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Globale Perspektiven auf Russland und die Ukraine

Nicht-westliche Staaten vermeiden Kritik am Angriffskrieg

Seit dem russischen Angriff im Februar 2022 steht der Westen fast geschlossen hinter der Ukraine. USA und EU verurteilen Russland als Aggressor und belegen das Land mit Sanktionen, während sie der Ukraine Waffen liefern. In anderen Teilen der Welt ist längst nicht so klar, wer Freund und wer Feind ist. Staaten des Globalen Südens pflegen weiterhin gute Beziehungen nach Russland - oft ohne sich von der Ukraine abzukehren - und stehen dem Westen skeptisch gegenüber. In der Tagung "Perspektivenwechsel: Ein Blick von außen auf den Ukrainekrieg und die Zeitenwende" der Akademie für Politische Bildung und der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau haben Fachleute die Beurteilung des Ukrainekriegs in verschiedenen Regionen verglichen.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 11.01.2024

Von: Beate Winterer / Foto: Beate Winterer

Programm: Perspektivenwechsel

Perspektivenwechsel: Ein Blick von außen auf den Ukrainekrieg und die Zeitenwende

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Ägypten verurteilt den Angriff auf die Ukraine, aber auch die Sanktionen gegen Russland", sagt Sherin Gharib von der Universität Wien. Das nordafrikanische Land importiert Getreide aus der Ukraine und kooperiert im Bereich Rüstung und Energie mit Europa. Doch während der Westen fast geschlossen hinter der Ukraine steht, unterhält Ägypten weiterhin auch enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Die beiden Staaten bauen zum Beispiel gerade gemeinsam Ägyptens erstes Atomkraftwerk. Wie Ägypten vermeiden es auch andere Staaten, insbesondere im Globalen Süden, sich auf die Seite einer Konfliktpartei zu stellen. Die Tagung "Perspektivenwechsel: Ein Blick von außen auf den Ukrainekrieg und die Zeitenwende" der Akademie für Politische Bildung und der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau hat sich mit den Gründen für diese ambivalente Haltung beschäftigt.

Ägypten und Brasilien betonen Blockfreiheit

Sherin Gharib glaubt, die ägyptische Regierung wolle sich durch die intensiven Kontakte zu Russland aus der engen Bindung zum Westen lösen. Präsident Abd al-Fattah as-Sisi fühlt sich von Europa und den USA im Stich gelassen und wirft ihnen Heuchelei vor, da sie Menschenrechtsverletzungen in seinem Land anprangern. Gleichzeitig bleibt die EU Ägyptens wichtigster Handelspartner und die beiden Parteien kooperieren erfolgreich bei der Bekämpfung der irregulären Migration und des internationalen Terrorismus.

Ähnlich wie Ägypten agiert Brasilien unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. "Das Land verfolgt eigene Interessen und macht sich nicht die Haltung einer Kriegspartei zu eigen", sagt Uta Grunert von der Kooperation Brasilien. Den russischen Angriff auf die Ukraine hat Lula lang nicht als solchen bezeichnet. Inzwischen sieht er sich in der Position eines neutralen Vermittlers und schlägt eine Friedensinitiative vor. Waffenlieferungen und Nachbeschaffung sieht er kritisch, da deren Finanzierung zulasten von Entwicklungsprojekten geht. Brasilien betont die wirtschaftliche Benachteiligung des Globalen Südens, vor allem im Umgang mit dem Klimawandel, und stellt sich gegen die Vorherrschaft des US-Dollars. Diese Rhetorik kommt in Russland gut an. In Menschenrechtsfragen vertritt Brasilien allerdings eher westliche Positionen. Grunert erkennt in dieser Haltung ein "klassisches Interesse des Globalen Südens", der nach Blockfreiheit strebt.

Die Türkei als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine

Die Türkei bilde gemeinsam mit Russland eine "Achse der Ausgeschlossenen", sagt Hakan Akbulut von der Rheinland-Pfälzischen Technischen Hochschule Kaiserslautern-Landau. Obwohl die Türkei Mitglied der NATO ist, befindet sie sich wie Russland aktuell in einem schwierigen Verhältnis zum Westen. Ihr fehlt die Perspektive für einen EU-Beitritt, sie trägt Konflikte mit Griechenland und Zypern aus und streitet mit den USA über die Auslieferung von Fethullah Gülen, den Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Putschversuch 2016 verantwortlich macht. Russland hingegen ist der wichtigste Energielieferant des Landes. 35 bis 40 Prozent ihres Erdgases bezieht die Türkei von dort. Gleichzeitig ist Russland ein wichtiger Absatzmarkt für türkische Agrarprodukte und ein Betätigungsfeld für türkische Bauunternehmen. Zur Ukraine unterhält die Türkei ebenfalls gute Beziehungen. 2020 haben die beiden Staaten eine militärische Kooperationsvereinbarung getroffen, die unter anderem die Produktion von Drohen in der Ukraine beinhaltet. "Die Türkei will ihre Fähigkeiten in der Rüstungsindustrie ausbauen. In diesem Bereich ist die Ukraine fortschrittlicher", sagt Akbulut.

