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Die dritte Gewalt aus Sicht der Landesgerichtsbarkeit

Aufsatz von Peter Küspert zur Verfassungspolitik

Der Aufsatz "Die dritte Gewalt aus Sicht der Landesgerichtsbarkeit" des Präsidenten des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Peter Küspert wurde im 2020 im Sammelband "Die dritte Gewalt in Deutschland und Europa: Symposium zur Verfassungspolitik zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier" veröffentlicht.

Tutzing / Publikation / Online seit: 19.09.2021

Von: Peter Küspert / Foto: APB Tutzing

Ursula Münch / Gero Kellermann (Hg.)
Die dritte Gewalt in Deutschland und Europa
Symposium zur Verfassungspolitik zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier
[Eigen- und Kooperationsveröffentlichungen], Tutzing, 2020

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1. Einleitung

Vor ziemlich genau 300 Jahren erbte der 27-jährige Charles de Secondat, Baron de Montesquieu von seinem Onkel dessen Amt als Gerichtspräsident in Bordeaux. Man wird ihm nicht Unrecht tun, wenn man konstatiert, dass seine literarischen Neigungen, das Verfassen von Romanen, die Beschäftigung mit der Geschichtsphilosophie und der Verkehr in Pariser Intellektuellenzirkeln den Charakter einer (seinerzeit wohl nicht genehmigungspflichtigen) Nebentätigkeit weit überstiegen und ihn weitgehend ausgefüllt haben dürften. Zehn Jahre später verkaufte er schließlich sein ungeliebtes Richteramt und zog nach Paris. Wiederum zehn Jahre später begann er mit der Arbeit an seinem Hauptwerk De l'ésprit de loi (Vom Geist der Gesetze). Als das Buch 1748 erschien, musste es anonym veröffentlicht werden, weil seine Werke fast vollständig der Zensur unterlagen. Kaum erschienen, wurde es auch von der katholischen Kirche auf den Index Librorum Prohibitorum, das Verzeichnis verbotener Bücher gesetzt, auf dem es seinen Platz immerhin bis zum 29. März 1967 verteidigte, bis der Index nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil abgeschafft wurde.

Ein durchaus verhaltener Start für ein Werk also, das zum Schlüsseltext der Aufklärung werden sollte und die staatsphilosophischen Zentralthesen unserer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung formuliert hat, insbesondere die Forderung nach Gewaltenteilung. "Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann oder dieselbe Körperschaft der Fürsten, des Adels oder des Volkes diese drei Gewalten (im Original: pouvoirs) ausübte: Gesetze zu erlassen, sie in die Tat umzusetzen und über Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten." Und noch deutlicher, im selben Kapitel: "Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde der Richter die Macht eines Unterdrückers haben."

Wir wissen nicht, welchen Einfluss die Erfahrungen Montesquieus aus zehn Jahren wenngleich ungeliebter Gerichtspräsidentschaft - vielleicht ja auch die Beobachtung seiner Richterkollegen - auf sein Hauptwerk hatten. Immerhin folgt im selben Kapitel, in dem er die Notwendigkeit der Gewaltenteilung begründet, ein zunächst eher unscheinbarer Hinweis auf die tatsächliche Rolle der dritten Gewalt. Er schreibt dazu: "Unter den drei Gewalten, von denen wir gesprochen haben, ist die der Rechtsprechung gewissermaßen gleich Null (en quelque façon nulle)". Das ist die Schlussfolgerung aus seinem Verständnis der Rolle des Richters, der eben nur der Mund des Gesetzes sei - "la bouche qui prononce les paroles de la loi" -, und zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber verpflichtet. Ein durchaus weiter Weg also vom absoluten Verbot der Gesetzesauslegung bis zur Verpflichtung der dritten Gewalt auf Gesetz und Recht in Artikel 20 Absatz 3 GG!

1.1 Reichweite richterlicher Macht

Es liegt auf der Hand, dass gerade diese Frage nach der Reichweite richterlicher Macht, nach dem Ausmaß der Zugriffskompetenz der dritten Gewalt in die Einflusssphären anderer Staatsgewalten den Motivkern für manche der aktuellen Bestrebungen zur Eindämmung und Beschneidung einer vermeintlich übergriffigen und den wahren Willen des Volkes missachtenden Rechtsprechung bildet.

Um diese Kernfrage geht es immer wieder, und sie berührt zum einen natürlich unser Selbstverständnis als Verfassungsgerichtsbarkeit ebenso wie als Fachgerichtsbarkeit, als Bundesgerichtsbarkeit ebenso wie als Landesgerichtsbarkeit. Zum anderen und vor allem hat das Reichweitenproblem und die von ihm induzierte Gegenreaktion der anderen Staatsgewalten aber das Potenzial, Grundfragen unseres Rechtsstaats und seiner Verbürgung durch die dritte Gewalt zu berühren.

Wir als Teil dieser dritten Gewalt im deutschen Bundesstaat und in den Ländern haben nach sieben Jahrzehnten einer stabilen rechtsstaatlichen Demokratie zunächst einmal ein Wahrnehmungsproblem. Piero Calamandrei, italienischer Jurist, Professor, Schriftsteller und Politiker, hat das in ein, wie ich finde, schönes Bild gefasst. Er beginnt sein Lob der Richter mit den Worten: "Solange niemand das Recht verfälscht und seine Ausübung behindert, umgibt es uns unsichtbar und ungreifbar wie die Luft, die wir atmen: unbemerkt wie die Gesundheit, deren Wert wir erst erkennen, wenn wir sie verloren haben." - Calamandrei meint dabei die Kultur der Rechtsstaatlichkeit, die wir im Normalfall wenig zu schätzen wissen.

Die psychologische Grundbefindlichkeit angesichts staatlicher und gesellschaftlicher Kontinuitäten hat auch Stefan Zweig in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern für die Zeit in Wien vor dem Ersten Weltkrieg so beschrieben: Es war "das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. [...] Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft."

Die weitere Entwicklung hat gezeigt, wie trügerisch es sein kann, das vermeintlich Sichere und Selbstverständliche als zu sicher und zu selbstverständlich anzusehen. Stefan Zweig wähnte sich sicher aufgehoben in einem staatlichen System. Er hat sich bekanntlich getäuscht.

1.2 Gefährdungen des Rechtsstaatsgefüges

Natürlich liegt es mir fern, unpassende historische Vergleiche zu ziehen. Und dennoch: Seit einigen Jahren spüren wir in Teilen unserer europäischen Nachbarschaft ebenso wie im transatlantischen Umfeld kleinere und größere seismische Erschütterungen im jeweiligen Rechtsstaatsgefüge.

In Zeiten, in denen die Balance der Gewalten in einigen Ländern Europas und der Welt gefährdet und vor allem die dritte Gewalt erhöhtem Druck ausgesetzt sind, ist es umso wichtiger, dass wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass die vermeintlich selbstverständlichen staatspolitischen Errungenschaften moderner Staaten, wie eben die Rechtsstaatlichkeit, alles andere als selbstverständlich sind. Sie sind mühsam errungen und können unter ungünstigen Umständen auch wieder verloren gehen, wenn sich nicht engagierte Personen und Institutionen für den Erhalt einsetzen und stark machen.

