitwirken: Norwegen und Island werden hier auch miteingebunden. Da sieht man auch die äußere Dimension dieser Staaten. Dass das vielleicht auch eine Brücke zu den Visegrád-4-Staaten ist, wo man deren Verdienste gar nicht so öffentlich sieht, ist die Europäische Integration und Erweiterung Richtung Balkan, Westbalkan. Die Visegrád-Staaten sind eine Art Anwalt für die Westbalkanstaaten. Nicht nur, weil sie Fürsprecher in Brüssel sind, sondern durchaus auch Einfluss auf die Transformationsprozesse in den Balkanstaaten ausüben. Das führt mich tatsächlich dazu zwei, drei Punkte zu den Minilateralismen loszuwerden, die in meinen Augen auch weiterhin sehr sinnvoll wären und die sich gerade an dieser letztjährigen Erfahrung mit Visegrád nicht abschrecken lassen sollten. Weil eine Europäische Union von 27 und mehr Mitgliedstaaten ziemlich träge in der Entscheidung ist, wenn alle 27 gehört werden müssen, sondern es ist durchaus sinnvoll, wenn es kleinere Koalitionen gibt, die sich schon im Vorfeld auf gemeinsame Linien einigen und dass man dann wirklich in diesen Koalitionen die europäische Lösung mit herausverhandelt. Das wäre sehr sinnvoll.

Beate Winterer: Vielen Dank Andreas, dass du dir die Zeit genommen hast, um uns die Visegrád 4 näherzubringen und danke auch an alle, die uns zugehört haben!

Andreas Kalina: Vielen Dank, es hat Spaß gemacht!

Beate Winterer: In der Akademie verabschieden wir uns in die Sommerpause und sind im September mit neuen Themen für euch zurück. Andreas beschäftigt sich dann zum Beispiel mit der Erosion der Staatlichkeit, also Funktionsverlusten von demokratischen Institutionen. Ein Phänomen, das wir auch in Mittelosteuropa beobachten. Wenn ihr nicht so lange warten wollt, könnt ihr uns aber Ende August zum Filmgespräch am See besuchen. Dann kommen die Filmemacherinnen Maria Schrader und Julia von Heinz in die Akademie. Tickets gibt es kostenlos am Empfang. Wir verlinken euch die beiden Veranstaltungen natürlich wieder in den Shownotes. Ich wünsche euch einen schönen Sommer und freue mich, wenn ihr im Herbst wieder zuhört bei "Akademie fürs Ohr". Bis bald!

Andreas Kalina: Bis bald und auf Wiederhören!

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