Wie gespalten ist unsere Gesellschaft?
Ulrike Scharf und Ursula Münch diskutieren über Radikalisierung und Zusammenhalt
Das Thema "Spaltung der Gesellschaft" hat Hochkonjunktur, denn Krisen wie die Corona-Pandemie und die aktuelle Inflation stellen die Gesellschaft vor eine Herausforderung. Aber zieht sich wirklich eine Kluft durch unsere Mitte? Wie es um das Miteinander in Deutschland bestellt ist und wie sich der Zusammenhalt stärken lässt, haben die Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, Ulrike Scharf, und Akademiedirektorin Ursula Münch an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 22.07.2022
Von: Theresa Schell / Foto: Nikolaus Schäffler-StMAS
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"Wir haben 100 Milliarden für die Bundeswehr, dann muss auch Geld für die Menschen da sein", findet Ulrike Scharf, Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales. Deutschland kämpft mit der Corona-Pandemie, steigenden Energiekosten und Inflation. Viele Bürgerinnen und Bürger sorgen sich aktuell, wie sie im Winter ihre Wohnung heizen und den Kühlschrank füllen. Die Preissteigerungen sind schmerzhaft. Deshalb hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten ein Entlastungspaket beschlossen. Neben dem Neun-Euro-Ticket und dem Tankrabatt für Diesel und Benzin an deutschen Tankstellen umfasst es Sonderzahlungen wie die Energiepauschale, den Kinderbonus und den Hartz-IV-Bonus. Pauschale Sonderzahlungen kritisiert die bayerische Sozialministerin allerdings als kleine Pflaster, die nur kurzfristig helfen. Sie fordert vom Bund, die Menschen passgenau zu unterstützen, die jetzt wirklich finanzielle Hilfen benötigen. Das gelinge in einem ersten Schritt durch Steuererleichterungen - auch wenn der Staat aktuell eigentlich mehr Geld einnehmen müsste. An der Akademie für Politische Bildung hat Ulrike Scharf mit Akademiedirektorin Ursula Münch darüber diskutiert, ob die aktuellen Krisen das Potenzial besitzen, unsere Gesellschaft zu spalten und wie wir dem verbeugen.
Auch Ursula Münch spricht sich bei staatlicher Unterstützung gegen das Gießkannenprinzip aus, bei dem alle Bevölkerungsgruppen gleich profitieren. Sie wirft aber die Frage auf, wie der Staat Bedürftige überhaupt zielgenau erreicht. Das sei kompliziert und führe zu Neiddebatten. "Aber Streit gehört eben zur Demokratie", betont sie. Ursula Münch sorgt sich eher darum, dass sich immer größere Teile der arbeitenden Gesellschaft das alltägliche Leben nicht mehr leisten können. Diese Not könnten extremistische Gruppierungen nutzen und instrumentalisieren. "Auf die Sozialministerin kommen keine rosigen Zeiten zu", prognostiziert die Akademiedirektorin. Krisen wie die aktuelle Inflation können eine Gesellschaft auseinandertreiben.
Politische Bildung als Prävention gegen Extremismus und Radikalisierung
Das liegt daran, dass Krisen nicht nur an und für sich problematisch sind, sondern diese auch Extremismus und Radikalisierung fördern. Um das zu verhindern, pocht Ursula Münch auf Prävention durch politische Bildung. Die Akademiedirektorin setzt dabei auf Institutionen, die alle besuchen, wie Schule und Kindergarten. Sie gibt jedoch zu, dass das viel vom Personal abverlange. Lehrkräfte müssen, dafür gut ausgebildet werden. Außerdem ist ihr wichtig, dass Informationsmaterialien über staatliche Angebote in der Gesellschaft gut sichtbar sind, zum Beispiel durch Aushänge in Schulhäusern und im Nahverkehr.
