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Demographie und Farbenlehre

Kommentar zur Bundestagswahl 2021 von Ursula Münch

Vieles an der Wahl zum 20. Bundestag war bemerkenswert. Einige Auffälligkeiten standen schon früh fest: die erste Bundestagswahl mit Corona, aber ohne Wiederwahlabsicht der Amtsinhaberin, oder auch die Mühen der Triell-Choreographie. Ein Beitrag von Ursula Münch aus dem Akademie-Report 4/2021.

Tutzing / Akademie-Report / Online seit: 22.10.2021

Von: Prof. Dr. Ursula Münch / Foto: Zapf

Akademie-Report 4/2021

Demokratie in Verhandlung
Akademie-Report 4/2021

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Andere Besonderheiten sind - zum Teil absehbare - Folgen des Wahlergebnisses: Dass nur ein Dreierbündnis den Weg aus der ungeliebten "Groko" bahnen kann, war ebenso leicht vorherzusagen, wie der hohe Anteil der Briefwählerinnen und Briefwähler mitsamt dessen unerquicklichen Folgen für Wahlkampfmanagement und Parteizentralen sowie Überzeugungsversuche im privaten Umfeld. Anderes überraschte aber dann doch: Die Wandlung des schlafwagenfahrenden Unionskanzlerkandidaten zum Kämpfer hätten ihm nur wenige zugetraut. Spätes Lob aus Bayern für diesen Einsatz ist aber schon deshalb nicht zu erwarten, weil dieses Engagement vor allem der persönlichen Sorge von Armin Laschet geschuldet schien, denselben Karriereweg einzuschlagen wie Martin Schulz. So sind es also doch andere Facetten des Wahlergebnisses, die tatsächlich überraschten: Neben demographischen Aspekten vor allem die Erkenntnis, dass immer noch nicht zusammengewachsen ist, was seit dem 3. Oktober 1990 definitiv zusammengehört.

Demographie ist überraschungsfrei: Dass Ungeborene keine Kinder haben, ist bekannt und unabänderlich. Es zeichnete sich deshalb schon seit langem ab, dass bei dieser Bundestagswahl weniger Personen unter 30 Jahren wahlberechtigt sein würden als noch bei der Bundestagswahl 2017. Ebenfalls berechenbar war der hohe Anteil der Wählerinnen und Wähler über 60 Jahre: Von den insgesamt etwas mehr als 60 Millionen Wahlberechtigten sind ca. 23 Millionen (38 Prozent) vor 1961 geboren. Deutlich kleiner dagegen die Zahl der Erstwählerinnen und Erstwähler: 2,8 Millionen Menschen nahmen am 26. September erstmals an einer Bundestagswahl teil, das entspricht einem Anteil von ca. 4,6 Prozent. Bereits bei früheren Wahlen hatten sich die jungen Wählerinnen und Wähler häufiger für Bündnis 90/Die Grünen als für andere Parteien entschieden. Recht neu ist hingegen der Trend, dass junge Wählerinnen und Wähler ebenso häufig FDP wählen: Laut Infratest Dimap schnitten die Grünen und die FDP bei den Erstwählerinnen und -wählern jeweils mit einem Anteil von 23 Prozent ab; in der etwas größeren Altersgruppe der unter 24-Jährigen hatten die Grünen die Nase vorn: 23 Prozent versus 21 Prozent. Diametral entgegengesetzt ist das Wahlverhalten der über 70-Jährigen, von denen ca. 38 Prozent für die Unionsparteien und ca. 35 Prozent für die SPD stimmten.

"Kosmopoliten" vs. "Kommunitaristen"

Diese Daten scheinen die These zu bestätigen, dass Wahlverhalten vor allem ein Resultat von Generationenzugehörigkeit ist: Demnach unterscheiden sich die Mitglieder einer bestimmten Generation aufgrund ihrer spezifischen Sozialisationserfahrungen während des gesamten Lebens vom politischen Verhalten früher oder später Geborener. Dieser Erklärungsansatz für die Unterschiede im Wahlverhalten von Jüngeren und Älteren würde bedeuten, dass im Zeitverlauf bestimmte Generationen wegbrechen. Die These von der Generationenzugehörigkeit der Wählerschaft stellt demnach vor allem den Volksparteien eine ausgesprochen düstere Zukunft in Aussicht. Sie konkurriert jedoch mit der Annahme, dass Wahlverhalten mit bestimmten Lebensphasen korreliert und sich Einstellungen im Laufe eines Lebens ändern. Der Lebensphasenansatz umschreibt eine in Zeiten eines anderen Parteiensystems formulierte Alltagsbeobachtung: "Wer mit 20 kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch Sozialist ist, hat keinen Verstand". Schlüge sich diese Volksweisheit in tatsächlichem Wahlverhalten nieder, dann könnten die Unionsparteien angesichts der steigenden Lebenserwartung auch künftigen Wahlen recht entspannt entgegenblicken - eigentlich. Fraglich scheint jedoch, ob eine derartige altersspezifische Positionierung bei der sog. Konfliktlinie "Arbeit versus Kapital" auch auf die neue "kulturelle" Konfliktlinie übertragen werden kann: Hier stehen ökologisch orientierte, sich weltoffen gebende "Kosmopoliten" der Gruppe der sog. "Kommunitaristen" gegenüber, die häufig über einen geringeren formalen Bildungsgrad verfügen, in eher strukturschwachen Regionen leben und auf einen starken Nationalstaat setzen, von dem sie Migrationskontrolle und sozialen Schutz erwarten. Ob sich die damit verbundenen Positionierungen hinsichtlich des Stellenwerts von Klimaschutz und Ökologie im Laufe der beruflichen oder familiären Etablierung ähnlich stark verändern wie ideologische Präferenzen ("Freiheit statt Sozialismus"), darf bezweifelt werden: Es spricht viel dafür, dass gerade die Gründung einer Familie Wählerinnen und Wähler für die Ziele Klima- und Umweltschutz noch empfänglicher macht.