"Die Türkei ist pro Ukraine, aber nicht anti Russland", fasst er die Situation zusammen. Wegen der engen Beziehungen zu beiden Konfliktparteien beteiligt sich das Land nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland, spricht jedoch offiziell von einem Krieg und verweigert russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen ins Schwarze Meer. Im Ukrainekrieg sieht sich die Türkei als Vermittlerin und treibt eine Verhandlungslösung voran. Erste Erfolge erzielte Präsident Erdogan bei den erfolgreichen Verhandlungen über einen Getreidedeal, die in Istanbul geführt wurden und die Ausfuhr von 32 Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine zur Folge hatten. Akbulut sieht darin auch den türkischen Wunsch nach einem Mitspracherecht und danach, eigene Interessen zu vertreten. Die Türkei vertraue in der Außenpolitik niemandem und vertrete eine strikte Turkey-First-Policy. Die politischen Kosten dafür, die westlichen Sanktionen nicht mitzutragen, hält Hakan Akbulut für überschaubar. Die Beziehungen sind ohnehin belastet.

Ungarn als Russlands Freund im Westen

Einer der wenigen westlichen Staaten, die nicht klar auf der Seite der Ukraine stehen, ist Ungarn. Das Land unterstützt weder den EU-Beitritt der Ukraine noch Waffenlieferungen. Die Regierung um Ministerpräsident Viktor Orbán rechtfertigt diese Haltung unter anderem mit der Abhängigkeit der ungarischen Wirtschaft von russischem Erdöl und Erdgas und der Diskriminierung der ungarischen Minderheit in der Ukraine. Für András Hettyey von der National University of Public Services in Budapest erklärt das zwar die Skepsis gegenüber der Ukraine, nicht aber Orbáns Russlandfreundlichkeit. Denn beispielsweise die Slowakei ist ähnlich abhängig von russischen Energielieferungen und erhält diese weiterhin, obwohl sie Waffen an die Ukraine abgibt. Den Schlüssel sieht Hettyey in Orbáns Persönlichkeit. Er wolle geliebt und respektiert werden und je mehr ihm der Westen Anerkennung verweigere, desto mehr schätzt er die russische Position. Moskau hat nie die ungarischen Defizite in der Rechtsstaatlichkeit kritisiert und bietet dem Land Vorteile durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Vetospieler im Land wie Opposition oder Massenmedien, die sich für die Ukraine stark machen, gibt es außerdem nicht.

Südafrika als "Swingstate" zwischen Russland und dem Westen

Das ist in Südafrika anders. Dort kritisiert die Opposition die neutrale bis russlandfreundliche Haltung der Regierung. Bei der UN-Resolution gegen den russischen Angriff hat sich die südafrikanische Vertretung enthalten. Anfang 2023 fand allerdings ein gemeinsames Militärmanöver mit Russland und China statt. Einige Mitglieder der Regierung fühlen sich vom Westen enttäuscht und wünschen sich aufgrund historischer Erfahrungen und Gemeinsamkeiten eine stärkere Allianz mit Russland. Das Handelsvolumen zwischen den beiden Staaten ist zuletzt gestiegen. Politikerinnen und Politiker der Opposition sprechen bei der Annäherung an Russland hingegen von einer "Propagandashow". Sie wollen die russische Verletzung des Völkerrechts als solche anerkennen und unterstützen die Souveränität der Ukraine. Das liegt auch den engen Wirtschaftsbeziehungen zum Westen. Die EU ist der größte Exportmarkt für südafrikanische Güter. Bei den Parlamentswahlen in diesem Jahr ist eine Trendwende möglich. Elisabeth Hoffberger-Pippan vom PRIF - Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung spricht deshalb von Südafrika als "Swingstate".

Ukrainische Perspektiven auf einen Frieden mit Russland

Für die Ukraine wäre ein Machtwechsel in Südafrika eine Chance. Denn sie versucht, Länder des Globalen Südens für sich zu gewinnen und zu einer Abkehr von Russland zu bewegen, indem sie sich als Land präsentiert, das sich gegen einen imperialen Gegner wehrt. Staatsgäste sehen im Rahmen ihrer Besuche zum Beispiel den Ort Butscha, in dem die russischen Truppen Kriegsverbrechen begangenen haben. Doch nicht nur im Ausland sind die Meinungen zum Krieg unterschiedlich. Auch innerhalb der Ukraine werden Stimmen lauter, die territoriale Zugeständnisse an Russland befürworten, um den Krieg zu beenden. Sie kommen häufig von den Familien derjenigen Soldaten, die sich seit Februar 2022 fast durchgehend an der Front befinden. Laut Peter Sawicki, Korrespondent des Deutschlandfunks für Polen, die Ukraine und Belarus, liegt der Anteil der Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich für Gebietsabtretungen aussprechen allerdings immer noch unter 20 Prozent. Das liegt auch an den unterschiedlichen Realitäten im Land. Während im Osten der Ukraine an manchen Orten zehnmal pro Tag der Luftalarm schrillt, haben in anderen Städten seit Monaten keine Raketen mehr eingeschlagen. Viele Bürgerinnen und Bürger sind zurückgekehrt, Cafés haben geöffnet und Menschen flanieren durch die Straßen.

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