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Digitalisierungswüste Deutschland?

Woran Verwaltung, Unternehmen und Bevölkerung bisher scheitern

Die Digitalisierung in Deutschland geht nur schleppend voran. Im internationalen Vergleich schneidet das Land bestenfalls mittelmäßig ab. Egal, ob öffentliche Verwaltung oder Unternehmen, häufig fehlen Strategien, um die digitale Transformation voranzubringen. Hinzu kommt eine digitale Spaltung der Gesellschaft in Onliner und Offliner. Woran der digitale Wandel scheitert und welche Maßnahmen Deutschland nach vorne bringen, haben Expertinnen und Experten diskutiert in der Tagung "Vom Wunschzettel zur Umsetzung: Den digitalen Strukturwandel gestalten" der Akademie für Politische Bildung, der Gesellschaft für Informatik e.V., der Initiative D21 e.V. und des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Informationstechnologierecht der Universität Passau.

Vom Wunschzettel zur Umsetzung: Den digitalen Strukturwandel gestalten

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Wir wären gerne Erster, aber wir würden uns nicht mal für Olympia qualifizieren", sagt Helmut Krcmar, Professor für Informatik an der Technischen Universität München, zum Stand der Digitalisierung in Deutschland. Während kleinere EU-Staaten wie Estland und Malta annähernd ihre gesamte Verwaltung digitalisiert haben, bieten deutsche Behörden in vielen Fällen ein PDF-Formular an, das ausgedruckt und unterschrieben wird. "Es gibt viel aufzuholen", sagt Krcmar und macht gleichzeitig Hoffnung: "Die föderalen Strukturen sind eine Chance der Vielfalt." Aus den vielen Verwaltungspiloten, die der Bund, 16 Bundesländer, fast 300 Landkreise und mehr als 11.000 Städte und Gemeinden auflegen, müssten Best-Practice-Beispiele gefiltert werden, um im europäischen Vergleich aufzuholen. Welche Maßnahmen Deutschland außerdem voranbringen können, haben Fachleute aus Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft in der Tagung "Vom Wunschzettel zur Umsetzung: Den digitalen Strukturwandel gestalten" diskutiert. Eingeladen hatte die Akademie für Politische Bildung zusammen mit der Gesellschaft für Informatik e.V., der Initiative D21 e.V. und dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Informationstechnologierecht der Universität Passau.

Schleppende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung

In den Augen von Helmut Krcmar fehlt in der Bundesrepublik bisher eine zentrale Koordinationsstelle, die sich bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung durchsetzt. Komplexe Verantwortlichkeiten und eine Silo-Struktur behindern die Zusammenarbeit, urteilt er. Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund beklagt außerdem, dass sich der öffentliche Sektor von der Digitalwirtschaft abschottet und sich häufig von einem Anbieter abhängig macht. Bei der Cloud-Infrastruktur sei es gelungen, Spielregeln zu definieren, an die sich auch die Konzerne halten. Diesen Weg schlägt er auch für die Digitalisierung der Verwaltung vor.

In erster Linie vermisst Alexander Handschuh aber finanzielle Mittel, um die Kommunen bei Digitalprojekten zu unterstützen. "Der Bund hat drei Milliarden zur Verfügung gestellt. Die bräuchten wir jedes Jahr, um voranzukommen", glaubt er. Von einer "Goldgräberstimmung" spricht hingegen Malte Spitz vom Nationalen Normenkontrollrat. Teilweise werde sogar zu viel Geld zur Verfügung gestellt und damit falsche Anreize geschaffen. Wichtiger als einmalige große Ausschüttungen sei die Planbarkeit. "Es kann nicht sein, dass jetzt noch nicht klar ist, welche Mittel 2024 zur Verfügung stehen", sagt der Politiker und Bürgerrechtler.

