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Digitaler Antisemitismus

So zeigt sich Judenfeindschaft im Netz

In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben antisemitische Handlungen und Äußerungen deutlich zugenommen. Eine große Rolle bei der Verbreitung von judenfeindlichem Material und Äußerungen spielt das Internet, insbesondere die sozialen Medien. Häufig äußert sich dort der Antisemitismus in versteckter, kaum wahrnehmbarer Form. Die Online-Tagung "Digi-Antisemitismus: Latente Judenfeindschaft in den sozialen Netzwerken" hat einen Einblick in die jüngsten Forschungen der Indiana University Bloomington über Antisemitismus im Internet gegeben.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.06.2021

Von: Margareta Maier / Foto: Paula Ammer

Programm: Internationale Akademie: Digi-Antisemitismus: Latente Judenfeindschaft in den sozialen Netzwerken

Digi-Antisemitismus: Latente Judenfeindschaft in den sozialen Netzwerken

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Würdest du in einem Land bleiben, in dem es bewaffnete Polizisten braucht, die dich bewachen, während du betest? Wo deine Kinder bewaffnete Wachen brauchen, um sie in der Schule zu beschützen? Wo deine Kinder, wenn sie zur Universität gehen, beleidigt und eingeschüchtert werden wegen Geschehnissen in einem anderen Teil der Welt?", zitiert Alvin H. Rosenfeld vom Institute for the Study of Contemporary Antisemitism der Indiana University Bloomington den britischen Großrabbiner Jonathan Sacks. Judenhass hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten zugenommen. Diese Entwicklung zeigt sich potenziert im Netz. Durch digitale Medien kann Hate Speech nicht nur schnell und oft, sondern auch global verbreitet werden. Die Online-Tagung "Digi-Antisemitismus: Latente Judenfeindschaft in den sozialen Netzwerken" der Akademie für Politische Bildung in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien und dem Institute for the Study of Contemporary Antisemitism der Indiana University Bloomington hat sich mit ebendiesen digitalen Formen des Jüdinnenhasses und Judenhasses auseinandergesetzt und in interaktiven Workshops auch über subtilere Formen des Antisemitismus im Netz diskutiert.

Antisemitismus als kulturelle Konstante

"Offene und subtile Judenfeindschaft hat sich nach 1945 nicht automatisch verabschiedet", sagt Olaf Glöckner vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist im Denken und Fühlen eines großen Teils des europäischen Kontinents immer noch präsent. Nach der Definition von Helen Fein bezeichnet Antisemitismus einen "dauerhaften latenten Komplex feindseliger Überzeugungen gegenüber Jüdinnen und Juden als ein Kollektiv. Diese Überzeugungen äußern sich beim Einzelnen als Vorurteil, in der Kultur als Mythen, Ideologie, Folklore und in der Bildsprache sowie in Form von individuellen oder kollektiven Handlungen, die darauf zielen, sich von Juden als Juden zu distanzieren, sie zu vertreiben oder zu vernichten." Diese Überzeugungen sind immer noch in allen gesellschaftlichen Schichten und unabhängig von politischen Ideologien präsent. Dies zeigt sich auch in sozialen Netzwerken. Hier äußern sich Nutzerinnen und Nutzer vielfach ungefiltert, kulturell gewachsene Normen kommen teilweise nur eingeschränkt zur Geltung. Das Netz ist inzwischen der primäre Multiplikator zur Verbreitung von antisemitischen Stereotypen geworden.

Eine Langzeitstudie der Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesl zeigt, dass die Verbreitung antisemitischer Inhalte in den vergangenen zehn Jahren drastisch zugenommen hat. Die Zahl der judenfeindlichen Kommentare hat sich vervierfacht und die Inhalte haben sich radikalisiert. Dabei mischen sich uralte Stereotype mit aktuellen Konzeptualisierungen. Die Kontinuität des Judenhasses scheint dabei ungebrochen und immer noch im kulturellen Bewusstsein verankert. Neben direkten und eindeutig judenfeindlichen Kommentaren wird eine antisemitische Gesinnung auch getarnt in Chiffren, vagen Phrasen und Codes wiedergegeben.