Wir nehmen wahr, dass die rechtsstaatliche Ordnung selbst in vermeintlich stabilen Demokratien von Industriestaaten keineswegs ungefährdet ist und dass eine solche Entwicklung sehr rasch vor sich gehen kann: Wenn der "Kipppunkt" einmal überschritten und der Rechtsstaat ins Rutschen geraten ist, wird es außerordentlich schwierig, diesen Prozess noch zu stoppen. Vorgänge aus den letzten Jahren in der Türkei, Polen und Ungarn zeigen, wie schnell rechtsstaatliche Grundsätze unter Druck geraten und beschädigt werden können. Ich sehe mit großer Sorge Tendenzen in diesen Ländern, die Unabhängigkeit der Justiz durch individuelle aber auch strukturelle Maßnahmen zu beschneiden und damit die Statik der Gewaltenteilung maßgeblich zu beeinträchtigen. Auch Äußerungen des US-Präsidenten über die Justiz lassen befürchten, dass an der Spitze der amerikanischen Exekutive der Respekt vor der dritten Gewalt und der Gewaltenteilung nicht besonders ausgeprägt ist. Wenn der mächtigste Mann der Welt die Entscheidung des Bundesrichters James Robart zum vorläufigen Stopp des Einreiseverbots für Bürger aus bestimmten Ländern in einem Tweet als "opinion of this so-called judge", also als Meinung eines "sogenannten Richters" bezeichnet oder er das Justizsystem in den USA im Zusammenhang mit dem Umgang mit Terrorverdächtigen "Witz" und "Lachnummer" nennt, sind das Anzeichen für ein hoch problematisches Verhältnis eines Regierungschefs zur dritten Gewalt.

Es tut not, dies zu thematisieren, immer wieder. Ich freue mich deshalb sehr, dass die Akademie für Politische Bildung zu diesem Symposium eingeladen hat. Mit Hans-Jürgen Papier, dem dieses Symposium gewidmet ist, ehren wir eine Persönlichkeit, die nicht nur in ihrer früheren Tätigkeit als Richter und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch in der Zeit als Hochschullehrer davor und danach mit großer Leidenschaft für die Sache der dritten Gewalt gestritten und gegenüber aufziehenden Gefahren für den Rechtsstaat die Stimme erhoben hat. Letztlich steht und fällt ein Rechtsstaat nicht nur mit den Gesetzen und Institutionen, sondern vor allem auch mit den Menschen, die sich für seinen Erhalt einsetzen oder das eben nicht tun. Mit dem Rechtsstaat ist es wie mit der Demokratie: Beide scheitern bekanntlich nicht an ihren Feinden, sondern am Mangel an Verteidigern. Veranstaltungen wie diese, die sich mit Gegenwart und Zukunft der dritten Gewalt auseinandersetzen, kann es daher aus meiner Sicht gar nicht genug geben.

Man hat bei der Weimarer Republik manchmal von einer "Republik ohne Republikaner" gesprochen. So wenig eine Republik auf Dauer existieren und funktionieren kann, wenn es zu wenige Menschen gibt, die sich für sie engagieren, so sehr erfordert auch der Rechtsstaat, dass es Menschen gibt, die für ihn eintreten und ihn gegen offene Angriffe, aber auch gegen eine schleichende Aushöhlung verteidigen.

2. Sicht der Landesgerichtsbarkeit

"Die dritte Gewalt aus der Sicht der Landesgerichtsbarkeit" lautet mein Thema. Ich will mich angesichts des denkbar weiten Spektrums auf drei Aspekte beschränken. Zum ersten will ich mich kurz der Frage nach indigenen institutionellen oder gesellschaftlichen Risikopotenzialen für den Rechtsstaat und ihrer Abwehr durch die dritte Gewalt widmen, wobei sich die bundes- und landesjustiziellen Blickwinkel nicht wesentlich unterscheiden.

Im zweiten Abschnitt möchte ich in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit der Frage nachgehen, ob die Bayerische Landesverfassung und der Verfassungsgerichtshof heute überhaupt noch einen eigenständigen Wert haben, wenn es doch ein Grundgesetz und ein Bundesverfassungsgericht gibt. Meine Antwort auf diese Frage wird Sie vermutlich nicht überraschen.

Und drittens möchte ich - diesmal eher unter dem Blickwinkel eines bayerischen Oberlandesgerichtspräsidenten - einige Anmerkungen zu den Fachgerichten der Länder im föderalen Staat machen, und zu dem, was beachtet werden muss, will man das Vertrauen in die dritte Gewalt erhalten und stärken.

2.1 Risikopotenziale für den Rechtsstaat

Bei allem gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder publizistischen Flankenschutz für die Grundidee des Rechtsstaats: In erster Linie ist es die dritte Gewalt selbst, die den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung verteidigen muss, notfalls auch gegen mächtige Institutionen.

Der Celler Oberlandesgerichtsrat Dieter Brüggemann hat die Richter in seinem auch nach 60 Jahren noch lesenswertem Buch über Die rechtsprechende Gewalt einmal als "Gegenspieler der Macht" bezeichnet. Das sind sie - auch wenn sie in gewissem Sinn selbst Macht ausüben - jedenfalls insofern, als sie der Machtausübung der Exekutive und der Legislative Grenzen aufzeigen - in manchen Fällen sogar solche Grenzen setzen - können, und so zu einem Gleichgewicht der getrennten Gewalten im Interesse der Menschen beitragen. Aufgabe der Richter ist es, um mit Theodor Heuß zu sprechen, "den Menschen gegen den Staat, den Staat gegen den Menschen, und den Menschen gegen den Menschen zu verteidigen". Als Verfassungsrichter möchte ich noch ergänzen, dass, zum Beispiel in Organstreitverfahren, in gewissem Sinn manchmal auch "der Staat gegen den Staat" zu verteidigen ist. Die Rechtsstaatlichkeit ist kein fester, unveränderlicher, gleichsam betonierter Block. Sie ist ein ständig sich veränderndes, pulsierendes Element, das durch Gesetze, Gerichtsentscheidungen und viele andere Umstände laufend modifiziert wird. Doch in ihren elementaren Grundsätzen, insbesondere im Hinblick auf die Gewaltenteilung, zu der auch der gegenseitige Respekt der Staatsgewalten gehört, darf die Rechtsstaatlichkeit nicht angetastet werden. Man muss nicht jeden Rechtsverstoß, auch nicht einen solchen von Staatsorganen, und jede justizkritische öffentliche Äußerung sogleich zu einer Gefährdung des Rechtsstaats "aufblasen". Unser Rechtsstaat ist stark genug, das auszuhalten. Als Verfassungsgerichtsbarkeit haben wir mit den Normenkontrollverfahren und den Zuständigkeiten bei Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen ausreichend Instrumente, um legislative oder gouvernementale Akte mit Gefährdungspotenzial für rechtsstaatliche Grundsätze zu prüfen und gegebenenfalls für verfassungswidrig zu erklären, falls wir angerufen werden. Aber ein Mangel an Klägern war in den letzten 70 Jahren nie ein Problem, weder in Karlsruhe noch in München.

2.1.1 Respekt vor den Gerichten?

Gerade im Vergleich mit den Zumutungen, denen die Gerichtsbarkeit in manchen anderen Staaten ausgesetzt ist, bis hin zu existentiellen Gefährdungen der Justizangehörigen, sind die Verhältnisse bei uns nahezu vorbildlich. Doch sollten auch bei uns gerade Angehörige anderer Staatsorgane sensibel darauf achten, dass die der Justiz durch die Gewaltenteilung auferlegte Pflicht zur Wahrung, Aufrechterhaltung und gegebenenfalls Wiederherstellung des Rechts nicht schleichend unterhöhlt wird, nicht zuletzt durch öffentliche Äußerungen.

