Schutz der Menschenrechte
Aufsatz von Angelika Nußberger zur Verfassungspolitik
Der Aufsatz "Schutz der Menschenrechte" von der früheren Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Angelika Nußberger, wurde im 2020 im Sammelband "Die dritte Gewalt in Deutschland und Europa: Symposium zur Verfassungspolitik zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier" veröffentlicht.
Tutzing / Publikation / Online seit: 26.08.2021
Von: Angelika Nußberger / Foto: APB Tutzing
Ursula Münch / Gero Kellermann (Hg.)
Die dritte Gewalt in Deutschland und Europa
Symposium zur Verfassungspolitik zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Papier
[Eigen- und Kooperationsveröffentlichungen], Tutzing, 2020
1. Der Blick zurück
Welche literarische Gattung mag man wählen, um die Geschichte der Rechtsprechung zu Menschenrechten zu erzählen?
1.1 Chronik
Es müsse eine Chronik geschrieben werden, könnte man sagen. In einer Chronik strukturiert die Zeit das Geschehen. Ohne Passion gilt es zu dokumentieren, was geschah: Die 1940er-Jahre mit dem Zivilisationszusammenbruch und dem Neubeginn zunächst auf internationaler Ebene mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, sodann auch auf nationaler und europäischer Ebene mit dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die 1950er-Jahre mit dem - leicht zeitversetzten - Neuanfang der Rechtsprechung in Karlsruhe und Straßburg, die 1960er-Jahre mit dem Abschluss der Arbeit an den beiden universellen Pakten, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die 1970er-Jahre mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und damit erstmals einer West-Ost-Klammer im Bereich der Menschenrechte, die 1980er-Jahre mit dem Mut, für Europa ein Protokoll aufzulegen, mit dem die Todesstrafe geächtet wird, die 1990er-Jahre - endlich - mit einem Aufbruch zu gesamteuropäischen Werten, einem Aufbruch, der die ehemals diesseits und jenseits des eisernen Vorhangs gelegenen Länder umfasst, die 2000er-Jahre mit einer Auffächerung der Menschenrechte mit neuen Kodifikationen und einer immer innovativeren, manche würden sagen, wagemutigen Rechtsprechung der Gerichte, besonders sichtbar in Karlsruhe und Straßburg, die nunmehr von der Zeit vor der Geburt bis zur Zeit nach dem Tod keinen Aspekt der menschlichen Existenz mehr auszuklammern gewillt zu sein scheinen, und schließlich die Gegenwart, in der sich die Zahl der Menschenrechtsgerichte vervielfacht hat und auch Gerichte wie das Luxemburger Gericht, die niemals für Menschenrechtsschutz gedacht oder zuständig waren, gerade auch dieses Thema zu einem ihrer Markenzeichen erklären. Zugleich aber führt der Wettlauf der Gerichte um ein "Immer-Mehr" an Menschenrechten zu grundlegenden Zweifeln; es scheint kein Tabu mehr zu sein, der einst unangefochten gepriesenen Idee eines umfassenden, sich ständig ausdifferenzierenden Menschenrechtsschutzes auf staatlicher und überstaatlicher Ebene kritisch, ja gar feindlich gegenüberzutreten.
1.2 Fantasieroman
So der Chronist. Aber wird eine derartige geschichtliche Prosadarstellung, die die Ereignisse in zeitlicher Reihenfolge ordnet, der Dynamik des Geschehens, den überraschenden Volten und Wendungen, überhaupt gerecht? Wäre nicht ein Fantasieroman die geeignetere literarische Gattung, um zu erfassen, wie überraschend, mehr noch, wie unglaublich, viele der Entwicklungen waren und sind? Würden Sie nicht das Happy End kennen - könnten Sie sich vorstellen, dass in den Jahren 1947/1948 eine von Präsident Truman aus den USA geschickte und eine von Stalin aus der Sowjetunion entsandte Delegation in ihren Verhandlungen über Menschenrechte zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen würden? Zu einem Zeitpunkt, zu dem der Supreme Court noch nicht sein Urteil Brown versus Board of Education zur Aufhebung der Rassentrennung an staatlichen Schulen gefällt hat und in der UdSSR die Elite, soweit sie in den 1930er-Jahren nicht ermordet worden war, in Lagern im fernen Sibirien verschwunden war? Hätte man es für möglich gehalten, dass Charles Malik, ein Libanese christlichen Glaubens, und René Cassin, ein französischer Jude, der durch seine Flucht nach England dem Holocaust entgangen war, zusammen mit der Witwe des ehemaligen amerikanischen Präsidenten, Eleanor Roosevelt, den Stift bei der Abfassung des Entwurfes der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führen und alle zustimmen würden, ein Recht auf Meinungsfreiheit und ein Verbot der Diskriminierung zu normieren? Aber auch die Rolle unseres eigenen Landes lässt uns staunen. War es nicht nur ein knappes Jahrzehnt nach dem Zeitpunkt, zu dem Recht nichts und Willkür alles war, dass das neu geschaffene Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung im Fall Lüth ein für alle Gerichte Europas - das wird man wohl ohne Übertreibung sagen können - wegweisendes Urteil gefällt hat? Und, wenn wir an die jüngere und jüngste Vergangenheit denken, hält nicht eben dieses Gericht die juristische Reflexionsgemeinschaft mit Urteilen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung und mit der Entdeckung eines dritten Geschlechts in Atem?
1.3 Thriller
Schließlich ließe sich als dritte literarische Gattung auch an einen Thriller denken, bei dem es um ein ständiges Spiel zwischen Anspannung und Erleichterung geht. Nicht nur Urteile wie das Urteil zum Grundlagenvertrag oder zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr waren Zäsuren in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Momente, in denen eine ganze Nation gebannt und gespannt auf Karlsruhe schaute, sondern auch Urteile zu Menschenrechtsfragen, etwa zur Abtreibung, zum Rauchverbot oder zum Kopftuchverbot. Je nach Einstellung mag die Anspannung dann auch nicht der Erleichterung, sondern dem Ärger gewichen sein.