Außerdem fordert Spitz, die Nutzungszahlen digitaler öffentlicher Angebote zur Verfügung zu stellen, um herauszufinden, welche tatsächlich angenommen werden. "Bei manchen Dingen wollen die Leute vielleicht gar keine Digitalisierung, sondern hingehen, anrufen und Fragen stellen", glaubt er. Sandy Jahn von der Initiative D21 möchte den Erfolg einer Anwendung hingegen nicht nur an den Nutzungszahlen messen und nennt als Beispiel den digitalen Personalausweis, den gerade einmal zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger nutzen. Sie führt das nicht in erster Linie darauf zurück, dass das Angebot per se unattraktiv ist, sondern darauf, dass die wichtigsten Leistungen online nicht verfügbar sind. Außerdem fehlen laut Wolfgang Glock von der Gesellschaft für Informatik Informationen, um die Ausweis-App, die sich ständig verbessert, bekannter zu machen.

Mangelnde Digitalkompetenz der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland

Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebund ärgert sich über die schlechten Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger mit der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und verweist auf das Bild, das im Vergleich mit Konzernen entsteht: "Man kann bei Amazon etwas bestellen und das liegt am nächsten Tag vor der Haustür. Beim Amt kann ich ein PDF einscannen und mit dem digitalen Personalausweis rumwedeln. Das sind unverhältnismäßige Sicherheitshürden."

Viele Bürgerinnen und Bürger wären allerdings gar nicht in der Lage, selbst die besten digitalen Angebote zu nutzen. Sandy Jahn zufolge ist ein Drittel der Bevölkerung nicht für den digitalen Wandel gewappnet. Denn dafür sind Zugänge und Digitalkompetenzen nötig. Im Schnitt sind die sogenannten Offliner 76 Jahre alt. Doch auch unter den Digital Natives gibt es zwei Gruppen: diejenigen, die Digitalisierung durchwegs positiv bewerten und am liebsten alles digital erledigen wollen und diejenigen, die die Digitalisierung auch kritisch sehen, sich um die Demokratie sorgen und manchmal lieber offline wären. Jahn spricht deshalb von einer digitalen Spaltung Deutschlands.

Die digitale Transformation als Herausforderung für den deutschen Mittelstand

Die betrifft auch die Unternehmen. "62 Prozent haben keinen Plan", zitiert Helmut Krcmar aus einer Bitkom-Studie zur digitalen Transformation des deutschen Mittelstands. Dabei gilt: Je größer ein Unternehmen, desto eher existiert dort eine Digitalisierungsstrategie. In kleinen Unternehmen, die den Großteil des deutschen Mittelstands ausmachen, fehlt diese häufig. Entscheidend sind für Krcmar kleine Schritte, denn jede digitale Transformation sei anders. "Es gibt kein Patentrezept", betont er.

Sein Kollege Thomas Hess von der LMU Munich School of Management vermisst vor allem in der Unternehmensführung Digitalkompetenz und sieht darüber hinaus strukturelle Probleme. "Organisationen, egal ob öffentlich oder privat, sind nicht darauf ausgelegt, etwas Neues zu machen", erklärt er. Die Digitalisierung bedeute eine zusätzliche Aufgabe zum "daily business" und weckt in Teilen der Belegschaft die Angst vor der eigenen Abschaffung. Hess rät dazu, Begeisterung für das Thema zu schaffen und innerhalb der gesamten Organisation nach guten Ideen zu suchen, statt die digitale Transformation allein der IT-Abteilung zu überlassen. Je nach Unternehmensgröße und Produkt, können die konkreten Maßnahmen sehr unterschiedlich ausfallen. Ein breiterer Ansatz beinhaltet in den meisten Fällen, dass eine Organisation neue Einheiten bildet und darin neue Rollen etabliert.

Hoffnung auf den digitalen Wandel macht Benedikt Göller von Agora Digitale Transformation. Auch wenn die Wirkung noch nicht bekannt ist, lobt er den Ansatz, dass die Bundesregierung alle geplanten Maßnahmen in einer Digitalstrategie für Deutschland zusammengefasst hat. Bis 2025 will sie konkrete Vorhaben umsetzen. Dazu zählen unter anderem Glasfaseranschlüsse für die Hälfte der Haushalte, die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen mit Hilfe staatlicher, digitaler Identitäten und die Einführung einer digitalen Patientenakte.

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