Wenn etwa ein Bundestagspräsident beklagt, dass das höchste deutsche Gericht die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers zu sehr limitiere und ankündigt, der Gesetzgeber werde sich womöglich zu wehren wissen und eine ungewollte Rechtsprechung möglichst zuverlässig zu verhindern, dann berührt das den Kernbereich verfassungsrichterlicher Tätigkeit, der eben auch umfasst, den Entscheidungsspielraum im Rahmen der Gesetzesauslegung auszuloten. Zumindest verletzen solche Äußerungen den bisher geltenden Grundsatz, wonach ein Verfassungsorgan ein anderes nicht öffentlich kritisiert.

Beispielhaft erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch die Causa "Wetzlar", unter dem Stichwort verfassungsrechtlicher Ungehorsam. Wenn sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst sieht, einen Regierungspräsidenten schriftlich zur Sicherstellung der Befolgung gerichtlicher Entscheidungen zu "ermahnen", oder der örtliche Landrat gar eine Umerziehung der Richter fordert, dann ist das ein Hinweis darauf, dass der Respekt der Exekutive vor den Gerichten und der Gewaltenteilung auch in Deutschland keineswegs immer ausreichend ausgeprägt ist.

Die Justiz insgesamt darf und sollte in meinen Augen durchaus selbstbewusst auftreten. Brüggemann hat zwar wohl Recht, wenn er anmerkt, die Justiz könne schnell zur "Last" werden. Bestenfalls werde sie "als Mittel zum Zweck von Fall zu Fall hingenommen". Rechtspflege sei "unbequem". Sie koste viel und zahle sich nicht aus. Sie mache es wenigen recht, weil jedermann von Gerechtigkeit mindestens so viel zu verstehen glaube wie der Richter, und sie verärgere den Unterlegenen stets und den Obsiegenden schon deshalb, weil er erst Zeit, Geld und Nerven habe opfern müssen, um zu dem ihm doch so selbstverständlich Zustehenden zu kommen. Doch trotz alledem hat die Justiz, und gerade die Verfassungsjustiz, nach wie vor einen guten Ruf in der Bevölkerung. Ich habe sogar den Eindruck, dass die zunehmend kritische Haltung vieler Menschen zu staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, die natürlich auch vor den Gerichten nicht Halt macht, andere Bereiche deutlich stärker trifft als die Justiz. Der berühmte Satz "Ich gehe bis nach Karlsruhe!" hat nach meiner Einschätzung wenig von seiner Kraft und von seinem darin zum Ausdruck kommenden Vertrauen in die Verfassungsgerichtsbarkeit verloren. Viele Menschen vertrauen nach wie vor der dritten Gewalt und vor allem auf die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber den anderen Staatsgewalten. Diesem Vertrauen gerecht zu werden, ist natürlich zunächst einmal Aufgabe der Justiz und ihrer Repräsentanten selbst; ich werde darauf im dritten Abschnitt noch eingehen.

2.1.2 Kritik an gerichtlichen Entscheidungen

Leider kann auch dieses Vertrauen rasch erodieren, insbesondere wenn pauschalierende Kritik an einer justiziellen Fallbehandlung politisch befeuert und medial unterstützt Kampagnencharakter annimmt. Kritik an gerichtlichen Entscheidungen ist zulässig und in manchen Fällen geboten; ein irgend geartetes Sonderrecht, das uns für Kritik unerreichbar macht, wird von uns nicht in Anspruch genommen. Wir sagen aber: Auch Kritik darf nicht grenzenlos sein. Grenzüberschreitungen drohen regelmäßig unter drei Aspekten:

  •  durch die Maßlosigkeit der Kritik: Wer aus einem Einzelfall gleich auf eine insgesamt leichtfertige oder rücksichtlose oder von unverbesserlichem Korpsgeist durchdrungene Justiz schließt oder gar einen landesweiten Justizskandal konstatiert, verlässt den Boden seriöser Kritik. Eine solche Einschätzung empört zu Recht alle Justizangehörigen, die Jahr für Jahr Zigtausende gerichtlicher Verfahren kompetent und sorgfältig bewältigen;
  •  durch das grundsätzliche Anzweifeln des Entscheidungsmonopols der Justiz: Vor allem die Diskussion in sozialen Netzwerken behandelt manche gerichtliche Entscheidung, als sei sie lediglich eine von vielen Stimmen in der öffentlichen Diskussion, eine Art Einzelmeinung, die spätestens dann unverbindlich wird, wenn sie von der Mehrheit nicht geteilt wird. Vom Empörungsgefühl der Netzgemeinde getragene Abstimmungen dürfen nicht zum Maßstab werden.
  •  durch öffentlichen Erwartungsdruck auf Richter: Vertrauen in die Justiz bedeutet immer auch Vertrauen in unbeeinflusste Entscheidungen der Gerichte. Wer als Politiker öffentlich Erwartungen zu einer bestimmten Verfahrensgestaltung des Gerichts äußert oder gar ein Eingreifen der Exekutive fordert, gefährdet dieses Vertrauen. Es ist elementar für den Rechtsstaat, dass die Unabhängigkeit der Rechtsprechung von den anderen Staatsgewalten respektiert wird.

Deswegen möchte ich ein letztes Mal Brüggemann zitieren, der 1962 feststellte, die früher erhobenen Rufe "Klassenjustiz" und "Dirne der Politik" seien nunmehr verstummt. Sollte es zutreffen, dass ein Bundestagsabgeordneter, wie es Medien Anfang des Jahres berichteten, das Bundesverfassungsgericht als "Hure Justizia" beschimpft habe, wäre dies somit ein Rückfall in überwunden geglaubte Feindbilder und würde sich einreihen in pauschale Angriffe einzelner Politiker gegen die Justiz, die zu einer Kuscheljustiz degeneriert sei und auf breiter Front versage. Solange derartige Äußerungen als politischer Exzess vereinzelt bleiben, werden sie keinen nachhaltigen Schaden anrichten. Aufmerksamkeit ist dennoch geboten.

2.1.3 Infragestellung der Legitimität von Staatsorganen

Natürlich kann ein Rechtsstaat nicht nur dadurch bedroht sein, dass eine Staatsgewalt über die andere ein Übergewicht anstrebt oder erlangt. Der demokratische Rechtsstaat gerät auch dann in Gefahr, wenn sich Bürger oder Gruppierungen vom Staat insgesamt abwenden und diesen als solchen ablehnen. Dabei geht es mir nicht nur um Politiker oder politische Parteien, die elementare Grundwerte des Rechtsstaats attackieren, sondern auch um Menschen, die sich selbst bewusst außerhalb der geltenden Rechtsordnung stellen und den Staat als solchen nicht anerkennen.

Sowohl die Fachgerichte als auch die Verfassungsgerichte haben zunehmend mit sogenannten "Reichsbürgern" oder verwandten Gesinnungsträgern zu tun, die die Legitimität der Staatsorgane und die Geltung fast aller Gesetze infrage stellen; was sie allerdings nicht daran hindert, bei staatlichen Gerichten ihr tatsächliches oder vermeintliches Recht einzufordern. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ging Ende 2017 davon aus, dass unter die Rubrik "Reichsbürger und Selbstverwalter" immerhin 16 500 Personen, davon circa 900 Rechtsextremisten zu zählen seien. Der bayerische Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2017 geht für Bayern von 3 850 Anhängern der Reichsbürgerszene aus. Die Spannbreite solcher und ähnlicher Personen, mit denen auch die Justiz zu tun hat, reicht von harmlosen Eingabeverfassern, die lediglich in eine staatstheoretische Grundsatzdiskussion eintreten wollen, bis hin zu ernsthaft bedrohlichen Straftätern, die Polizei, Gerichtsvollzieher und andere Staatsbedienstete einschüchtern wollen und sogar tätlich angreifen. Als Vertreter der Landesgerichtsbarkeit will ich darauf hinweisen, dass es gerade die Eingangsgerichte sind, die sozusagen an vorderster Front mit solchen Personen zu "kämpfen" haben und zum Beispiel in mündlichen Verhandlungen damit umgehen müssen.