1.4 Prägungen
Hans-Jürgen Papier hat diese ereignisreiche Geschichte in einer wichtigen Phase wesentlich mitgeprägt: zwölf lange und wichtige Jahre, von 1998 bis 2010, vom Großen Lauschangriff über das Luftsicherheitsgesetz, die Online-Durchsuchungen, die Vorratsdatenspeicherung und die Bildberichterstattung über das Privatleben Prominenter bis hin zum Hartz-IV-Gesetz.
Für Deutschland mag die Geschichte von mehr als 60 Jahren Grundrechtsrechtsprechung im europäischen Verfassungsgerichtsverbund Zeugnis dafür ablegen, dass ein Neuanfang, wird er nur von allen gewünscht oder zumindest für unausweichlich gehalten, gelingen kann. Das rechtfertigt nicht, sich zurückzulehnen. Vielmehr ist es eine brennende Frage, ob das Lernen aus der Vergangenheit das Modell ist, mit dem wir die Herausforderungen in der Zukunft bestehen können.
Die Vergangenheit ist für das Werten und Denken nirgendwo so präsent wie in der Verfassungsrechtsprechung, die nicht nur auf Kontinuität aufbaut, sondern sie gewissermaßen zelebriert, in langen Ketten von Urteilszitaten, die zurückverweisen auf die frühen Jahre der dunkelgrün-grauen Bände und damit den Anschein erwecken, als wäre das Entscheiden linear, als folge das Neue unausweichlich und schlüssig aus dem Alten. Aber stimmt das? Stehen wir nicht gerade gegenwärtig an einer Wende, in Deutschland, in Europa, stehen wir nicht an einem Punkt, an dem sich der Wind, den wir lange Zeit im Rücken gespürt und der uns bei unseren Judikaten getragen hat, gegen uns richtet?
Europa ist nicht nur in der Politik, sondern auch im Recht eine Schicksalsgemeinschaft. Und in diesem Europa scheinen sich gegenwärtig tektonische Platten zu verschieben. Eine dieser tektonischen Platten ist der Grundkonsens zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, eine andere tektonische Platte die Überzeugung, gemeinsam ließen sich vielleicht nicht einfacher, aber doch besser Lösungen zu den Herausforderungen der Zeit finden. Scheinbar Selbstverständliches ist aber nicht mehr selbstverständlich. Laut wird die Frage nach der Legitimität richterlichen Entscheidens zu den Menschenrechten gestellt.
Drei Grundsatzfragen will ich aus dieser facettenreichen Diskussion herausfiltern und diese laue Abendstunde am schönen Starnberger See nutzen, um mit Ihnen gemeinsam nachzudenken über das Ineinandergreifen von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, die europäische Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechte und die Legitimität richterlichen Entscheidens zu Menschenrechten.
2. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
Rechtsstaat und Menschenrechte werden gerne in einem Atemzug genannt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer seiner ersten großen Entscheidungen, Golder versus Vereinigtes Königreich im Jahr 1975, erklärt, das in der Präambel enthaltene Rechtsstaatsprinzip rechtfertige es, aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch ein Recht auf Zugang zum Gericht abzuleiten; Menschenrechtsrechtsprechung und die Durchsetzung rechtsstaatlicher Postulate werden damit untrennbar verbunden; zudem wird das Rechtsstaatsprinzip zur Interpretationshilfe der einzelnen Konventionsartikel. Dies gilt auch für die nationalen Rechtsordnungen, wie nicht zuletzt die Görgülü-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, die über das Rechtsstaatsprinzip auch die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Garantien in das Grundrechtsschutzsystem integriert.
2.1 Richter – Menschenrechte – Politik
Nun ist Rechtsstaatlichkeit eine weite Klammer für eine Reihe von Strukturprinzipien, die sich als hilfreich erwiesen haben, um dem Zusammenleben in der Gesellschaft einen adäquaten Rahmen zu geben und die insbesondere die Justiz betreffen, man denke an Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte und Rechtssicherheit. All dies mag abstrakt klingen, ist es aber nicht. So sei ganz konkret gefragt: Ist auf einen - formulieren wir es provokativ - "politisch vorprogrammierten" Richter Verlass, wenn es darum geht, die Menschenrechte durchzusetzen?
In der Süddeutschen Zeitung vom 30. Juni 2018 ist, Bezug nehmend auf den Rücktritt von Richter Anthony Kennedy vom Supreme Court der USA, zu lesen: "Neun Richter sitzen am Obersten Gerichtshof. Derzeit sind vier von ihnen Konservative und entscheiden in aller Regel im Sinne der Republikaner. Vier sind Liberale und entscheiden meist im Sinne der Demokraten. Kennedy war bei fast allen Entscheidungen das Zünglein an der Waage." Bedeutet dies, dass es um den Schutz der Menschenrechte in den USA a priori schlecht bestellt ist? Oder würde diese Zuordenbarkeit der Richterinnen und Richter erst dann zum Problem, wenn alle als derselben Partei politisch verpflichtet angesehen würden? Oder wäre auch dies unbedenklich, solange nicht explizite Erwartungshaltungen an die Richter formuliert werden und Instrumente bereit stehen, um diese durchzusetzen?
2.1.1 Beispiele Ungarn, Polen, Rumänien
Die Beantwortung dieser Fragen ist wichtig, wenn man sich mit dem für Europa neuen Phänomen des mit Tabubrüchen verbundenen Übergriffigwerden der Exekutive auf die Judikative auseinandersetzt. Ich spreche nicht von Deutschland, wohl aber von einem vagen, schwer genau geografisch einzugrenzenden "Ringsherum". Es geht um die Großwetterlage der Gewaltenteilung diesseits und jenseits des Atlantiks. Festgefügtes scheint in bisher nicht gekannter Unerschrockenheit infrage gestellt zu werden. Die Unabhängigkeit der Justiz ist nicht mehr sakrosankt. Vielmehr ist es "politically correct", den Statuen der Justitia die Waage aus der Hand zu nehmen und ihnen stattdessen ein vorprogrammiertes Navigationssystem in die Hand zu drücken.
