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Gemeinsinn in der Krise?

Diskussion über gesellschaftlichen Zusammenhalt in Demokratien

Gemeinsinn und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind entscheidende Faktoren für eine funktionierende Gesellschaft. In einer Demokratie ist es wichtig, dass Menschen miteinander interagieren, sich gegenseitig unterstützen und sich für das Wohl der Gemeinschaft einsetzen. Was macht Gemeinsinn und gesellschaftlichen Zusammenhalt aus und wie können wir ihn stärken? Diese Fragen haben Akademiedirektorin Ursula Münch, Claus Oberhauser von der Pädagogischen Hochschule Tirol und Nicole Harth vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt zum Auftakt des Werkraums Demokratie der Akademie für Politische Bildung, Bayern 2 und der Nemetschek Stiftung diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 18.03.2024

Von: Rebecca Meyer / Foto: Konstantin Hadzi-Vukovic

Programm: Wer, wenn nicht wir?

Wer, wenn nicht wir? Werkraum Demokratie 2024

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Es gebe mittlerweile Themen, die im Gespräch aus Angst vor negativen Reaktionen gemieden werden, sagt Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung. Das führe zu mehr Spannungen in der Gesellschaft und erschwere den Austausch zwischen den Bürgerinnen und Bürgern. Sie wünscht sich mehr offene Diskussionen, um Gemeinsamkeiten zu finden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Wie das gelingt, hat sie beim diesjährigen Werkraum Demokratie "Wer, wenn nicht wir?" der Akademie für Politische Bildung, Bayern 2 und der Nemetschek Stiftung mit dem Historiker und Politischen Bildner Claus Oberhauser von der Pädagogischen Hochschule Tirol und der Sozialpsychologin Nicole Harth vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt auf dem Podium diskutiert.

Vereine als Räume des Austauschs gesellschaftlicher Gruppen

Claus Oberhauser sieht vor allem Vereine als Institutionen, um unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen anzusprechen. Dort wäre ein Austausch über politische Themen mit größeren Bevölkerungsgruppen möglich, da Vereinsmitglieder oft aus allen gesellschaftlichen Schichten stammen. Gleichzeitig herrscht in Vereinen eine lockerere Atmosphäre, die dazu führt, dass Personen sich frei äußern, leichter miteinander ins Gespräch kommen und weniger Angst haben, vermeintlich tabuisierte Themen anzusprechen. Oberhauser wünscht sich mehr Arenen des Austauschs, die nicht ideologisiert und monologisiert sind. "Man muss Diskussionen auch wieder offen führen können", sagt er. Die Corona-Pandemie habe die Polarisierung der Gesellschaft verschärft. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, müssen politische Diskussionen gefördert und Räume für einen konstruktiven Austausch geschaffen werden.

Bürgerinnen und Bürger müssen aber nicht rund um die Uhr im Dialog sein oder sich auf dem neuesten politischen Stand befinden, betont Nicole Harth. Das kann ziemlich anstrengend sein - auch weil wir durch die Digitalisierung jeden Konflikt intensiver erleben. Durch die globale Vernetzung sind Auseinandersetzungen, die geographisch eigentlich weit entfernt sind, in Sekundenschnelle auf unseren Smartphones sichtbar. "Man muss ein Stück weit lernen, auszublenden. Deswegen ist man aber nicht direkt unpolitisch", sagt die Sozialpsychologin und ergänzt, dass Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmer vor allem versuchen sollten, offen für die Ansichten der anderen zu sein. Sie betont die Tendenz, sich und andere in Schubladen zu stecken und aufgrund von Vorurteilen nicht in den Dialog einzutreten. Dabei ist Vorsicht geboten, denn Schubladendenken sei zwar ein Stück weit menschlich, könne aber einen Nährboden für Populismus und Verschwörungsmythen schaffen.

