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Wladyslaw Bartoszewski und Bayern

Interview über Polens verstorbenen Außenminister

Wladyslaw Bartoszewski war eng mit Bayern verbunden. In den 80er Jahren lehrte der Publizist, Historiker und Auschwitz-Überlebende an der LMU München sowie in Eichstätt und Augsburg. Nach der Wende gründete er als polnischer Außenminister die bayerisch-polnische Expertenkommission. Die Wanderausstellung "Wladyslaw Bartoszewski 1922-2015. Widerstand - Erinnerung - Versöhnung" war im Frühling 2021 an der Akademie für Politische Bildung zu sehen. Im Interview erzählt Bartoszewskis langjähriger Assistent Marcin Barcz über die Vorlesungen des Polen an bayerischen Universitäten, die Geschwister Scholl und sein besondere Verhältnis zum Freistaat.

Tutzing / Kultur / Online seit: 14.04.2021

Von: Beate Winterer / Foto: Beate Winterer

Ausstellungstafeln " Wladyslaw Bartoszewski und Bayern"

Winterer: Herr Barcz, Sie haben jahrelang als Referent für Wladyslaw Bartoszewski gearbeitet. Was hat ihn mit Bayern verbunden?

Barcz: Wladyslaw Bartoszewski war im Laufe eines halben Jahrhunderts in ganz Deutschland unterwegs, ich wäre nicht im Stande, alle seine Besuche auch nur annähernd aufzuzählen. Es gab nur wenige Orte, die er nicht kannte. Manchmal bin ich selbst überrascht, wo sich seine Spuren finden. Aber Bayern hatte für ihn immer eine besondere Bedeutung - hier fand er in den 80er Jahren Zuflucht. Hier konnte er das machen, was für ihn immer am wichtigsten war: unterrichten, schreiben, erzählen, seine Erfahrungen an junge Menschen weiterreichen. Hier hatte er viele Freunde. Ich glaube, auf gewisse Weise war er, ein eingefleischter Warschauer, in Bayern ein bisschen zu Hause. In seinen letzten Lebensjahren war es für ihn zu anstrengend, oft nach Bayern zu reisen. Aber ich habe ihn gelegentlich bei seinen Bahnreisen mit dem Berlin-Warschau-Express begleiten und beobachten können. In Berlin hatte er seine Lieblingscafés, Lieblingshotels, -restaurants, -stadtteile, er fühlte sich dort gut, war immer zu Dutzenden Gesprächen verabredet. Genauso muss es früher für ihn in München gewesen sein.

Wann war Bartoszewski zum ersten Mal in Bayern?

Im Mai 1965, 20 Jahre nach Kriegsende. Er war Berichterstatter der Krakauer Zeitschrift Tygodnik Powszechny (Allgemeines Wochenblatt) und bekam eine Einladung aus der Redaktion des Kölner Magazins Dokumente. Auf der Reise besuchte er auch München. Mehr Zeit verbrachte er dort ein Jahr später bei seinem zweiten Deutschlandbesuch. Über beide Reisen berichtete er in mehreren Reportagen, zum Beispiel "Donnerstag in München, Samstag in Köln". Zu dieser Zeit war Bartoszewski in Polen ein recht bekannter Autor von mehreren Dokumentationen über deutsche Kriegsverbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs auf besetztem polnischen Gebiet, vor allem in Warschau, begangen wurden. Einige seiner Publikationen sind schon damals auf Deutsch erschienen. Er hatte noch vor seinem ersten Besuch in der Bundesrepublik als Zeuge vor angereisten deutschen Staatsanwälten in Warschau ausgesagt.

Warum durfte er auch während der Zeit des Staatssozialismus reisen?

Die Reise nach Deutschland 1965 war erst seine zweite Auslandsreise überhaupt - und er war schon 43 Jahre alt! Aber bis dahin war er entweder im kommunistischen Gefängnis inhaftiert oder konnte als "Verdächtiger" keinen Reisepass bekommen. Erst 1963 erlaubte man ihm, nach Israel zur öffentlichen Verleihung der Gerechten-Medaille und 1965 als Berichterstatter nach Deutschland zu reisen. Wie gesagt, er war inzwischen ein bekannter Publizist und die Ausreiseverweigerung hätte nicht nur in Polen, sondern auch international ein großes Echo hervorgerufen.

Bartoszewski hat für Radio Free Europe gearbeitet, ein Radiosender für die Bürger sozialistischer Staaten, der in München stationiert war. Wie sah die Zusammenarbeit aus?