Das war zunächst in Ungarn zu beobachten, als dem Verfassungsgericht, dessen Entscheidungen für zu weitreichend gehalten wurden, die Kompetenz genommen wurde, über Sachverhalte mit finanziellen Auswirkungen zu entscheiden. Dass diese wichtige Kompetenz durch andere, weniger wichtige ersetzt wurde, war dabei Teil eines vorgeblichen Nullsummenspiels, das in Wirklichkeit auf eine Entmachtung hinauslief. Bereits 2011 wurde zudem die Zahl der Verfassungsrichter von elf auf 15 erhöht und über die sodann erforderliche Nachwahl der Verfassungsrichter ein ausnahmslos von der regierenden Partei Victor Orbáns besetztes Gericht etabliert. Und der dritte Schritt war die allgemeine Absenkung der Altersgrenze für alle in Ungarn tätigen Richter mit der Folge, dass quasi eine ganze Generation von Richtern ausscheiden musste. Die Justiz in Ungarn im Jahr 2018 ist nicht mehr, was sie im Jahr 2004, beim Beitritt zur EU, war.
Ähnliches ist in Polen zu beobachten; der Kampf zwischen Verfassungsgericht und Parlament ist zum auf europäischer Bühne inszenierten Schelmenstück geworden. Zudem wurden die Abhängigkeiten zwischen Exekutive und Judikative auch institutionell verstärkt und insbesondere Möglichkeiten zur Abberufung von Richtern geschaffen. Und im Juli 2018 trat in Polen ein Gesetz in Kraft, das mit der Absenkung des Rentenalters erreicht, dass ein Drittel der Richter des Obersten Gerichts ausgetauscht werden können.
Die Justiz in Rumänien ist in ihrer Auseinandersetzung um die Bekämpfung der Korruption in einer tiefen Krise. Dass es weiter östlich in den Nicht-EU-Staaten, wie etwa der Ukraine, noch düsterer aussieht, muss ich kaum eigens betonen. Dort war auch in der Transitionszeit wenig Hoffnung. Die Situation in Polen und Ungarn gibt dagegen gerade deshalb Anlass zu besonderer Sorge, weil sie als Rückschritt, als Kehrtwende, als bewusste - und rhetorisch selbstbewusst verteidigte - Abkehr von bereits Erreichtem anzusehen ist.
2.1.2 Fragiles Gut des Vertrauens
Falsch wäre es, sich, da es "nur" außenherum zu knirschen scheint, auf der Insel der Seligen zu wähnen. Vertrauen in die Justiz ist ein fragiles Gut. Zweifel sind schnell gesät; ein konkreter Sündenfall - und sei es im Nachbarland - kann schnell zum grundsätzlichen Infragestelen der Justiz führen. Zudem ist der europäische Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf gegenseitiges Vertrauen aufgebaut; die Konsequenzen beschäftigen gerade den Europäischen Gerichtshof. Der Generalanwalt Evgeni Tanchev hat dazu bereits Stellung genommen.
Nun ist, um meine eingangs gestellten Fragen wieder aufzugreifen, eine politische Vorprägung von Richtern als solche noch kein Problem für einen effektiven Menschenrechtsschutz, wäre es doch naiv anzunehmen, Richter könnten meinungsfrei außerhalb des politischen Geschehens stehen; dieses Faktum angemessen zu berücksichtigen, ist die Regel, nicht die Ausnahme. Kritisch wird es jedoch, wenn ein Gericht eine "parteipolitische Schlagseite" bekommt, wie es gegenwärtig mit Blick auf den Supreme Court zu befürchten ist. Und ganz sicher wird der Rubikon überschritten, wenn konkrete Abhängigkeiten geschaffen werden; dann bricht dem in der Hand der Gerichte liegenden Menschenrechtsschutz buchstäblich der Boden weg, auf dem er steht.
2.2 Europäische Menschenrechtskonvention als Schutz der Justiz
Die Diagnose mag klar sein; die Lösungen, auf nationaler Ebene, auf der Ebene der EU, sind es nicht; die politischen und rechtlichen Spielräume scheinen beschränkt zu sein. Die Perspektive, die ich zu der Diskussion beisteuern kann, ist, der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Europäische Menschenrechtskonvention, immerhin ein völkerrechtlicher Vertrag, an den alle gebunden sind, zum Schutz der Justiz einsetzen lässt. Zwei Ansätze stehen zur Verfügung: Zum einen können die Richter selbst, die entlassen oder versetzt werden, sich wehren und sich auf ihre eigenen Menschenrechte berufen. Beschwerdeführer kann aber auch der quivis ex populo sein, der sich einem Gericht gegenüber sieht, das er nicht für unabhängig hält. Nicht möglich ist dagegen eine Art von Normenkontrollklage gegen die jeweiligen Reformgesetze. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist eben "nur" ein Menschenrechtsgericht und kein europäisches Verfassungsgericht.
2.2.1 Der "sich wehrende Richter"
Lassen Sie uns einen Blick auf den ersten Weg, den "sich wehrenden Richter" werfen. Es gibt nicht wenige, die dies getan haben: der ukrainische Richter Oleksandr Volkov, Vorsitzender der Militärkammer der Obersten Gerichts der Ukraine, der seine Entlassung als eine gegen ihn gerichtete politische Intrige interpretierte; der Präsident des Obersten Gericht Ungarns András Baka, der aufgrund der Übergangsbestimmungen der neuen ungarischen Verfassung, mit der das Oberste Gericht von der "Kuria" ersetzt wurde, seinen Präsidentenposten verlor und fortan nur mehr einfacher Richter war; oder, um noch ein weiteres berühmtes Beispiel zu erwähnen, die russische Richterin Olga Borisovna Kudeshkina, die mit dem Vorwurf vor die Presse getreten war, auf sie werde von der Präsidentin des Moskauer Gerichts Druck ausgeübt, wie sie in einem konkreten Fall zu entscheiden habe; auch sie wurde entlassen.