Fluidität des "Wählermarktes" bleibt

Gänzlich unbestritten ist in der Wahlforschung ein anderer Sachverhalt: Die Jüngeren fühlen sich noch weniger als die Generationen ihrer Eltern oder Großeltern einer bestimmten Partei verbunden. Seit 1980 ist bei jeder neuen Kohorte von Wahlberechtigten die Parteibindung im Vergleich zur vorhergehenden Generation schwächer ausgeprägt. In der Folge werden weitere Parteien im freiheitlich-demokratischen Spektrum in die eigene Wahlentscheidung mit einbezogen. Das heißt, immer mehr Wählerinnen und Wähler können sich vorstellen, auch eine andere Partei als die eigentlich präferierte zu wählen. Mit Ausnahme der AfD-Gefolgschaft, die eher selten in Alternativen zu denken scheint, bestehen alle Anhängerschaften inzwischen aus ca. drei Vierteln Wechselwählern (so die KAS-Studie "Vermessung der Wählerschaft"). Demographisch bedingte Tendenz: steigend. Die Fluidität des "Wählermarktes" (Viola Neu/Sabine Pokorny) wird uns also auch bei künftigen Wahlen erhalten bleiben. Dass dieses Phänomen auf der Bundesebene erst 2021 so deutlich zum Tragen kam, ist auch darauf zurückzuführen, dass die langjährige CDU-Parteivorsitzende (2000-2018) und Bundeskanzlerin (seit 2005) Angela Merkel für die Union nicht nur Wähler, sondern vor allem Wählerinnen mit grundsätzlich anderer Parteipräferenz mobilisieren konnte: Die innerhalb der Union reichlich ungeliebte "Sozialdemokratisierung" hatte für CDU und CSU also nicht nur Nachteile.

Die Auffälligkeit des Bundestagswahlergebnisses 2021 mit Blick auf Altersgruppen ist das eine. Hinzu tritt als weiteres Phänomen dieser Wahl eine neue geographische Ausdifferenzierung: Wie bereits bei früheren Wahlen ist die Wahlkarte unterschiedlich eingefärbt: Nimmt man als Bezugspunkt die durch das Bundeswahlgesetz festgelegte Zahl der 299 Direktmandate zeigt sich, dass sich die in den Wahlkreisen von CDU/CSU (143), SPD (121), Bündnis 90/Die Grünen (16), AfD (16) und Linken (3) gewonnenen Mandate gemäß regionaler Hochburgen verteilen: Die Unionsparteien waren vor allem im Süden und in Teilen des Westens erfolgreich (jeweils mit grünen Einsprengseln). Dagegen erzielte die AfD ihre Erststimmenerfolge ausschließlich in Sachsen (10 von dort insgesamt 16 Direktmandaten), Sachsen-Anhalt (2 von 9 Direktmandaten) sowie in Thüringen (4 von 8 Direktmandaten). Dass es den Sozialdemokraten bzw. besser gesagt ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz gelang, wieder Wählerschichten zu erreichen, die sich vor allem unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) (1998-2005) abgewandt hatten, zeigt nicht nur die (neue) soziodemographische Zusammensetzung der SPD-Wählerschaft, sondern ebenfalls die Wahlkarte. Diese unterscheidet sich von früheren Ausmalungen durch eine geringe Schwarzfärbung Ostdeutschlands. Ohne die Erfolge der Bundes-SPD in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und im Norden Sachsen-Anhalts würde die Karte der Direktmandate ein gespaltenes Deutschland widerspiegeln.

Nachdem die Unionsparteien, aber eben auch die FDP sowie Bündnis 90/Die Grünen in Westdeutschland deutlich bessere Erst- und Zweitstimmenergebnisse holten als in der Fläche der "neuen" Länder, lässt sich auch ein Bezug zu den möglichen Koalitionsoptionen herstellen: Eine "Jamaika-Koalition" aus Union, Grünen und FDP entspräche dem Wahlverhalten im Westen der Republik. Die "Ampel" aus SPD, Grünen und FDP wird den gesamtdeutschen Parteipräferenzen stärker gerecht. Und eine "GroKo" - dieses Mal unter Führung der Sozialdemokraten - ist nicht nur im Wahlvolk sowie der CSU sehr unbeliebt. Sie wäre mit Blick auf ihre Wählerschaft tatsächlich eine "alte" Koalition.

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