Um die Kontakte mit Radio Free Europe aufzunehmen, nutzte er einen Zwischenstopp in Wien während der ersten Reise nach Israel. Er wusste, dass einige seiner ehemaligen Kameraden, die er im Untergrund während der Besatzungszeit und im Warschauer Aufstand 1944 kennengelernt hatte, aus dem kommunistischen Polen geflohen waren und in München für Radio Free Europe arbeiteten. Also verabredete er kurzerhand ein geheimes Treffen in Wien - unter Einhaltung aller Regeln der Konspiration, um keine Aufmerksamkeit der polnischen Staatssicherheit zu wecken. Zurück in Polen schrieb er regelmäßig Berichte, zum Beispiel über politische Prozesse und Repressionen gegen Oppositionelle und schickte sie mit Hilfe von deutschen und österreichischen Journalisten oder Diplomaten nach München. Diese Berichte wurden dann - natürlich anonym - von RFE ausgestrahlt. Die polnische Staatssicherheit verdächtigte Bartoszewski der Zusammenarbeit, durchsuchte mehrmals seine Wohnung und verhörte ihn. Letztendlich konnte man aber keine Beweise finden. Seine Erfahrung aus der Kriegskonspiration zahlte sich aus...

Bartoszewski hat als Student von der Geschichte der Geschwister Scholl erfahren. Wie war es für ihn, später am Geschwister-Scholl-Institut in München zu arbeiten?

Von den Geschwistern Scholl erfuhr er zum ersten Mal irgendwann im Jahr 1943 als Student der geheimen Warschauer Universität. Offiziell waren die Universitäten im besetzten Polen geschlossen. Er war damals im gleichen Alter wie die Mitglieder der Weißen Rose, seine Altersgenossen waren auch im Untergrund tätig, viele bezahlten dafür mit ihrem Leben, zum Beispiel Hanka Czaki. Sie wurde von der Gestapo verhaftet und nach mehreren Monaten im berüchtigten Pawiak-Gefängnis in den Ruinen des Warschauer Ghettos erschossen. Er spürte also eine geistige Verbundenheit mit den jungen Leuten im fernen München, die den Mut hatten, sich gegen den mächtigen Hitler-Staat zu wenden. Dass er Jahrzehnte später in München selbst am Geschwister-Scholl-Institut arbeiten konnte, sah er gewiss als eine besondere Fügung des Schicksals an - und erzählte darüber viel, auch in Polen. Ich selbst habe über die Geschwister Scholl zum ersten Mal aus seinen Büchern erfahren. Wahrscheinlich war es dieses Wissen über den Widerstand gegen Hitler in Deutschland, über deutsche Häftlinge in Konzentrationslagern, das Bartoszewski überhaupt überzeugt hat, nach "normalen" Deutschen zu suchen. Und die hat er dann schnell gefunden.

Bartoszewski hat zwölf Semester an drei bayerischen Universitäten gelehrt: Eichstätt, Augsburg und LMU München. Was hat ihn daran begeistert?

Er war - neben allen anderen Fähigkeiten - ein enthusiastischer Pädagoge. Er liebte den Kontakt mit Studenten. Schon in Polen war er als Vortragender an der Katholischen Universität in Lublin tätig. Zu seinen Hörerinnen und Hörern gehörten dort spätere Spitzenpolitiker des freien Polens und heutige namhafte Historiker. In Deutschland sah er zusätzlich noch eine andere Aufgabe: den jungen Deutschen über die polnischen Erfahrungen der Zeitgeschichte und die polnische Sicht auf den Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Dabei war ist sein Berichten als Auschwitz-Überlebender und Zeitzeuge der Besatzung von besonderem Wert.

Wieso hat Bartoszewski nach der Wende ausgerechnet eine bayerisch-polnische Expertenkommission gegründet - und keine deutsch-polnische?

Die Kommission wurde 1995 ins Leben gerufen - damals war Wladyslaw Bartoszewski polnischer Außenminister. Ich glaube, das war zum Teil eine Geste seiner Dankbarkeit. Er konnte in den 80er Jahren, als er in seiner Heimat unerwünscht war, in Bayern ein Zuhause finden. Hier erkannte er das kreative Potenzial und das Expertenwissen auf verschiedenen Gebieten. Das wollte er nach der Wende mit den Polen teilen. Gewissermaßen sollte gerade "sein" Bayern für Polen ein Tor nach Deutschland und nach Europa bilden. Andererseits wollte er auch für Bayern neue Möglichkeiten auf dem erwachenden polnischen Markt, in der polnischen Gesellschaft und in der polnischen Kultur eröffnen. Und vielleicht erkannte er einfach gewisse Eigenschaften, die uns - die Bayern und die Polen - besonders verbinden?

Haben Sie Wladyslaw Bartoszewski nach Bayern begleitet?