Sie alle haben ihre Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewonnen, sei es wegen Verletzung der Meinungsfreiheit, des Rechts auf ein faires Verfahren oder des Rechts auf Achtung des Privatlebens. Dabei sind die mit diesen Entscheidungen verbundenen Fragen rechtlich nicht trivial, nur wenige der Fälle sind einstimmig entschieden worden. Betrifft die Herabstufung eines Richters in der Hierarchie des Gerichts wirklich das "Privatleben" oder nicht viel eher den "Beruf", der von der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht eigens geschützt wird? Ist eine Einschränkung der Meinungsfreiheit der Richter nicht mit Blick auf Artikel 10 Absatz 2 der Konvention, der explizit auf die "Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung" verweist, gerechtfertigt? Und können sich, noch radikaler gefragt - wie der polnische Richter Krysztof Wojtyczeck in seiner abweichenden Meinung zu der Entscheidung der Großen Kammer im Fall Baka versus Ungarn - Richter als Träger hoheitlicher Macht überhaupt auf die Konventionsrechte berufen? Es ist hier nicht die Zeit und der Ort, um diese Fragen vertieft zu erörtern. Wichtig ist vielmehr mit Blick auf unser Thema, die Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz als Grundlage für die Rechtsstaatlichkeit in Europa, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die bei der Versetzung und Entlassung von Richtern Konventionsverletzungen festgestellt hat, auch, aufs Ganze gesehen, etwas bewirken kann oder ob es bei gegen einzelne Staaten gerichteten Nadelstichen bleibt.
2.2.2 Beschwerde des quivis ex populo
Zur Beantwortung der Frage gilt es auch noch den zweiten Weg in den Blick zu nehmen, mit dem die Frage der richterlichen Unabhängigkeit vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht werden kann. Dies ist, wie gesagt, die Beschwerde des quivis ex populo, der vorträgt, er habe einem nicht unabhängigen Gericht gegenübergestanden. Um aus der Praxis zu plaudern: Fast jeder, der seinen Prozess verloren hat und damit - verständlicherweise - nicht zufrieden ist, wird an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Beschwerde kommen, das nationale Gericht habe erstens falsch entschieden und zweitens, die Richter seien alle nicht unabhängig gewesen. Derartige Beschwerden werden in Straßburg mit zwei Kurzformeln dem Einzelrichter zur Abweisung vorgelegt: "nicht substanziiert" einerseits, "vierte Instanz" andererseits. Das ist eine einfache Antwort, die ein schwieriges Problem verdeckt: Wie soll der Einzelne denn nachweisen, dass der ihm gegenübersitzende Richter nicht unabhängig und unparteiisch ist? In aller Regel vermag die - weit entwickelte - Kasuistik nur Einzelfälle zu erfassen, etwa, wenn ein Richter sich missverständlich zum Fall geäußert hat oder wenn, wie in dem berühmten Fall Sovtransavto versus Ukraine, eine Entscheidungsanweisung des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma Teil der Akte ist. Aber, nehmen wir an, es würde wie in sowjetischer Zeit tatsächlich die sogenannte "Telefonjustiz" weiter bestehen – wie soll der Einzelne dies nachweisen? Könnte er die "institutionellen Tricks" - etwa die Wahl der Richter zu einem Zeitpunkt, zu dem eine bestimmte Partei eine bestimmte Mehrheit hat oder die Absenkung der Altersgrenze, um eine bestimmte Richtergeneration loszuwerden, vortragen? In aller Regel wird man damit nicht durchdringen, es sei denn, es geht um besondere Konstellationen, etwa von der Exekutive unmittelbar eingesetzte und abberufbare Militärgerichte; dazu gibt es Rechtsprechung. Im Übrigen muss der Gerichtshof von der im Einzelfall widerlegbaren Annahme einer unabhängigen Justiz ausgehen. Dies ist die Prämisse, auf der der Europarat als Zusammenschluss von der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Staaten beruht. Gerade vor diesem Hintergrund stellt sich dann natürlich die - politische - Frage, inwieweit es rechtfertigbar ist, Staaten, deren System diese Grundvoraussetzungen nicht einlöst, weiter im Europarat zu halten.
2.2.3 Allgemeine Anforderungen aus Kasuistik
Nichtsdestotrotz lassen sich aus der Kasuistik des Gerichtshofs allgemeine Anforderungen zur Absicherung der Stellung der Richter sowie zu einem rechtsstaatlichen Verfahren bei Entlassungen und Versetzungen herausdestillieren, auf die dann die Venedig-Kommission und eventuell auch die Europäische Kommission zurückgreifen kann, beispielsweise Regeln zur Zusammensetzung der für Wahl oder Disziplinarverfahren zuständigen Gremien und zu Verfahrensgarantien. Nicht verschweigen will ich allerdings, dass all dies mit heißer Nadel gestrickt ist, da Missbrauch oftmals nicht so sehr vom institutionellen Gefüge als vielmehr vom guten Willen und der Rechtskultur der Beteiligten abhängt. Ein Beispiel: Es können etwa in einem Land grundlos eingeleitete Disziplinarverfahren gegen Richter auf der Tagesordnung stehen und eine ständige Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit bedeuten, sodass der Frage, wer über wen die Disziplinargewalt ausübt, zentrale Bedeutung zukommt. Von einem derartigen Dauermissbrauch auszugehen und daraus weitreichende Forderungen abzuleiten, würde aber der Realität der Gerichtsbarkeit in der Mehrzahl der europäischen Staaten nicht gerecht.