Ich meine, dass der Rechtsstaat auch solchen Phänomenen kraftvoll, selbstbewusst und souverän gegenübertreten muss. Es heißt, die Demokratie tue sich schwer mit ihren Feinden, und das gilt sicher auch für den Rechtsstaat. Nicht selten versuchen "Reichsbürger" und ähnliche Personen, die Instrumente des Rechtsstaats gegen diesen selbst zu kehren, indem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren mit missbräuchlichen Anträgen blockiert, mit sachfremden Ausführungen überfrachtet und Entscheidungsträger mit Eingaben überflutet werden. Das stellt zwar eine Belastung dar; ein starker Rechtsstaat kann damit aber umgehen. In diesen Fällen gilt es, die richtige Balance zu finden zwischen der - selbstverständlich gebotenen - Einhaltung der Regeln durch die Entscheidungsträger und einem konsequenten und souveränen Abwehren von offensichtlichem Missbrauch der Möglichkeiten, die der Rechtsstaat bietet.

2.2 Bedeutung der Landesverfassung und des Verfassungsgerichtshofs

Mit Blick auf die Rolle der dritten Gewalt im föderalen Bundesstaat ist es zweifellos legitim, danach zu fragen, welchen eigenständigen Wert die Bayerische Landesverfassung und der Verfassungsgerichtshof neben dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgericht heute noch haben.

2.2.1 Besonderheiten der Bayerischen Verfassung

Die Bayerische Verfassung ist bekanntlich älter als das Grundgesetz. Die Mütter und Väter der Bayerischen Verfassung konnten demnach noch nicht wissen, ob und gegebenenfalls wie sich ein neuer deutscher Bundesstaat bilden und konstituieren würde. Dass es einen solchen geben könnte, haben die Verfassungsgeber durchaus gesehen. So heißt es in Artikel 178 der Bayerischen Verfassung: "Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten." - Doch zunächst gab es keine Bundesrepublik und kein Grundgesetz.

Angenommen wurde die Bayerische Verfassung - anders als zum Beispiel später das Grundgesetz - durch einen Volksentscheid, nämlich am 1. Dezember 1946. Sie erhielt eine Zustimmung von 70,6 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 75,7 Prozent. Mit ihrer Verkündung am 8. Dezember 1946 trat sie in Kraft. Sie ist damit neben der Verfassung des Landes Hessen die früheste der deutschen Nachkriegsverfassungen. Weil noch nicht sicher war, wie es mit Deutschland weitergehen würde, hatte die Verfassunggebende Landesversammlung einen Verfassungsentwurf erarbeitet, der die Frage nach der staatsrechtlichen Ordnung für Gesamtdeutschland letztlich aussparte. Es entstand eine Bayerische Verfassung, die den Eindruck eines nach außen geschlossenen, autonomen bayerischen Staates vermittelt. Die Bayerische Verfassung ist eine so genannte "Vollverfassung"; das heißt, sie enthält neben den Regelungen der Staatsorganisation auch Vorschriften über Staatsziele, Programmsätze sowie eine selbständige Grundrechtsordnung.

Dieses in der Verfassung gezeichnete Bild eines vollkommen autonomen Freistaates Bayern ist zwar wegen ihrer Entstehung vor dem Grundgesetz historisch folgerichtig, entsprach allerdings nie der Verfassungswirklichkeit. Zunächst war es das Besatzungsrecht, das allen bayerischen Rechtsnormen und so auch der Verfassung vorging. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 wurde die Verfassung des Bundes auch zum verbindlichen Rahmen für das bayerische Staatswesen im föderalen Bundesstaat. Heute ergeben sich zusätzliche Einflüsse und Beschränkungen vor allem aus der Überlagerung der Bayerischen Verfassung durch das europäische Gemeinschaftsrecht, an dessen Vorgaben der Freistaat Bayern als Land der Bundesrepublik Deutschland gebunden ist.

In Anbetracht dieses Befundes lässt sich natürlich erst recht fragen, welche Bedeutung der Bayerischen Verfassung heute noch zukommt, und ob sie es wert ist, von einem Landesverfassungsgericht behütet zu werden. Ich denke aber, dass es dafür gute Gründe gibt. Die gezeigten Überlagerungen und Beschränkungen haben nämlich nicht zu einem prinzipiellen Bedeutungsverlust der Bayerischen Verfassung geführt, wie ich an Hand zentraler Verfassungsaufgaben kurz zeigen möchte.

2.2.2 Die Bayerische Verfassung vor dem Hintergrund der tragenden Staatsprinzipien

An erster Stelle dient eine Verfassung dazu, ein politisches Gemeinwesen überhaupt zur Entstehung zu bringen.

2.2.2.1 Bundesstaatsprinzip

Eines der tragenden Strukturprinzipien des Grundgesetzes ist das Bundesstaatsprinzip. Im Bundesstaat wird die Staatsgewalt nicht von einer einzigen Organisation wahrgenommen, sondern ist auf den Bund als Zentralstaat und die Länder als Gliedstaaten verteilt. Das - wie es das Bundesverfassungsgericht einmal ausgedrückt hat - "Eigentümliche" am föderalen Bundesstaat ist, dass sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen. Bei Bayern und Sachsen kommt das unter anderem im Namen zum Ausdruck. Sie bezeichnen sich als "Freistaaten". Nur am Rande möchte ich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass wir im Jahr 2018 nicht nur das 200-jährige Jubiläum der Bayerischen Verfassung von 1818 feiern, sondern auch das 100-jährige Jubiläum der Ausrufung des Freistaates Bayern.

Besonderer Ausdruck der Staatsqualität der Bundesländer ist eben deren Verfassungshoheit. Einen Staat ohne Verfassung kann es nicht geben. Jeder dauernde Verband bedarf einer Ordnung, nach der sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt, die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt wird. Die politische Handlungseinheit, die wir "Staat" nennen, wird durch ihre Verfassung definiert. Die Bayerische Verfassung ist damit Beleg und unverzichtbare Grundlage der originären Staatsgewalt Bayerns.

2.2.2.2 Staatsorganisation

Eine weitere wesentliche Funktion der Verfassung ist die Organisation des Staatswesens. Die Verfassung schafft die staatlichen Organe oder legt das Verfahren ihrer Bildung fest. Sie weist Zuständigkeiten zu und ordnet das Verfahren, in dem die staatlichen Funktionen auszuüben sind.

Die Verfassungsräume des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung stehen hierbei nicht isoliert nebeneinander. Das Grundgesetz setzt die Verfassungsautonomie der Länder einerseits voraus, begrenzt diese andererseits aber auch. Nach dem Homogenitätsgebot des Artikels 28 Absatz 1 des Grundgesetzes müssen die Länder ihre verfassungsmäßige Ordnung an den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats im Sinn des Grundgesetzes ausrichten. Viele verfassungsrechtliche Fragen können sich daher im Bund und in den Ländern in gleicher oder ähnlicher Weise stellen. "Homogenität" bedeutet aber nicht "Uniformität". Den Ländern bleibt ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der gerade in der Bayerischen Verfassung an vielen Stellen seinen Ausdruck gefunden hat.

