Die Rolle der beruflichen Bildung für die Gesellschaft
So helfen Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe bei Wertebildung und Integration
Die berufliche Bildung ermöglicht nicht nur dem Einzelnen Sinnstiftung und finanzielle Unabhängigkeit. Sie erfüllt auch wichtige Funktionen für die Gesellschaft, indem sie jungen Menschen sowie Zugewanderten eine Perspektive bietet. So schafft sie eine Möglichkeit, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Im Rahmen der Tagung "Forum Politik und Handwerk trifft Wertebündnis Bayern: Neue Zeiten - Neue Bildung" der Akademie für Politische Bildung, des Bayerischen Handwerkstags und des Wertebündnisses Bayern haben Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft über die Zukunft der beruflichen Bildung in Deutschland und die Rolle von Werten in der Ausbildung diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 31.10.2023
Von: Amelie Wimmer / Foto: Amelie Wimmer
Programm: Forum Politik und Handwerk trifft Wertebündnis Bayern: Neue Zeiten - Neue Bildung
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Immer weniger junge Menschen entscheiden sich in Deutschland für eine Ausbildung. Im Jahr 2023 fehlten allein im Handwerk fast 237.000 Fachkräfte. Mit Blick auf den demografischen Wandel wird es umso wichtiger, den Fachkräftemangel auszugleichen. Vor allem da die berufliche Bildung neben der wirtschaftlichen Funktion weitere wichtige Aufgaben für eine funktionierende Gesellschaft und die Auszubildenden selbst erfüllt. Sie bringt neue Fachkräfte auf den Arbeitsmarkt und bietet vor allem für junge Menschen einen einfachen Zugang in die Arbeitswelt. Auch deshalb ist die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland gering. Die berufliche Bildung fungiert außerdem als Übergangssystem für die berufliche Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern sowie Studienabbrecherinnen und Studienabbrechern. Wie berufliche Bildung dem Fachkräftemangel entgegenwirkt und welche Werte in der Ausbildung wichtig sind, waren Themen der Tagung "Forum Politik und Handwerk trifft Wertebündnis Bayern: Neue Zeiten - Neue Bildung" der Akademie für Politische Bildung, des Bayerischen Handwerkstags und des Wertebündnisses Bayern.
Funktionen der Berufsbildung für die Gesellschaft
Eine Ausbildung als Facharbeiter sei ein Wohlstandsversprechen für eine breite Mittelschicht, sagt Stefan Rieder von der Stiftung Bildungspakt Bayern. Außerdem garantieren Fachkräfte eine funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft. Beispielhaft zu nennen sind hier Fachkräfte in der Pflege und im Einzelhandel, deren Bedeutung vor allem während der Corona-Pandemie deutlich wurde. Auch für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands spielen Fachkräfte eine wichtige Rolle, denn für Energiewende und Nachhaltigkeit werden ihre Expertinnen und Experten gebraucht.
Auf der Ebene des Individuums erfüllt eine Ausbildung noch weitere Funktionen. Neben Sinnstiftung und finanzieller Unabhängigkeit gibt Berufsbildung jungen Menschen das Gefühl, gebraucht zu werden. Diese Selbstwirksamkeitserfahrung bilde die Grundlage für gesellschaftliches Engagement und Verantwortungsübernahme, sagt Stefan Rieder. Viele junge Menschen befinden sich während ihrer Berufsschulzeit in einer Lebensphase, in der Wertebildung und Demokratiebildung unmittelbar relevant werden. Auszubildende erhalten beispielsweise ihren ersten Lohn, zahlen zum ersten Mal Sozialabgaben und schließen erste Verträge und Versicherungen ab. Außerdem sind viele von ihnen Erstwählerinnen und Erstwähler. Deshalb übernehmen Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe eine wichtige Aufgabe in der Vorbereitung der Auszubildenden auf die Berufswelt, aber auch auf das Leben in einer Demokratie.
Neben diesen Qualifikationen erlernen Auszubildende weitere soziale Werte und arbeitsbezogene Tugenden wie Verantwortungsbewusstsein, Teamfähigkeit, Fairness, Verlässlichkeit, Respekt und Höflichkeit. Dies geschehe aber eher informell durch die Praxiserfahrung in den Betrieben, sagt Friedrich Hubert Esser vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Die Qualität der Sozialisation der Auszubildenden in ihren Werten und Tugenden ist deshalb stark von den jeweiligen Ausbildungsbetrieben abhängig, sagt Franz Xaver Peteranderl, Präsident des Bayerischen Handwerkstags.
Zuwanderung als Ausgleich für den Fachkräftemangel?
Diese Vermittlung von Werten und Tugenden durch eine Ausbildung ist außerdem wichtig für die Integration von Menschen aus dem Ausland in die deutsche Gesellschaft. Doch viele von ihnen können beispielsweise aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht sofort in einem Ausbildungsbetrieb anfangen. Die Berufsschule zur Berufsintegration in München richtet sich an Zuwanderinnen und Zuwanderer zwischen 15 und 25 Jahren, die keinen in Deutschland anerkannten Schulabschluss und einen Sprachförderbedarf haben. Ziel der zweijährigen Ausbildung ist vor allem das Erlernen der deutschen Sprache, das Erlangen eines Schulabschlusses und die Vermittlung an einen Ausbildungsplatz, eine weiterführende Schule oder einen Arbeitsplatz, erklärt Schulleiter Eric Fincks.