Im Grunde sind diese Fragen nur auf der Grundlage einer Gesamtsicht zu beantworten. Mag es für eine einzelne - scheinbar neutrale - Reform noch gute Gründe geben, kann die Zusammenschau eines ganzen Reformpakets die den Rechtsstaat bedrohende Stoßrichtung offenbaren. Für den Gerichtshof ist es in aller Regel ein Ausweg, von den "besonderen Umständen des Falles" zu sprechen. Aber damit wird natürlich der Standardsetzung für die europäische Justiz nur bedingt geholfen. Nichtsdestotrotz trägt die Rechtsprechung des Gerichtshofs dazu bei, Grenzen zu definieren und in Einzelfällen einen Name-and-Shame-Effekt zu erreichen. Dies mag angesichts der gegenwärtigen großen Herausforderung des Rechtsstaats in seiner Substanz nicht genügen. Aber es ist in jedem Fall ein Ansatz, der weiter zu verfolgen ist.
3. Europäische Zusammenarbeit
Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, der europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechte.
3.1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und Bundesverfassungsgericht
Als Hans-Jürgen Papier im Jahr 1998 seine Arbeit am Bundesverfassungsgericht begann, wurde gerade der Prolog gespielt zu dem, was sich dramaturgisch inzwischen als ein Mehrakter entpuppt hat. Mit Solange I und Solange II hatte das Bundesverfassungsgericht das Terrain zwischen Karlsruhe und Luxemburg zu einem Zeitpunkt abgesteckt, zu dem der Europäische Gerichtshof noch keinen eigenständigen Maßstab hatte, um Grund- und Menschenrechte zu vermessen. Aus Straßburg war bis zum Ende der 1990er-Jahre wenig zu hören. In den großen Verfahren im Nachgang zur Wiedervereinigung, etwa bei der Strafbarkeit der "Mauerschützen", den Restitutionsansprüchen der sogenannten Alteigentümer und auch den Entschädigungsansprüchen der Neubauern, hatte Straßburg die Karlsruher Sichtweise, wenn auch oftmals mit anderen Begründungen, immer gestützt. Die Feststellung von Konventionsverletzungen wie bei den Berufsverboten oder der Feuerwehrabgabe waren eine eher seltene Ausnahme.
3.1.1 Der Fall Caroline
Die Beziehung eines nahezu konfliktfreien Nebeneinander von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte änderte sich während der Amtszeit von Hans-Jürgen Papier mit mehreren Donnerschlägen von diesseits und jenseits des Rheins. Zum einen mit der Entscheidung im Fall Caroline von Hannover Nr. 1 versus Deutschland im Jahr 2004, mit der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine lange Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts für nicht konventionskonform erklärte. Zum anderen mit der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum Fall Görgülü ebenfalls im Jahr 2004. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Fall von Hannover Nr. 2 versus Deutschland im Jahr 2012 markierten das Ende dieses - wie ich den Zeitzeugnissen entnehme - durchaus dramatischen ersten Akts. Von Anton Tschechow ist der Satz überliefert, dass dann, wenn im ersten Akt in einem Theaterstück ein Gewehr an die Wand gehängt wird, es spätestens im letzten Akt abgefeuert werden wird. Im Beziehungsdrama Karlsruhe - Straßburg wurde der Schuss - oder die Schüsse -, ziemlich unmittelbar, gleich im ersten Akt, abgegeben. Aber vielleicht waren es auch keine echten Schüsse, sondern vielmehr nur Warnschüsse oder überhaupt nur Teile einer dialogischen Auseinandersetzung, die im Grunde differenzierter und nuancenreicher waren, als manche es - ex post - interpretieren wollen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte den Auftakt gemacht mit einer Entscheidung zu einem diffizilen - und aufgrund der Prominenz der Beteiligten weithin sichtbaren - Grundrechtskonflikt und kritisiert, das Bundesverfassungsgericht habe einen wesentlichen Aspekt nicht in die Abwägung der Grundrechtspositionen eingebracht: Wie könne man einen Konflikt zwischen Pressefreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht entscheiden, ohne auf die konkrete Funktion der Presse einzugehen, mache es doch einen Unterschied, ob ein Artikel der Befriedigung lässlicher Neugier diene oder einen Beitrag zu einer wichtigen politisch-gesellschaftlichen Debatte leiste. Dies war die Detailfrage im Fall von Hannover. Die Grundsatzfrage aber war, ob und wenn ja, wie weit ein europäisches Gericht in eine von einem nationalen Gericht vorgenommene Abwägung eingreifen könne, wenn es gilt, verschiedene, jeweils gleichrangig geschützte Grundrechtspositionen auszugleichen. Karlsruhe antwortete zeitversetzt auf die Grundsatz- und auf die Detailfrage. Im Fall Görgülü wurde die Antwort auf die Grundsatzfrage gegeben. Das Bundesverfassungsgericht reichte dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die rechte Hand als Partner und deutete mit der linken Hand auf den Notausgang. Die Entscheidung ist vielfach interpretiert, kommentiert, kritisiert worden. Man wird ihr nur gerecht, wenn man beide Seiten sieht, die Einbindung der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Beachtung der Judikate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Grundlage des Rechtsstaatsprinzips einerseits, die Rede vom "letzten Wort der deutschen Verfassung" andererseits. Damit hat das Bundesverfassungsgericht, wie es, so möchte man sagen, seine Art ist, eine Theorie zum Ineinanderwirken einer auf Völkerrecht und einer auf das Grundgesetz gestützten Menschenrechtsjudikatur begründet, die eine nachhaltige Rezeptionswirkung hatte und hat, auch wenn die Rezeption, etwa in Russland, teilweise einseitig und damit sinnverzerrend war.
Neben der Grundsatzantwort steht die Detailantwort zum Rechtsproblem des Falles Caroline von Hannover. Hier hat das Bundesverfassungsgericht das Abwägungselement der "Bedeutung für eine politische Debatte" aufgenommen und einen Katalog von Kriterien entwickelt, der wiederum in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem Urteil von Hannover Nr. 2 rezipiert wurde. Von beiden Seiten wird dies als Beispiel eines erfolgreichen Dialogs gesehen.