2.2.2.3 Plebiszitäre Elemente

Die wohl hervorstechendste Ausprägung der Landesverfassungsautonomie sind die plebiszitären Elemente der Bayerischen Verfassung. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes ist strikt repräsentativ ausgestaltet, sieht also - abgesehen von Abstimmungen bei einer Neugliederung des Bundesgebiets - keine unmittelbare Beteiligung des Volkes an der politischen Willensbildung im Bund vor. Die Bayerische Verfassung begegnet - auf Landesebene - der unmittelbaren Demokratie dagegen mit weniger Misstrauen, sie bringt ihr vielmehr eine hohe Wertschätzung entgegen. So stellt sie die Parlamentsgesetzgebung und die Volksgesetzgebung gleichwertig nebeneinander: "Die Gesetze werden", so heißt es in Artikel 72 Absatz 1, "vom Landtag oder vom Volk (Volksentscheid) beschlossen". So beschäftigt sich der Verfassungsgerichtshof aktuell beispielsweise mit dem Volksbegehren "Damit Bayern Heimat bleibt - Betonflut eindämmen".

2.2.2.4 Grundrechte

Die Bedeutung der Bayerischen Verfassung zeigt sich schließlich in der rechtlichen Leitfunktion ihrer Grundrechte und ihrer objektiven Rechtssätze. Was die Grundrechte der Bayerischen Verfassung anbelangt, kann man sich fragen, ob sie neben dem Grundgesetz überhaupt noch Geltung beanspruchen können. Immerhin binden die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte auch die bayerische Staatsgewalt. Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist Artikel 142 des Grundgesetzes. Danach bleiben die Bestimmungen der Landesverfassungen - ungeachtet des Grundsatzes "Bundesrecht bricht Landesrecht" - bestehen, soweit sie in Überstimmung mit dem Grundgesetz Grundrechte gewährleisten. Diese Regelung ist so zu verstehen, dass die Landesgrundrechte auch einen weitergehenden oder geringeren Schutz als das Grundgesetz gewährleisten können; sie dürfen nur nicht in Widerspruch zu den Bundesgrundrechten treten. Da es derartige Widersprüche zwischen bayerischem Verfassungsrecht und dem Grundgesetz nicht gibt, gelten die Grundrechte der Bayerischen Verfassung fort. Das führt unter anderem dazu, dass ein Bürger wegen desselben Sachverhalts Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben kann - dieses prüft den Fall dann anhand der Grundrechte des Grundgesetzes - und daneben auch zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof - dieser prüft dann anhand der Grundrechte der Bayerischen Verfassung.

Allerdings sind nicht alle Grundrechte in beiden Verfassungen identisch oder ähnlich geregelt. An dieser Stelle möchte ich beispielhaft auf den berühmten Artikel 141 Absatz 3 Satz 1 der Bayerischen Verfassung hinweisen, der im Grundgesetz keine explizite Entsprechung hat. Danach ist der Genuss der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wildwachsender Waldfrüchte in ortsüblichem Umfang jedermann gestattet. Im Volksmund wird die Regelung gerne als "Schwammerlparagraf" oder als "Beerensammlergrundrecht" bezeichnet.

Viele Grundrechte der Bayerischen Verfassung sind allerdings gleich oder ähnlich wie jene des Grundgesetzes geregelt. Man wir daher insgesamt feststellen können, dass Primärmaßstab deutscher Grundrechtlichkeit das Grundgesetz ist. Wenn es um eine mögliche Verletzung bayerischer Grundrechte geht, ist zudem zu berücksichtigen, dass das bayerische Verfassungsrecht, wie erwähnt, teilweise überlagert wird vom Bundes- und Europarecht. Das hat zwangsläufig Einschränkungen des Wirkungsbereichs der bayerischen Grundrechte zur Folge. Vorschriften des Bundesrechts und das europäische Gemeinschaftsrecht stehen in der Normenhierarchie über der Bayerischen Verfassung und können deshalb nicht am Maßstab bayerischer Grundrechte gemessen werden.

Festzuhalten bleibt, dass jedenfalls für alle Normen des bayerischen Landesrechts die Bayerische Verfassung einschließlich ihrer Grundrechte wesentlicher Maßstab ist. Diese Bedeutung der Bayerischen Verfassung ist auch deswegen hervorzuheben, weil durch die Föderalismusreform die Gesetzgebungskompetenzen der Länder im Jahr 2006 nicht unerheblich erweitert wurden, etwa um den Strafvollzug, das Versammlungsrecht und große Teile des Beamtenrechts. Die in den hinzugekommenen Materien erlassene Landesgesetzgebung muss sich damit - anders als ihre bundesrechtlichen Vorläufer - an der Bayerischen Verfassung messen lassen.

2.2.3 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof

Die eigenständige Bedeutung der Bayerischen Verfassung führt auch zur Bedeutung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Wilhelm Hoegner, der später als (ein) "Vater der Bayerischen Verfassung" in die Geschichte eingehen sollte, schildert in seinem Buch "Flucht vor Hitler", wie einige nationalsozialistische Abgeordnete die parlamentarische Arbeit in einem Reichstagsausschuss 1933 durch akustische Störungen und körperliche Gewalt unmöglich machten. Da der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik weder für die Klärung von Verfassungsstreitigkeiten auf Reichsebene noch für Verfassungsbeschwerden zuständig war, gab es für die nichtnationalsozialistischen Abgeordneten nur zwei Stellen, an die sich wenden konnten, um ihre parlamentarischen Rechte durchzusetzen. Also wandten sie sich an den Reichstagspräsidenten Hermann Göring und den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg - in beiden Fällen natürlich vergeblich. Hoegners Schilderung schließt mit dem resignierten Satz: "So wenig gilt das Recht gegenüber der Macht".

Dieses Beispiel zeigt: Wo immer in einem Staat eine Rechtsordnung existiert - zum Beispiel eine Verfassung -, braucht es jemanden, der diese Rechtsordnung effektiv schützt. Deshalb ist es aus meiner Sicht unabdingbar, dass ein Land mit einer eigenen Verfassung auch ein Verfassungsgericht mit maßgeblichen Kompetenzen hat. Man könnte auch sagen: Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit ist Strukturelement der Eigenstaatlichkeit der Länder. Verfassungshoheit als Zentrum der Eigenstaatlichkeit muss in ihren Inhalten und Bezügen nach innen und außen bewahrt und geschützt werden. Dafür bedarf es des Landesverfassungsgerichts als eines obersten Staatsorgans, das originär und abschließend konstitutionelle Grenzziehungen vornimmt, im Übrigen auch im Vergleich zu den anderen Staatsorganen als Institution einer überparteilich organisierten Staatlichkeit.

2.2.3.1 Eigenständige des Landesverfassungsgerichts und Eigenstaatlichkeit des Landes

Die Notwendigkeit einer eigenen Landesverfassungsgerichtsbarkeit lässt sich im Übrigen bereits aus dem Homogenitätsgebot des Artikels 28 GG ableiten, der auch in den Ländern jedenfalls ein Minimum an Gewaltenteilung mit einer jeweiligen institutionellen Spitze fordert. Anders als bei den Fachgerichten der Länder, bei denen gemäß Artikel 95 GG in der gerichtsverfassungsrechtlichen Hierarchie jeweils ein Bundesgericht an der Spitze steht, kann bei der Landesverfassungsgerichtsbarkeit nur ein eigenständiges Verfassungsgericht diese institutionelle Spitze bilden.