Glöckner zeigt in seinem Vortrag Beispiele von Äußerungen, in denen auf Zionismus, Israel, "Rothschild" oder "jene einflussreichen Kräfte" als Schuldige oder schlicht als das Böse verwiesen wird. In den Kommentaren zu Beiträgen zu aktuellen politischen Themen in Israel tauchen in der Debatte häufig Hassreden auf, die an klassische antisemitische Stereotype anknüpfen. Was kann man dieser Entwicklung nach Jahren der Aufklärung noch entgegensetzten? Glöckners nüchternes Fazit: "Bildung steht dem Phänomen der ständigen Veränderung des Antisemitismus ein Stück weit hilflos gegenüber, denn der Phantasie sind offensichtlich keine Grenzen gesetzt. Ich persönlich sehe eigentlich nur die Möglichkeit von Teilerfolgen, indem die neuen modernen Stereotypen dekonstruiert werden."

Wie zeigt sich Antisemitismus im Internet?

Nun könnte man meinen, "Online Antisemitismus" sei halb so schlimm, da er "nur virtuell" sei, man ihn abschalten könne oder einfach nicht hinsehen müsse. Günther Jikeli von der Indiana University Bloomington macht aber deutlich: "Virtueller Antisemitismus hat handfeste Konsequenzen." Zum einen ist das Internet ein fester Bestandteil der sozialen Lebenswelt geworden. Ein Online-Rufmord hat Implikationen im privaten und  - wenn man so will - "realen" Leben. Er kann zu sozialem Ausschluss führen oder auch berufliche Folgen mit sich ziehen. Zudem hat eine Äußerung im Netz eine viel größere Reichweite. "Online-Beschimpfungen per Text, in Memes oder Sprachnachrichten sind oft sehr verletzend und wenn sie dann tausendfach gesendet werden, teilweise automatisiert durch Bots oder auch massenhaft mobilisiert durch Influencer mit Hunderttausenden oder sogar Millionen Followern, dann lässt sich das nicht mehr ignorieren", sagt Jikeli.

Hinzu kommt, dass durch das Geschäftsmodell vieler sozialer Netzwerke antisemitische Nachrichten auch den Profit der Anbieter erhöhen, denn Social Media lebt von Emotionen. Hassnachrichten wecken starke Emotionen und triggern Reaktionen. Kombiniert mit der Logik von Facebook und Co. ergibt sich eine gefährliche Dynamik: Hassnachrichten führen zu mehr Interaktion und diese dazu, dass Nutzer mehr Zeit auf der Plattform verbringen. Das wiederum beschert den Unternehmen höhere Werbeeinnahmen. Die Forderung nach Strafverfolgung, Beschränkung und Löschung antisemitischer Social-Media-Inhalte stieß bei den Anbietern deshalb auf geringes Interesse. Nach extremen Vorkommnissen wie dem Sturm auf das Kapitol in den USA im Januar haben jedoch auch Facebook und Twitter reagiert und Beiträge gelöscht.

Als eindringlichsten Punkt macht Jikeli klar: "Der Online-Antisemitismus führt zu einer wesentlich schnelleren und einfacheren Radikalisierung von Antisemiten. Das Limit des antisemitischen Konsums liegt jetzt nicht mehr an der Erreichbarkeit, sondern nur noch an der eigenen Aufnahmefähigkeit." Er verweist auf den terroristischen Anschlag von Halle, bei dem im Oktober 2019 an Jom Kippur ein Attentäter versuchte, in der Synagoge versammelte Menschen zu töten. Der Täter veröffentlichte den Plan der Tat im Vorfeld im Netz. Sein Posting war auf Englisch und in Gamer-Sprache formuliert und verwendete typische antisemitische Kürzel. Er streamte die Tat live ins Internet und war inspiriert von der White-Supremacy-Bewegung in den USA und dem rechtsextremen Attentat von Christ Church. Dies zeigt, dass sich der Neonazismus internationalisiert hat und viele der Radikalisierungsprozesse über das Internet stattfinden.