3.1.2 Sicherungsverwahrung
Dem ersten Akt folgte mit der Auseinandersetzung um die Sicherungsverwahrung ein zweiter Akt. Auch hier standen Theoriebildung und Einzelfalllösung im dialektischen Verhältnis. Das Bundesverfassungsgericht akzeptierte, seine eigene Entscheidung zu revidieren, beharrte allerdings auf den autonomen Kategorien des nationalen Rechts und sah Raum für eine eigenständige Übertragung und "Einfügung" der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Detail bedeutet dies, anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Sicherungsverwahrung nicht als "Strafe" anzusehen, auf die das Verbot "ne bis in idem" anzuwenden wäre, wohl aber, derartige Maßnahmen auf "persons of unsound mind" im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 e EMRK zu begrenzen und mit dem Abstandsgebot das Postulat umzusetzen, dass Sicherungsverwahrung im Vergleich zu Haft ein "Aliud" sein müsse. Auch wenn dieser Ansatz in dem Urteil Bergmann versus Deutschland bereits von der Kammer bestätigt wurde, steht das Urteil der Großen Kammer im Fall Ilnseher dazu noch aus; der zweite Akt ist damit noch nicht abgeschlossen.
3.1.3 Streikverbot von Beamten
Zugleich wurde der dritte Akt mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Streikverbot der Beamten vom Juni 2018 bereits eingeläutet. Auch hier wieder geht es um eine allgemeine Theorie zur Rezeption und um Detailrechtsprechung. Neu vorgegeben wird die "Kontextualisierung" der zu anderen Mitgliedstaaten entwickelten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das Abstellen auf "wesentliche Grundwertungen der Entscheidungen". Das "letzte Wort der Verfassung" wird in dem nachdenkenswerten Satz verpackt "Es bedarf derzeit insbesondere keiner Klärung, ob das Streikverbot für Beamte als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums und traditionelles Element der deutschen Staatsarchitektur [...] zugleich einen (auslegungsfesten) tragenden Grundsatz der Verfassung darstellt [...], wofür indes viel sprechen dürfte." Vermutlich ist nun wieder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Zug, wenn der Fall nach Straßburg gebracht wird. Die Ausgestaltung der Beziehung zwischen den beiden Gerichten ist, wie ich sagte, ein Mehrakter, wobei niemand sagen kann, wie viele Akte es geben und was die Zukunft bringen wird. Dies gilt aber nicht nur für das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Bundesverfassungsgericht, sondern auch zu anderen Gerichten wie insbesondere dem britischen Supreme Court.
3.2 Komplexität des Entscheidens
Bisheriger Befund mag sein, dass die vielfach bemühten Metaphern vom "Mobile" und "Dialog" gut beschreiben, dass es keine hierarchische Beziehung und auch kein Gegen-, sondern ein Miteinander ist, das das Verhältnis der beiden Gerichte charakterisiert.
Zunehmend komplex wird das Verhältnis aber dadurch, dass nun auch Luxemburg spielgestaltend eingreift und bei einer Reihe von Fragen zur Auslegung von Menschenrechten alle drei Gerichte zur Entscheidung aufgerufen sind, wie etwa bei den verschiedenen Varianten eines "Rechts auf Vergessen" mit der Google-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2014 und unserem, am 28. Juni 2018 ergangenen Urteil zur Anonymisierung der Namen von verurteilten Mördern in Zeitungsarchiven, M.L. und W.W. versus Deutschland oder auch bei den Parallelentscheidungen zur Frage des "Ne-bis-in-idem".
Wie aber ist mit der zunehmenden Komplexität des Entscheidens im Mehrebenensystem umzugehen? Selbstkritisch müssen wir uns fragen, ob unsere Entscheidungen nicht mehr und mehr zu einem Glasperlenspiel werden, zu einer "L'art pour l'art". Bewegen sie sich nicht weg von der Grundidee, den Einzelnen vor der Willkür des Staates zu schützen, und hin zu einer Auseinandersetzung um die Deutungshoheit bei gesellschaftlichen Grundfragen?
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang nochmals zu den Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit, die ich eingangs angesprochen hatte, zurückkehren. Die konkrete Gefahr ist, dass der Einzelne seine Rechte in den Endlosschleifen der Justiz zwar zugesprochen bekommt, aber dennoch letztlich verliert.
Dazu ein Fall mit Daten: Frank Anayo will seine im Dezember 2005 geborenen Zwillinge sehen. Aufgrund der Verweigerungshaltung der Mutter, die mit den Kindern und ihrem Mann in einer familiären Gemeinschaft lebt, gibt es für den "nur" biologischen Vater zum Zeitpunkt der Geburt der Kinder keine Durchsetzungsmöglichkeit des von ihm eingeforderten Rechts. Er streitet über das Bundesverfassungsgericht bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekommt im Jahr 2010 Recht; die Kinder sind fünf Jahre alt. Der Fall kehrt zurück an die nationalen Gerichte. Mittlerweile sind die Zwillinge fast 13 Jahre alt: Der Bundesgerichtshof hat als siebtes Gericht über den Fall zuletzt 2016 - wieder mit einem Grundsatzurteil - entschieden und ihn an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. An dieser Entscheidungskette war der Europäische Gerichtshof noch nicht einmal beteiligt. Bei Fragen des Kirchenarbeitsrechts ist es gut möglich, dass alle vier Gerichte eingeschaltet werden, die sich eigentlich alle als die je "höchste Instanz" definieren: Bundesarbeitsgericht, Europäischer Gerichtshof, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte.