Indem Bürger in Bayern die Möglichkeit haben, sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde nicht nur an das Bundesverfassungsgericht zu wenden, sondern auch - und in Bayern sogar parallel - an den Verfassungsgerichtshof, wird auch der Gleichklang zwischen der materiellen und der prozessualen Gewährleistung der Landesgrundrechte hergestellt. Zudem stärkt dies nach meiner Einschätzung das Bewusstsein der Bürger von der Eigenstaatlichkeit des Landes und entspricht den grundsätzlich getrennten Verfassungsräumen von Bund und Land. Die wahrgenommene Bedeutung einer Landesverfassung und eines Verfassungsgerichts ist sicher deutlich höher, wenn der Bürger eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte auch im Einzelfall bei "seinem" Verfassungsgericht rügen kann, gerade bei solchen Fragestellungen, die besondere örtliche, regionale oder landesspezifische Bedeutung haben.

Wenn der Verfassungsgerichtshof sich beispielsweise wie im Jahr 2018 - mittelbar - mit einem Planfeststellungsbeschluss über eine Umgehungsstraße, mit der Errichtung und dem Betrieb von Windkraftanlagen oder mit der Zweckentfremdung von Wohnraum durch sogenannten "Medizintourismus" beschäftigt, mag es die Akzeptanz einer Entscheidung durchaus erhöhen, wenn der Beschwerdeführer weiß, dass die Richter, die seinen Fall entscheiden, in dem Bundesland sitzen, in dem sich die Straße, die Windkraftanlage oder die Wohnungen befinden. Bei Popularklagen, zum Beispiel gegen Landschaftsschutzverordnungen oder Bebauungspläne, gilt das nicht minder.

2.2.3.2 Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht

So, wie es nach meiner Auffassung ein großer Vorteil ist, wenn Fachgerichte in der Fläche präsent sind, ist es auch ein Vorteil, wenn die Landesverfassungen durch Institutionen in den Ländern, nämlich die Landesverfassungsgerichte, geschützt und repräsentiert werden. Und ich halte es für wünschenswert, dass die Landesverfassungsgerichte nicht nur bei Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen oder bei gerichtlich veranlassten Normenkontrollen tätig werden können, sondern dass sie auch von den Bürgern selbst mit der Verfassungsbeschwerde angerufen werden können. Das ist zwar in vielen Bundesländern der Fall, aber durchaus nicht in allen. In Nordrhein-Westfalen wurde erst nach der letzten Landtagswahl die Einführung der bisher dort nicht vorgesehenen Verfassungsbeschwerde zum Landesverfassungsgericht ausdrücklich im Koalitionsvertrag vereinbart. Sachsen-Anhalt ist gerade dabei, die Verfassungsbeschwerde, die bisher nur gegen Normen statthaft ist, auch gegen Behörden- und Gerichtsentscheidungen zu ermöglichen.

2.2.3.3 Popularklage

In Bayern ist schon in der Verfassung von 1946 vorgesehen, dass ein Bürger sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen solche Entscheidungen wenden kann. Daneben gibt es das Instrument der Popularklage, das in seiner konkreten Ausgestaltung einmalig in der Bundesrepublik ist. Mit dieser Klage kann jedermann die Verfassungswidrigkeit einer Norm des bayerischen Landesrechts geltend machen. Er muss weder von der Norm selbst betroffen sein noch muss er in Bayern wohnen. So kann sich theoretisch ein Bürger aus Berlin gegen einen Bebauungsplan in Garmisch-Partenkirchen wenden. Es ist daher aus meiner Sicht keine Übertreibung, wenn man den Bayerischen Verfassungsgerichtshof als echtes "Bürgergericht" bezeichnet. Den Vertrauensvorschuss, den die Väter und Mütter der Bayerischen Verfassung den Bürgerinnen und Bürgern hier entgegengebracht haben, haben diese bisher gerechtfertigt. Von dem Instrument der Popularklage wird zwar durchaus rege, aber keineswegs ausufernd Gebrauch gemacht. Im Durchschnitt gehen beim Verfassungsgerichtshof seit 1947 circa 110 Verfassungsbeschwerden und circa 20 Popularklagen pro Jahr ein.

Hans-Jochen Vogel, der im Übrigen von 1994 bis 2013 Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs war, hat einmal darauf hingewiesen, Sinn und Wesen des Bundesstaatsprinzips lägen "in der Bewahrung regionaler - und wo immer vorhanden: historisch geprägter - Vielfalt, in den stärkeren Entfaltungsmöglichkeiten von Pluralität im überschaubaren Rahmen, in dem Vorhandensein breiterer Möglichkeiten eines Engagements für das Gemeinwohl - kurzum in der Dezentralisierung". Der Bundesstaat verbreitert die Gewaltenteilung, indem die Trennung in Legislative, Exekutive und Rechtsprechung durch eine vertikale Gewaltenbalance zwischen Bund und Ländern ergänzt wird.

2.2.3.4 Staatsgerichtliche Verfahren

Ein weiteres mögliches Anwendungsfeld einer eigenstaatlichen Profilierung ist neben dem Verfassungsprozessrecht vor allem das Gebiet der staatsgerichtlichen Verfahren, insbesondere der Organstreitigkeiten oder der Wahlprüfungsverfahren. Dort ist die Herausbildung und Fortentwicklung einer eigenständigen und bereichsspezifischen Dogmatik, der von Artikel 28 GG weiter Raum gelassen wird, ohne Weiteres möglich und wird auch vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung praktiziert.

2.3 Föderalismus und Landesgerichte

Nachdem ich bisher vor allem für die Landesverfassungsgerichtsbarkeit gesprochen habe, will ich den dritten und letzten Abschnitt der Fachgerichtsbarkeit der Länder und hier vorrangig der ordentlichen Gerichtsbarkeit widmen und dabei der Frage nachgehen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat auf Dauer zu sichern und zu fördern.

2.3.1 Rechtsschutzgewährung durch die Länder

Zwar ist der allgemeine Justizgewährungsanspruch - also insbesondere das Recht auf Zugang zu den Gerichten, eine grundsätzlich umfassende Prüfung des Streitgegenstands in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in einem förmlichen Verfahren sowie eine verbindliche Entscheidung durch ein Gericht in angemessener Zeit - auf Ebene des Grundgesetzes, also schon auf der Bundesebene garantiert. Tatsächlich gewähren diesen Rechtsschutz aber weitestgehend die Länder, welche für die unteren und mittleren Fachgerichte zuständig sind, wie beispielsweise für die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte oder die Verwaltungsgerichte und den Verwaltungsgerichtshof. Die Fachgerichte der Länder werden deshalb gelegentlich - sehr zu Recht - als "Rückgrat der deutschen Rechtsprechung" bezeichnet.

Kehrseite dieser Präsenz ist es, dass vermeintliche oder tatsächliche Defizite der Justizgewährung durch die Eingangsgerichte sofort registriert werden und sich unmittelbar auswirken. Wenn etwa die Eintragungsdauer von Sicherungsgrundschulden durch Krankheitsfälle im Personalstamm des Grundbuchamts steigt, dann wird das örtliche Notariat oder die Kreditwirtschaft schon nach kurzer Zeit beim Gerichtspräsidenten vorstellig. Steigende Verfahrenslaufzeiten beim Revisions- oder Rechtsbeschwerdegericht werden hingegen, wenn überhaupt, erst mit längerem Vorlauf zur Remonstration führen. Die Vermeidung von Defiziten in örtlicher, zeitlicher und fachlicher Hinsicht ist daher die vorrangige Aufgabe der für die Fachgerichtsbarkeit in den Ländern Verantwortlichen, will man nicht einen Vertrauensverlust in die staatliche Gerichtsbarkeit mit unabsehbaren Folgen für den demokratischen Rechtsstaat insgesamt riskieren. Einige notwendige Aspekte bei der Vermeidung solcher Defizite will ich im Folgenden erörtern.