Politische Bildung für alle Generationen

Diese Phänomene stellen die politische Bildung vor Herausforderungen. Das Grundproblem sieht Ursula Münch darin, dass politische Bildung einen nennenswerten Teil der Bevölkerung nicht erreicht. Zwar werden die Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung immer vielfältiger, der Großteil der Bevölkerung nutze diese Angebote aber nicht. Die Folge sind weniger gemeinsame Themen innerhalb der Gesellschaft. Was die politische Bildung betrifft, beobachtet Ursula Münch, dass sie vor allem die Menschen "beschallt", die sich ohnehin selbstständig in diesen Themen weiterbilden. Dreh- und Angelpunkt, um die breite Masse zu erreichen, sei deshalb die Schule. "Durch die muss jeder durch", sagt Münch. Die Akademie für Politische Bildung kooperiert auch deshalb mit der Akademie für Lehrerfortbildungen und Personalführung in Dillingen und gelangt mit ihren Inhalten so in die Klassenzimmer. Münch ergänzt, dass es bei den Fortbildungen für Lehrkräfte auch darum gehe, Lehrkräften mehr Sicherheit im Umgang mit Unwahrheiten und extremistischen Äußerungen zu geben.

Die Erfahrungen aus dem Unterricht teilen Schülerinnen und Schüler wiederum in ihrem häuslichen Umfeld und bringen auf diese Weise auch politische Themen an den Abendessenstisch. Claus Oberhauser gibt allerdings zu bedenken, dass Schulen die Eltern nicht miterziehen können und diese weiterhin bewusst oder unbewusst die Einstellungen ihrer Kinder beeinflussen. Auch deshalb sei Wissensvermittlung für ältere Generationen genauso wichtig.

Medienkompetenz fördert gesellschaftlichen Zusammenhalt

Ursula Münch weist darauf hin, wie zentral Medienbildung sei. Denn Medienkompetenz und digitale Kompetenz tragen dazu bei, dass Menschen informierte Entscheidungen treffen, kritisch und verantwortungsbewusst sind, was wiederum den Gemeinsinn und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Schwierig sei, dass auf den vielen Informationskanälen nicht mehr gefiltert werde. Auf Social-Media-Plattformen wie TikTok, Facebook, Instagram, X (ehemals Twitter) werden Inhalte im Gegensatz zu Zeitungen, Fernseh- oder Radiosendern ohne Prüfung geteilt. "Einmal haben wir die Schleusenwärter, die einordnen, filtern und moderieren - und im Grunde auch mäßigen. Das andere kommt direkt bei uns an, da guckt niemand drauf, prüft niemand. Beides kommt aber an denselben Endgeräten an", sagt Münch. Es sei für alle Generationen gleichermaßen schwierig, zu unterscheiden, welche Informationen verlässlich sind.

Harth pflichtet Münch bei, erinnert aber daran, dass - entgegen von Stereotypen - vor allem ältere Menschen Probleme haben, Medien kritisch zu hinterfragen. Sie verweist dabei auf mehrere Studien. Die Medienbildung von Jugendlichen sei wichtig, die von Älteren aber noch wichtiger. Die Sozialpsychologin betont, dass Strukturen nötig sind, die eine Verbindung zu bisher nicht erreichten Gruppen herstellen - auch im digitalen Raum. Claus Oberhauser bereitet es Sorgen, dass kaum Inhalte aus dem Internet entfernt werden können. Deshalb sei es wichtig, Menschen dabei zu helfen, Informationen besser einzuordnen. Der Politische Bildner verweist auf den TikTok-Kanal der Tagesschau, der mittlerweile einer der meistgesehenen Nachrichtenkanäle auf der Plattform ist. Er erreicht größtenteils Jugendliche, die dieses Medium viel im Alltag nutzen.

Harth ergänzt, dass vor allem bestehende Strukturen richtig bespielt und kreativ genutzt werden müssen. Statt neuen Formaten für die klassischen Medien sollte sich der Fokus auf Plattformen wie Instagram und TikTok verlagern. Dort brauche es ein Gegengewicht zu Falschinformationen und polarisierenden Inhalten. Eine Emotionalisierung politischer Diskussionen, auch auf Social-Media, schade dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Indem wir uns gegen Schwarz-Weiß-Denken wenden, schaffen wir ein Klima, das toleranter und offener ist und den Gemeinsinn stärkt.

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