Ja, bei einigen wenigen Besuchen in seinen letzten Lebensjahren. Ich erinnere mich an unsere gemeinsame Reise nach Dachau 2008 zur Verabschiedung der Leiterin der Gedenkstätte, Barbara Distel. Bartoszewski hat eine sehr bewegende Rede gehalten, über die Rolle der Erinnerung und des Gedenkens. Ich erinnere mich besonders an seine Worte: "Das Gedenken ist eine Verpflichtung zum Handeln, zum Aufbegehren gegen die Gleichgültigkeit." Vielleicht bin ich deswegen jetzt im Rat der Stiftung Auschwitz-Birkenau tätig. Oder eine andere Reise: nach Regensburg 2013, weniger als zwei Jahre vor seinem Tod, zur Sitzung der bayerisch-polnischen Expertenkommission. Er hatte damals - wie immer - ein volles Programm: die Sitzung, in der Pause ein Vortrag an der Universität, ein Treffen mit dem Oberbürgermeister... Er strotzte damals nur so vor Energie, war von freundlichen Menschen umgeben: Bartoszewski in seinem Element.

Sein Besuch in Bayern zur Auszeichnung mit dem Bayerischen Verdienstorden konnte nicht mehr stattfinden...

Zur Jahreswende 2014/2015 sollte er in München den Bayerischen Verdienstorden bekommen. Damals fühlte er sich aber schlecht und bat, die Verleihung nach Warschau zu verlegen. Der Termin in der Deutschen Botschaft wurde auf 4. Mai 2015 gelegt. Er starb am 24. April. Am 4. Mai fand sein Begräbnis auf dem Warschauer Militärfriedhof statt. Den Verdienstorden hat seine Ehefrau Zofia in Empfang genommen, die damals noch lebte. Sie hat Bartoszewski in all den Jahren nach München, Augsburg und Eichstätt begleitet und war genauso mit Bayern verbunden wie er. Vielleicht war die Zeit dort für sie sogar viel schwieriger, denn sie hatte keine Lehraufträge, sondern hat ihren Ehemann unterstützt. Ohne sie gäbe es den Wladyslaw Bartoszewski, den wir kennen, wahrscheinlich gar nicht. Wir haben heute nicht über sie gesprochen, aber auf den meisten Fotos aus der bayerischen Zeit ist auch sie zu sehen.

An der Akademie war in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Berlin e.V. die Wanderausstellung "Wladyslaw Bartoszewski 1922-2015. Widerstand - Erinnerung - Versöhnung" zu sehen. Was lehrt uns Bartoszewskis Biografie heute?

Bartoszewski verkörpert viele überzeitliche und durchaus aktuelle Eigenschaften. Einerseits wollen wir mit der Ausstellung an die spannende Biografie eines Menschen erinnern, der Zeuge wichtiger Ereignisse der neuesten Geschichte war. Andererseits möchten wir, dass sein Leben als eine Inspiration dient, eine Ermutigung zum Engagement für die Demokratie, für ein friedliches Zusammensein, für Europa, gegen diktatorische Tendenzen, die gerade stark zur Sprache kommen. Bartoszewski war kein bequemer Theoretiker. Er hat sich gegen das Böse zur Wehr gesetzt und dafür auch bezahlen müssen - mit Auschwitz, mit vielen gefallenen Kolleginnen und Kollegen, mit sechseinhalb Jahren im kommunistischen Gefängnis, mit ständiger Verfolgung und Überwachung danach. Aber auch mit Hetzen, die die rechte Szene in Polen nach 1989 gegen ihn veranstaltete, bis zu den Kaczynski-Anhängern, die Bartoszewski mit schlimmsten antisemitischen Beleidigungen beworfen haben - obwohl er selbst kein Jude war, sich aber für die Rettung der Juden während der Besatzung engagierte. Bis heute ist die Erinnerung an Bartoszewski ein Dorn im Auge der polnischen Rechts-Nationalen-Kreise. Und das allein zeigt, wie aktuell seine Biografie bleibt!

Bartoszewski hat seine Vorlesungen gerne mit den Worten "Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos" begonnen. Gerade sieht es so aus, als würde die Demokratie wieder einen Rückschritt machen - insbesondere in Polen. Wie sehen Sie die Lage?

Bartoszewski war - wie er selbst zu sagen pflegte - ein gemäßigter Optimist. Das habe ich wahrscheinlich von ihm übernommen. Ich sehe zwar verlogene Populisten und ihre willigen Mitläufer, inkompetente, rachebesessene Möchtegernhelden, die mit ihren Manipulationen und religiösen oder patriotischen Parolen an die Macht kommen konnten. Aber ich sehe auch, wie viele Menschen sich gegen sie erheben, wie viele Bürgerinitiativen entstehen. Ein Rückschritt der Demokratie wäre eine allgemeine Gleichgültigkeit. In Polen wächst aber eine Welle der Empörung. So viele politisch und öffentlich engagierte Menschen gab es seit Langem nicht. Ich bin natürlich wütend, dass in den vergangenen Jahren alle dunklen Seiten der polnischen Seele auf einmal zum Vorschein treten, aber vielleicht ist das auch notwendig, um sie endgültig zu blamieren? Und wir alle müssen wahrscheinlich ab und zu daran erinnert werden: Extremisten, Karrierebesessene und politische Psychopathen wird es immer geben und sie warten nur auf ihre Gelegenheit - ob in Polen oder woanders.

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