Kann das gewollt sein, wenn es um den "Schutz der Menschenrechte" geht? Die einfache Antwort lautet: Nein. Justice delayed is justice denied. Bei dem Hin und Her auf der langjährigen Suche nach einer adäquaten Lösung schwieriger Konflikte geht viel Vertrauen in den Rechtsstaat verloren. Wenn ich es auf eine schlichte Formel bringen darf: Gerade in der europäischen Mehrebenenjustiz ist manches Mal das Bessere der Feind des Guten. Hier gilt es gerade bei Grundsatzfragen gemeinsam Lösungen zu finden, um umfassenden Menschenrechtsschutz und Rechtssicherheit miteinander zu verbinden. Ein Weg ist das, was ich "Mit-Sichtkontakt-Entscheiden" nennen würde - wir nehmen die Judikate im Verfassungsgerichtsverbund wahr und versuchen, so es denn möglich ist, "im gleichen Sinne" zu entscheiden. Denn, auch wenn die Texte, die wir auslegen, Unterschiede aufweisen, so geben sie uns doch aufgrund der offenen Formulierungen in aller Regel die Möglichkeit, gemeinsam vertretbare Lösungen zu finden. Konflikte und verhärtete Fronten schaden dem Grundrechtsschutz und der Autorität der Gerichte gleichermaßen.
4. Legitimität richterlichen Entscheidens
Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt meines Beitrags, zur Legitimität richterlichen Entscheidens zu den Menschenrechten. Menschenrechte sind nicht nur ein Teil, sondern, so würde ich behaupten, ein essenzieller Teil der Politik, und bei zentralen Fragen zum Umfang und zur Intensität des Menschenrechtsschutzes vertreten verschiedene politische Parteien in aller Regel verschiedene Positionen. Nehmen wir das Thema, über das gegenwärtig am meisten gestritten wird, die Migration - im Wesentlichen geht es um die (Menschen)Rechte der Betroffenen. Dürfen sie an der Grenze abgewiesen werden, wenn ja, unter welchen Umständen? Dürfen sie ausgewiesen, werden, auch wenn sie aus Ländern kommen, in denen die Menschenrechtslage problematisch ist? Darf man sie in geschlossenen Zentren halten? Über diese Frage entscheiden Politiker und Richter.
Oder die Frage der Ehe gleichgeschlechtlicher Partner. In manchen Ländern hat der Gesetzgeber die Führungsrolle übernommen, in anderen Ländern die Justiz. Oder man hat in einem Referendum alle befragt.
4.1 Rechtliches und politisches Entscheiden
Sind das Rechtsfragen oder politische Fragen? Und, wenn es Rechtsfragen sind - auf welcher Ebene gilt es zu entscheiden, auf nationaler, supranationaler oder internationaler Ebene?
Gerade in Großbritannien, im Mutterland der Demokratie, gehört die Kritik am undemokratischen Entscheiden der Richter, fast schon zum guten Ton des politischen Betriebs, gleich ob sich die Kritik gegen den Straßburger Gerichtshof ("the unelected foreign judges") oder gegen den eigenen Supreme Court oder Court of Appeal richtet, dessen Richter mit altmodischen Perücken dargestellt und lächerlich gemacht werden wie nach der Entscheidung zu den Rechten des Parlaments im Rahmen des Brexit-Verfahrens.
Dabei stimmt es nicht, dass die Richter, die in letzter Instanz über Menschenrechtsfragen entscheiden, nicht gewählt würden; mit einer zwar langen, aber ununterbrochenen Legitimationskette lässt sich ihr Entscheiden auf die Wahlbürger zurückführen. Dennoch ist richterliches und politisches Entscheiden ein "Aliud": Wenn 17 Richterinnen und Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2011 im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland feststellen, aufgrund des - zu diesem Zeitpunkt zweifellos - dysfunktionalen Asylsystems und der desolaten Versorgungslage der Flüchtlinge in Griechenland sei es "unmenschlich" im Sinne von Artikel 3 EMRK, einen afghanischen Übersetzer, der für die US-Armee gearbeitet hatte, von Belgien nach Griechenland zurückzubringen, da ihm die Gefahr des "Refoulement" drohe und er in unsäglichen Umständen auf der Straße zu leben gezwungen sei, und wenn in der Folge dieses Urteils das Dublin-System in Bezug auf Griechenland erst einmal nicht mehr angewendet wird, haben die Richter keine unmittelbaren Konsequenzen zu befürchten. Für Politiker kann eine ähnliche Entscheidung bedeuten, nicht mehr gewählt oder mit einer populistischen Oppositionspartei konfrontiert zu werden. Entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Höhe der Hartz-IV-Sätze oder der Beamtenbesoldung, muss es nicht gleichzeitig die Frage der Gegenfinanzierung klären. Die Koordinaten des Entscheidens - die Verantwortlichkeit der Richter und die Anforderungen an die Begründung ihrer Urteile - sind grundsätzlich unterschiedlich.
Gerichte haben keine Agenda und machen nicht den ersten Aufschlag bei einer Diskussion, sondern geben lediglich Antworten, wenn konkrete Fälle an sie herangetragen werden. Sie sind nicht frei bei der Lösungsfindung, sondern müssen argumentativ überzeugen, und dies auf der Grundlage der vorgegebenen Texte und konsistent mit vorausgegangenen Leitentscheidungen. Rechtliches Entscheiden ist ein "Aliud" zu politischem Entscheiden. Das Nebeneinander hat sich für Deutschland über lange Zeit hin bewährt.