Auch Ulrike Scharf stellt Prävention in den Mittelpunkt, da diese eine staatliche Aufgabe ist. Sie fordert mehr politische Bildung, um ein Bewusstsein zu schaffen, was Demokratie für den Einzelnen bedeutet. Ihr ist es wichtig, die Demokratie zu schützen und zu wahren. Gleichzeitig warnt sie davor, Schulen zu überlasten. Zwar sind Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen gute Stellschrauben, aber auch Eltern müssen in die Verantwortung gezogen werden. Die Familie ist die kleinste Einheit der Gesellschaft, deshalb soll auch in der Familie selbst für gesellschaftspolitische Themen sensibilisiert werden. Damit Betroffene Hilfe bekommen, wenn sich eine Person in ihrem Umfeld radikalisiert, führt das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales auf seiner Website eine Liste mit Initiativen und Maßnahmen seiner Projektträger und Kooperationspartner, beispielsweise zum Themenspektrum Verschwörungsmythen. Viele Angebote sind niederschwellig, um Menschen leicht zu erreichen und zum Handeln zu animieren.
Antisemitismus in Krisenzeiten am Beispiel der Corona-Krise
Die Corona-Pandemie hat Verschwörungsmythen einen Boom beschert. Unter anderem Antisemitismus ist wieder ein hochaktuelles Thema in Deutschland. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern), die vom Bayerischen Sozialministerium gefördert wird, sammelt antisemitische Vorfälle, die von Beeildigungen bis zu Straftaten reichen. Ein Bericht des Bundesverbands RIAS aus dem Jahr 2020 zitiert Aussagen auf Corona-Demonstrationen, die die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik verharmlosen, indem sich Demonstrierende mit verfolgten Jüdinnen und Juden vergleichen. Immer wieder waren auf den Straßen gelbe Sterne mit Aufschriften wie "Ungeimpft" zu sehen. Offenbar sehen antisemitische Gruppierungen die Pandemie als Anlass zur Reaktivierung von Verschwörungsmythen. Dahinter steckt ein altes Muster, nachdem Jüdinnen und Juden in Krisenzeiten immer wieder zu Sündenböcken gemacht werden. Besonders digitale Kommunikationsmöglichkeiten verstärken ein solches Feindbilddenken. Aus diesem Grund sind Sozialministerin Ulrike Scharf die staatlichen Initiativen so wichtig. Radikalisierung gehe teilweise sehr schnell vonstatten, deshalb ist es von großer Bedeutung, eine frühzeitige Beratung zu ermöglichen, sagt sie.
Bürgerinnen und Bürger während der Corona-Krise erreichen
Genauso wichtig ist es, sich um abgehängte Menschen in der Gesellschaft zu kümmern. Bayern ist wirtschaftlich sehr stark und laut Ulrike Scharf auch sozial stärker als andere Bundesländer, diesen Vorteil müsse man nutzen. Während der Corona-Pandemie wurden besonders Jugendliche abgehängt, stellt sie fest. Deshalb setzt das Sozialministerium neben ihren Pädagoginnen und Pädagogen auch auf digitale Streetworkerinnen und Streetworker. Sie bewegen sich ausschließlich im Netz und arbeiten vor allem am Wochenende, um Jugendliche zu erreichen. Mit Erwachsenen in Kontakt zu treten und sie in die Gesellschaft zu integrien sei eine gemeinsame Anstrengung von Staat, Vereinen und Verbänden, sagt die Sozialministerin. Auch Ursula Münch empfindet ehrenamtliches Engagement als gute Möglichkeit, um Menschen zu erreichen und zusammenzubringen. Ein großes Problem sieht sie darin, dass gerade die Menschen, die sich nicht sichtbar machen, aus dem Blickfeld geraten.
Spalten Krisen die Gesellschaft?
Laut Ursula Münch habe sich die Politik zu wenig um den unsichtbaren Teil der Bevölkerung gekümmert. Sie sieht, dass die Gesellschaft im vergangenen Jahrzehnt infolge verschiedener Krisen an der ein oder anderen Stelle etwas auseinandergegangen ist, von einer Spaltung spricht sie jedoch nicht. Auch Ulrike Scharf denkt, die Gesellschaft ist eher nicht gespalten. Das macht sie vor allem an der aktuellen Hilfsbereitschaft im Zuge des Kriegs in der Ukraine fest. An den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die sich engagieren und ukrainisiche Geflüchtete aufnehmen, spüre man wie groß Zusammenhalt, Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft sind.