2.3.1.1 Entscheidungen vor Ort

In den letzten Jahren ist zunehmend zu beobachten, dass sich Menschen durch die Europäisierung und die Globalisierung verunsichert und teilweise abgehängt fühlen. Der Eindruck, dass maßgebliche politische Entscheidungen im fernen Brüssel oder anderswo in der Welt getroffen werden, führt zu einer abnehmenden Akzeptanz und zum Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Institutionen werden teilweise eher als kafkaeske, anonyme Bedrohung wahrgenommen, denn als Ansammlung von menschlichen Entscheidungsträgern. Werden Entscheidungen dagegen vor Ort getroffen, von Menschen, die man kennt oder zumindest kennen kann, ist diese Gefahr deutlich geringer.

Das Vorhandensein eines Gerichts "vor Ort" kann die Chance beträchtlich erhöhen, dass die Beteiligten eine Entscheidung akzeptieren, weil die Richter eher mit den örtlichen oder regionalen Besonderheiten vertraut sind. Selbst vermeintlich Nebensächliches, wie der Umstand, dass der Richter die "Sprache" der Beteiligten spricht, kann in manchen Verfahren Wunder wirken. Ein Amtsrichter des Heimatgerichts, der mit den Parteien vielleicht auch noch im örtlichen Dialekt ein Vergleichsgespräch führt, wird in vielen Fällen eher eine befriedende und befriedigende Lösung erreichen können, als es ein Richter könnte, der zwar juristisch glänzt, von den Parteien aber als bloßer Funktionsträger wahrgenommen wird. Dazu kommt, dass auch der Weg der Beteiligten zu etwaigen Terminen mit persönlicher Anwesenheit durch eine Präsenz in der Fläche erträglich gehalten werden kann.

Das bayerische Justizministerium weist häufig darauf hin, die Justiz sei "für die Menschen da". Nach meinem Dafürhalten beinhaltet das auch, dass die äußeren Rahmenbedingungen der Rechtsgewährung bürgerfreundlich ausgestaltet sind, insbesondere in Angelegenheiten der rechtlichen Daseinsvorsorge. Hohe Bedeutung für den Rechtsfrieden und die Rechtskultur einer Gesellschaft hat schließlich ein flächendeckendes und wohnortnahes Angebot von Rechtsantragstellen bei jedem Amtsgericht in der Fläche. Die Justiz vor Ort ist schließlich über das Primärrecht hinaus immer auch für den vorläufigen Rechtsschutz sowie für Vollstreckungs- und Vollstreckungsschutzangelegenheiten singulär zuständig. Modern ausgedrückt ist die örtliche staatliche Justiz eine One-Stop-Agency. Bayern als größtes Flächenland in Deutschland ist immer bemüht, die Präsenz der Justiz auch in der Fläche zu bewahren. So gibt es allein in der ordentlichen Gerichtsbarkeit drei Oberlandesgerichte, 22 Landgerichte und 73 Amtsgerichte. Dazu kommen 22 Staatsanwaltschaften.

2.3.1.2 Gesetzgebungen im Föderalismus

Eine Schlüsselrolle für die Akzeptanz der dritten Gewalt hat naturgemäß der Gesetzgeber. Aus der Vielzahl der damit verbundenen Fragen will ich nur einen Aspekt beispielhaft herausgreifen: Dass es die Länder sind, die den Justizgewährungsanspruch in weiten Teilen zu erfüllen haben, führt zu einer manchmal etwas unbefriedigenden, wenn auch im Föderalismus nicht untypischen Situation. Der Bund erlässt aufgrund seiner Gesetzgebungskompetenz Gesetze, welche zu einer erheblichen Mehrbelastung der Fachgerichte der Länder führen können. So liegt es auf der Hand, dass zum Beispiel neue Straftatbestände, aber auch neue, sehr konfliktträchtige Regelungen im Zivilrecht oder anderen Rechtsbereichen zu einer erheblichen Mehrbelastung der Gerichte der Länder führen können.

Noch augenfälliger ist es, wenn man sich die Gerichtsverfassungen und Verfahrensordnungen ansieht. Der Bund kann - natürlich immer in den Grenzen der Verfassung - sowohl den Instanzenzug als auch die Ausgestaltung des jeweiligen Gerichtsverfahrens regeln. Gemäß Artikel 74 Absatz 1 Nr. 1 GG erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebung unter anderem auf das bürgerliche Recht, das Strafrecht, die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren. Regelungen sind in der Regel ohne Zustimmung des Bundesrates möglich, sodass die Länder zwar mögliche Bedenken einbringen können. Der Bund muss diesen aber nicht Folge leisten.

In der Bayerischen Verfassung findet sich das sogenannte "Konnexitätsprinzip". In Artikel 83 Absatz 3 BV heißt es unter anderem: "Überträgt der Staat den Gemeinden Aufgaben [...] oder stellt er besondere Anforderungen an die Erfüllung bestehender oder neuer Aufgaben, hat er gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen. Führt die Wahrnehmung dieser Aufgaben zu einer Mehrbelastung der Gemeinden, ist ein entsprechender finanzieller Ausgleich zu schaffen." Dahinter steckt der Gedanke, dass derjenige, der Mehraufwand verursacht - hier das Land - auch dafür verantwortlich ist, sich über die Finanzierung Gedanken zu machen.

Nun möchte ich keinesfalls eine solche zwingende Konnexität zwischen Gesetzesregelungen des Bundes und der Finanzierung von Fachgerichten der Länder herstellen. Ich würde mir allerdings wünschen, dass der Bundesgesetzgeber öfter und in stärkerem Maß dem Umstand Rechnung trägt, dass es zumindest teilweise die Länder sind, die die Zeche zu bezahlen haben, wenn materielle oder Verfahrensregelungen zu Mehraufwand bei den Fachgerichten führen.

2.3.2 Ausstattung der Justiz

Auf einen weiteren wichtigen Aspekt, der die Landesgerichtsbarkeit regelmäßig stark beschäftigt, möchte ich noch kurz eingehen, auch deshalb, weil er sogar die eingangs erörterte Rechtsstaatlichkeit berühren kann.

Wenn die Justiz ihre rechtsstaatlichen Aufgaben sachgerecht erfüllen soll, muss sie auch entsprechend ausgestattet sein. So, wie der Bundesgesetzgeber die Belastung der Länderjustiz im Auge haben sollte, sollten auch die Haushälter in den Ländern die zur Erfüllung der Aufgaben notwendigen Mittel gewährleisten. Gelegentlich kann man hier ein "Schwarzer-Peter-Spiel" zwischen Bundesgesetzgeber und Länderfinanzministern beobachten, das der am Ende betroffenen Justiz wenig hilft.

Im Hinblick auf die Ausstattung der Gerichte hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2005 Folgendes ausgeführt: "Das Rechtsstaatsprinzip [...] umfasst eine Justizgewährungspflicht. Der Staat ist verfassungsrechtlich verpflichtet, für eine funktionsfähige Rechtspflege zu sorgen. Er hat die Gerichte einzurichten und ordnungsgemäß zu besetzen, die nach den einschlägigen Gesetzen vorgeschrieben sind. Der Staat muss dafür sorgen, dass Gerichte zur Verfügung stehen, die in richterlicher Unabhängigkeit alle auf sie zukommenden Aufgaben in der richtigen Besetzung und mit der gebotenen Sorgfalt bewältigen können. Dazu gehört die erforderliche Ausstattung mit personellen und sächlichen Mitteln".