4.2 Infragestellungen
Warum aber wird in der Gegenwart die Legitimität nunmehr infrage gestellt und in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht von einem "entgrenzten Gericht" gesprochen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Phänomen der "Principled Resistance" konfrontiert? Im Augenblick scheint - geht es um die Deutungshoheit der Menschenrechte und die damit verbundene Gestaltungsmacht - jeder zu fürchten, aufgrund eines langsamen Erosionsprozesses letztendlich Verlierer zu sein: Die Politik ebenso wie die Gerichte fürchten um ihre Pfründe und stecken ihr Terrain ab. Die Markierungen der Gerichte im Rahmen des Gerichtsverbunds sind deutlich sichtbar - man denke an die Bosphorus-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das Urteil Åkerberg Fransson des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2013, das Gutachten 2/13 des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2016, das Obiter Dictum des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2013, um nur ein paar derartiger Markierungen zu nennen. Für die Politik ist es wesentlich schwieriger, mit einem Bis-hierher-und-nicht-weiter ihren originären Wirkungsbereich, in dem sie sich, der bayerischen Landessprache gemäß ausgedrückt, "nicht dreinreden lässt", ab- und einzugrenzen. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat es schön auf den Punkt gebracht: "Demokratie setzt eine ständige freie Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen voraus, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt." Werden in dieser "ständigen freien Auseinandersetzung" allenthalben juristische rote Karten verteilt und damit Teile aus dem Diskurs a priori als menschenrechtswidrig herausgebrochen, obwohl sie von den Teilnehmern als zugehörige und wichtige Elemente empfunden werden, mag sich der gemeinsame Zorn gegen den vermeintlich nicht gefragten und übergriffigen Schiedsrichter wenden; ihm will man nun im Gegenzug die rote Karte zeigen.
4.3 Rechtsprechungsbeispiel als Orientierung
Als Lösungsansatz oder, bescheidener, Orientierungsmöglichkeit bei den Legitimitätsfragen möchte ich zum Abschluss ein Rechtsprechungsbeispiel erwähnen, in dem das Ineinanderwirken von Politik und nationaler sowie internationaler Menschenrechtsrechtsprechung gut funktioniert hat: den Fall ABC gegen Irland zum Abtreibungsverbot. Die Frage des Menschenrechtsschutzes bei Abtreibungen - wer ist gegen wen wie zu schützen - ist wohl eine der kontroversesten Fragen des Verfassungsrechts überhaupt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war mit einem Fall konfrontiert, bei dem drei Frauen, A, B und C, geltend machten, es sei ein Verstoß gegen ihr Recht auf Privatleben, dass sie in einer Notlage, in der sie sich zu einer Abtreibung gezwungen sähen, nicht im Land bleiben, sondern aufgrund der restriktiven irischen Gesetzgebung ins Ausland reisen müssten. Bei einer Frau lag eine medizinische, bei den anderen beiden Frauen eine soziale Indikation vor. Der Gerichtshof ging davon aus, dass in den europäischen Staaten weitgehend ein Konsens bestehe, dass die Zulässigkeit von Abtreibungen nicht, wie in Irland, auf den einen einzigen Fall zu beschränken sei, dass das Leben der Mutter unmittelbar gefährdet ist. Da es aber um ethisch und moralisch besonders sensible Fragen ginge, sei dem nationalen Gesetzgeber ein besonders weiter Ermessensspielraum einzuräumen. Das Abtreibungsverbot bei sozialer Indikation sei - insbesondere in Zusammenschau mit Informationsrechten der Frauen - aufgrund des explizit in einem Referendum ausgedrückten Willens der irischen Bevölkerung gerechtfertigt. Dagegen sei es ein Konventionsverstoß, dass für den Fall einer unmittelbaren Gefährdung des Lebens der Mutter kein Verfahren bereitstünde, um ihr in ihrer Notlage effektiv zu helfen.
Damit wurden, wenn ich bei dem Bild bleiben darf, nur teilweise juristische rote Karten verteilt. Für die gesellschaftspolitisch besonders schwierige Frage der Abwägung zwischen den Rechten des ungeborenen Kindes und der Mutter, die in der irischen Diskussion im Vordergrund standen, wurde der Rahmen abgesteckt, aber keine konventionsrechtlich bindenden Vorgaben gemacht. Auch wenn dieser Ansatz in der abweichenden Meinung vehement kritisiert wurde, ist diese Entscheidung doch ein Beispiel dafür, dass klar Stellung bezogen und dennoch eine Entscheidung an den demokratischen Gesetzgeber zurückgegeben werden kann, ohne von "außen" oder "oben" eine bestimmte Lösung eines Konflikts aufzuoktroyieren. Das Urteil stammt aus dem Jahr 2010. Mittlerweile, im Jahr 2018, wurde die Frage in Irland per Referendum entschieden. Und es ist davon auszugehen, dass die Entscheidung durch das Referendum nicht nur - auch für diejenigen, die überstimmt wurden - leichter anzunehmen ist als die Entscheidung eines (internationalen) Gerichts, sondern auch, dass damit insgesamt der demokratische Prozess und die Achtung der - subsidiären - Rolle der Gerichte gestärkt wurde.
Allerdings ist ein derartiges Entscheidungsmuster nicht durchgängig gültig. Geht es, wie zuvor ausgeführt, um Fragen wie die Unabhängigkeit der Richter, kann Kritik von außen mit echter Durchschlagkraft unerlässlich sein, nicht zuletzt, da in diesem Bereich allgemeine europäische Standards eher akzeptiert werden.
4.4 Akzeptanz
Und damit bin ich auch bei dem Begriff, der ein Schlüsselbegriff dieser Auseinandersetzung ist: das Annehmen, die Akzeptanz des jeweiligen Entscheidens. Menschenrechtsgerichte sind dazu da, "gegenzuhalten", sich auch, wenn nötig, gegen Mehrheiten zu stellen, das ist ihr Auftrag. Aber sie sind nur stark, wenn ihre Rolle als Garanten von "Fair play" in Politik und Gesellschaft grundsätzlich anerkannt ist. In Zeiten der Fußballweltmeisterschaft sei es vielleicht erlaubt, mit einer Metapher aus dem Fußball zu enden. Der Schiedsrichter sollte nicht selbst versuchen, Tore zu schießen, sondern darauf achten, dass die Spielregeln eingehalten werden. Effektiver Menschenrechtsschutz braucht gute Schiedsrichter, die sich nicht gegenseitig im Weg stehen und die die rote Karte zur rechten Zeit ziehen, aber eben nur dann.