Das Forschungsprojekt "Social Media & Hate Research Group" des Institute for the Study of Contemporary Antisemitism der Indiana University möchte das Ausmaß des Antisemitismus im Netz quantifizieren und aus den Ergebnissen Lösungsvorschläge ableiten. Die Forscherinnen und Forscher untersuchen antisemitische Beiträge auf der Social-Media-Plattform Twitter. Ziel des Forschungsprojektes ist es, zu beantworten, wie häufig judenfeindliche Beiträge auf Twitter vorkommen, wie sich Dynamiken entwickeln und wie sich Antisemitismus verbreitet. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen versuchen aber auch zu erarbeiten, was dem Hass gegen Jüdinnen und Juden entgegengesetzt werden kann und welche Rolle Social-Media-Unternehmen bei der Verhinderung der Verbreitung von antisemitischen Stereotypen einnehmen sollten.

Unter anderem widmete sich das Projekt dem Effekt von sogenannten Counternarratives. Counternarratives sind kritische Gegenerzählungen mit logischen oder moralischen Gegenargumenten, die den Hassbotschaften etwas entgegensetzen. In Rahmen des Forschungsprojektes entwickelten Studierende eigene Bots, die vier Strategien für Counternarratives verfolgten. Eine Strategie machte deutlich, dass der Beitrag antisemitisch ist und nicht gepostet werden sollte. Der zweite Bot machte sich über die Person lustig. Der dritte Ansatz lieferte neutrale Informationen zur Einordnung des Beitrags und in der vierten Strategie wurde auf einer persönlichen Ebene geantwortet und deutlich gemacht: "Dieser Beitrag hat mich verletzt."

Die Ergebnisse belegen, dass bei radikalen Antisemitinnen und Antisemiten keine der Strategien eine Wirkung zeigt. Im Gegenteil, häufig wurde die Antwort zum Anlass für weitere Beschimpfungen und persönliche Beleidigungen genommen. Bei den wenigen, die unbewusst einen antisemitischen Begriff verwendet hatten, zeigte sich jedoch durchaus eine Verhaltensänderung. In einem Fall kam eine Nachricht mit einer Entschuldigung zurück.

Hauptziel des Projektes ist es, etwa 3,5 Millionen Tweets zu bestimmten Schlagworten aus dem Zeitraum von Januar 2019 bis August 2020, welche die Forscherinnen und Forscher von der Plattform Twitter zur Verfügung gestellt bekommen haben auszuwerten. Für die qualitative Kodierung werden zunächst Samples mit 300 bis 400 Tweets gezogen und nach einem strikten Beispielkatalog als antisemitisch kodiert. Erste Ergebnisse zeigen, dass im Sommer 2020 ein Anstieg an judenfeindlichen Tweets zum Stichwort "Juden" trotz verstärkten Vorgehens gegen Hate Speech seitens Twitter zu beobachten ist. Jeder siebte Tweet mit dem Stichwort "Juden" und jeder achte mit dem Stichwort "Israel" erwies sich als antisemitisch. Häufig wurden stereotype Anschuldigungen über Macht und Geld verwendet, der Holocaust geleugnet oder verharmlost und Israel das Existenzrecht abgesprochen.

In den Workshops packten die Teilnehmenden der Tagung selbst mit an und lieferten einen Beitrag zur Forschung. Das Institute for the Study of Contemporary Antisemitism hat ein Annotationsportal geschaffen, über das die Twitter-Beiträge qualitativ kodiert werden. In den Workshops diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die richtige Kategorisierung potentiell antisemitischer Twitter-Beiträge. Angesichts des großen Datensatzes wird es noch eine Weile dauern, bis endgültige Ergebnisse vorliegen, doch die Studie wird neue Erkenntnisse über den Antisemitismus im Netz liefern.

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