Demnach kann die Unterversorgung der Gerichte mit "personellen und sächlichen Mitteln", wenn sie ein bestimmtes Maß erreicht, gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Wenn "Politik" und Bürger in Deutschland stolz sagen wollen, dass wir einen Rechtsstaat haben, dann dürfen sie nicht vergessen, dass ein Rechtsstaat seinen Preis hat und Geld kostet. Dabei geht es nicht nur darum, dass die Gerichte überhaupt entscheiden können, sondern auch darum, dass sie dies in überschaubarer Zeit tun können. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, das Rechtsstaatsprinzip fordere "im Interesse der Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden".

Die Verfassungsgerichte weisen regelmäßig darauf hin, dass der verfassungsrechtliche Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer grundsätzlich nicht von der faktischen Ausstattung der Gerichte abhängig gemacht werden dürfe und dass die Überlastung eines Gerichts in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft falle. So darf zum Beispiel einem Beschuldigten nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Zeit in Untersuchungshaft zu sitzen, weil der Staat es versäumt hat, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen.

Wenn man die Arbeitsbelastung und die angemessene Ausstattung der Gerichte in den Blick nimmt, gibt es viele Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Natürlich geht es darum, innerhalb der Gerichtsbarkeiten und auch innerhalb der einzelnen Gerichte die Arbeitsbelastung vernünftig zu verteilen.

Es geht aber auch darum, dass den Gerichten ausreichend Personal und die notwendigen Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt werden, nicht nur im richterlichen, sondern auch im nachgeordneten Bereich. Der Deutsche Richterbund hat darauf hingewiesen, dass nach der Personalbedarfsberechnung Ende 2017 bundesweit rund 2 000 Richter und Staatsanwälte fehlten. Ich begrüße ausdrücklich, dass im Koalitionsvertrag von Union und SPD auf Bundesebene im Rahmen eines "Paktes für den Rechtsstaat" auch 2 000 neue Richterstellen bei den Gerichten der Länder und des Bundes sowie "entsprechendes Folgepersonal" vorgesehen sind. Solche politischen Absichtserklärungen sind auch ohne jeden Zweifel zulässig; sie müssen allerdings verfassungskonform umgesetzt werden.

Doch braucht die Justiz nicht nur ausreichend Personal. Sie braucht auch hochqualifiziertes Personal. Über den Physiker Max Planck wird manchmal gesagt, er habe zwei große Entdeckungen gemacht. Das "Quantum der Wirkung" und - Albert Einstein. So sollten auch wir Juristen nicht nur die juristische Arbeit ernst nehmen, sondern zusätzlich den talentierten Nachwuchs im Blick haben. Examensabsolventen mit guten Noten haben in der Regel die Wahl zwischen vielen attraktiven Stellen. Ich meine, dass es - auch jenseits finanzieller Fragen - viele gute Gründe gibt, sich für eine Laufbahn in der Justiz zu entscheiden. Nach vielen Jahren als Richter und als Teil der Justizverwaltung halte ich die Tätigkeit als Richter nach wie vor für einen der spannendsten, verantwortungsvollsten und befriedigendsten Berufe. Es ist aber eine Daueraufgabe, darauf zu achten, dass auch die finanziellen Rahmenbedingungen für Richterinnen und Richter, insbesondere das Gehalt und die Aufstiegsmöglichkeiten, im Vergleich zu anderen beruflichen Alternativen nicht so weit zurückbleiben, dass wir nicht mehr den kompetenten und talentierten Nachwuchs für die Justiz rekrutieren können, den wir brauchen. Das gilt selbstverständlich auch für alle anderen in der Justiz vertretenen Berufsgruppen. Die Situation in Bayern hat sich - in Bezug auf die personelle Ausstattung ebenso wie im Hinblick auf die Besoldung - in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bundesweit gesehen scheint dies jedoch eher die Ausnahme zu sein.

2.3.3 Selbstverwaltung der Justiz

Abschließend möchte ich noch kurz auf das Thema Selbstverwaltung der Justiz eingehen, aus zwei Gründen. Zum einen, weil Hans-Jürgen Papier sich in der Vergangenheit zu diesem Thema und den verfassungsrechtlichen Begrenzungen immer wieder mit großer Klarheit geäußert hat. Zum anderen, weil es immer wieder Stimmen gibt, die die dritte Gewalt als Beute der Exekutive sehen und in der Einführung einer vollständigen Autonomie der Justiz das Allheilmittel zur Lösung aller Probleme der Gerichtsbarkeit sehen. Überzeugend ist die Forderung und ihre Begründung aus meiner Sicht nicht.

Hans-Jürgen Papier hat unter anderem als Festredner bei der 100-Jahr-Feier des Bayerischen Richtervereins schlüssig dargelegt, dass Grundgesetz und Bayerische Verfassung zwar die Unabhängigkeit der Richter, nicht aber die der Justiz im Ganzen garantieren. Im Hinblick auf das grundgesetzliche Leitbild einer Gewaltenverschränkung und -beschränkung ist nicht die Ausübung der Justizverwaltung durch die dafür originär zuständige Exekutive, sondern vielmehr die Übernahme dieser Verwaltung durch die dritte Gewalt selbst verfassungsrechtlich legitimierungsbedürftig. Bei etwaigen Verfassungsänderungen müsste jedenfalls das auf dem Demokratieprinzip fußende Gebot der demokratischen Legitimation aller staatlich-hoheitlichen Tätigkeit beachtet werden.

Über die verfassungsrechtlichen Bedenken hinaus bietet die deutsche Justizpraxis keinerlei Anlass für einen Systemwechsel. Bereits jetzt besteht eine in vielfacher Hinsicht selbstverwaltete Justiz, in Bezug auf die Verteilung der Rechtspflegeaufgaben, die Praxis der Beurteilungen, Personalentwicklung und Beförderungsauswahl, die Verteilung der Sachmittel, die Disziplinarangelegenheiten oder die in weiten Teilen von der Praxis betriebene konzeptionelle Weiterentwicklung der Justiz.

Gegen einen Bedarf für einen Systemwechsel spricht schließlich, dass die deutsche Justiz weltweit hohes Ansehen genießt und im internationalen Vergleich der Qualität von Justizsystemen regelmäßig vordere Plätze belegt, während sich aus einer Reihe von Berichten ergibt, dass in Ländern mit Selbstverwaltungssystemen strukturelle Defizite in Bezug auf die Tätigkeit der Selbstverwaltungsgremien zu beobachten sind. Letztlich und justizpolitisch gilt auch in diesem Bereich das Prinzip der kommunizierenden Röhren: Solange sich die Rechtspflege durch eine der Exekutive zuzurechnende Justizverwaltung bei der Bereitstellung der personellen und sächlichen Mittel fair behandelt fühlt, wird der zur Zeit eher verhaltene Ruf nach Selbstverwaltung nicht an Lautstärke zunehmen. Bei Bedarf wird sich die dritte Gewalt jedoch Gehör zu verschaffen wissen.

3. Schlusswort

Ich komme zurück auf meine einleitenden Gedanken. Die Rechtsstaatlichkeit ist ein hohes Gut. Sie ist aber auch ein gefährdetes Gut. Wir können in Deutschland und Bayern stolz darauf sein, dass wir starke Verfassungen haben, starke Institutionen, die diese schützen, kompetente Fachgerichte und im Wesentlichen eine positive Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Verfassungs- und Rechtsstaat. Doch dürfen wir uns auf diesem Stolz nicht ausruhen. Jeder - insbesondere Politiker, Justizverwaltungen, Richterinnen und Richter, aber auch die Bürgerinnen und Bürger - sollte aufmerksam darauf achten, dass der Rechtsstaat und die Gewaltenteilung nicht beschädigt werden. Dann bin ich guten Mutes, dass wir auch in Zukunft stolz auf unsere dritte Gewalt sein können.

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