Im aktuellen Schuljahr lernen an der Berufsschule zur Berufsintegration über 700 Schülerinnen und Schüler aus 59 unterschiedlichen Ländern in 36 Klassen. Ihnen müssen bis zu 440 unterschiedliche Ausbildungsberufe nähergebracht werden, die in Deutschland existieren. Denn viele kennen ihre Möglichkeiten nach der Schule gar nicht, sagt Fincks. Deshalb gibt es neben den üblichen Unterrichtsfächern wie Mathe, Deutsch, Politik und Gesellschaft fachpraktischen Unterricht. Hier gewinnen die Schülerinnen und Schüler einen Einblick in unterschiedliche Ausbildungen wie Pflege, Einzelhandel, Gastronomie, Holz- und Metalltechnik. Außerdem absolvieren die jungen Menschen in jedem Schuljahr Praktika. Die Bemühungen von Eric Fincks und seinen Kolleginnen und Kollegen zahlen sich aus: Im vergangenen Schuljahr haben 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Berufsschule für Berufsintegration mit einem Mittelschulabschluss beendet und zwölf Prozent mit einem Qualifizierenden Abschluss der Mittelschule. 50 Prozent der Absolventinnen und Absolventen des Schuljahres befinden sich in einem Ausbildungsverhältnis und 16 Prozent auf weiterführenden Schulen.
Die Herkunft der Schülerinnen und Schüler wirkt indirekt auf die Ausbildung ein. Denn das Herkunftsland beeinflusst den Aufenthaltsstatus und damit auch, ob junge Menschen überhaupt arbeiten und eine Ausbildung beginnen dürfen. An Motivation mangelt es den meisten seiner Schülerinnen und Schülern nicht, meint Fincks. Viele von ihnen konnten in ihrem Heimatland nicht zur Schule gehen und freuen sich, diese Möglichkeit zu bekommen. Vor allem junge Frauen sind motiviert, auf eigenen Beinen zu stehen, da ihnen die Chance zur Selbstverwirklichung durch eine Ausbildung in ihren Heimatländern oft verwehrt blieb. Eric Fincks sieht Zuwanderinnen und Zuwanderer als Chancen, den Fachkräftemangel in Deutschland zu beheben. Aber nur unter der Voraussetzung, dass die Politik, aber auch die Betriebe und die Gesellschaft bereit sind, in diese Zielgruppe zu investieren - beispielsweise durch Projekte wie die Berufsschule zur Berufsintegration.
Inklusion im Handwerk
Doch Zuwanderung allein wird den Fachkräftemangel nicht lösen. Das Handwerk ist mit einem jährlichen Umsatz von etwa 650 Milliarden Euro einer der stärksten Wirtschaftszweige in Deutschland. Dennoch werden immer weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen. Initiativen wie der Handwerkstag wollen jungen Menschen die Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten näherbringen. Franz Xaver Peteranderl verzeichnet bereits Erfolge: Die Menschen würden erkennen, wie komplex manche Ausbildungsberufe sind. Beispielsweise Optik und Akustik erfordern viel Wissen aus der Physik. Immer mehr Abiturientinnen und Abiturienten entscheiden sich deshalb für eine Ausbildung statt für ein Studium. Peteranderl sieht das als Gewinn für das Handwerk. Ein Problem ist jedoch weiterhin die männliche Dominanz der Berufe. Um mehr Frauen in handwerkliche Ausbildungen zu bekommen, muss an weiteren Stellschrauben gedreht werden.
Maren Kogge ist Kirchenmalermeisterin, führt ihr eigenes Unternehmen und sieht sich immer wieder mit Vorurteilen und Sexismus konfrontiert. Das ist abschreckend für junge Mädchen, die sich für eine Ausbildung im Handwerk interessieren, sagt die Miss Handwerk 2023. Oft halten männliche Kollegen sie für die Praktikantin, sprechen ihre männlichen Mitarbeiter automatisch als Chef an oder übergehen sie komplett. Auf Social Media thematisiert sie solche Situationen. Aus Gesprächen mit ihren Praktikantinnen berichtet Maren Kogge, dass die jungen Mädchen genau davon abgeschreckt sind, einen handwerklichen Beruf zu erlernen. Aber Kogge ist stolz, dass sich ihre Praktikantinnen im Anschluss alle für eine Ausbildung im Handwerk entschieden haben.
Ihr ist es wichtig, ein inklusives Handwerk zu schaffen, um die Tür für alle Menschen mit Interesse an handwerklichen Berufen zu öffnen. Denn im Angesicht des Fachkräftemangels werde jede Hand im Handwerk gebraucht. Sie selbst geht nicht nur als Vorbild für junge Mädchen voran, sondern versucht auch sonst ihren Betrieb so inklusiv wie möglich zu gestalten. Beispielsweise richtet sie in Rücksprache mit einem muslimischen Mitarbeiter während des Fastenmonats Ramadan einen Gebetsraum auf ihrer Baustelle ein. Mehr Inklusion bedeutet auch, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört und wertgeschätzt fühlen. Ein besseres Arbeitsklima kann nicht nur neue Auszubildende locken, sondern auch bereits ausgebildete Fachkräfte im Handwerk halten. Und Inklusion wirkt dem Fachkräftemangel entgegen, wenn Betriebe bereit sind, ein paar Schritte extra zu gehen.