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Verfassungspatriotismus

Akademie-Kurzanalyse 1/2020 von Thomas Schölderle

Der Aufsatz "Verfassungspatriotismus - Zum 50. Geburtstag einer Wortschöpfung" von Thomas Schölderle wurde im Februar 2020 als Akademie-Kurzanalyse veröffentlicht.

Tutzing / Publikation / Online seit: 02.03.2021

Von: Dr. Thomas Schölderle / Foto: APB Archiv

Thomas Schölderle
Verfassungspatriotismus – Zum 50. Geburtstag einer Wortschöpfung
Akademie-Kurzanalysen, Tutzing, 2020

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Genealogie der Begriffsschöpfung

Am 27. Januar 1970 nutzte Dolf Sternberger in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung erstmals das Wort "Verfassungspatriotismus". In jeder Gesellschaft brauche es "ein ausreichendes Maß von Verfassungspatriotismus", schreibt Sternberger, da diese andernfalls an ihren Interessengegensätzen zu zerbrechen drohe.1 Für den Politikwissenschaftler der ersten Stunde war diese Einlassung allerdings nicht die erste Beschäftigung mit dem Thema. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nur zwei Jahre nach dem Zivilisationsbruch des National­sozialismus und noch zwei Jahre vor Gründung der Bundesrepublik, hatte Sternberger versucht, dem Vaterlandsbegriff einen neuen positiven Sinn zu geben, indem er ihn an eine entscheidende Bedingung knüpfte. In der Zeitschrift Die Wandlung schrieb er 1947 in Anlehnung an ein Zitat Jean de la Bruyères: "Es gibt kein Vaterland in der Despotie".2 Das Vaterland verdiene keine blinde Gefolgschaft. Es könne Akzeptanz durch seine Bürger nur beanspruchen, wenn es deren Freiheit und Rechte garantiere. Denn "nur eine bürgerliche Verfassung kann eine vaterländische Verfassung sein."3 Oder in anderen Worten: "Der Begriff des Vaterlandes erfüllt sich erst in seiner freien Verfassung".4

Mit der Verbindung von Vaterlandsliebe und demokratischer Republik nahm Sternberger die entscheidende Substanz des Begriffs "Verfassungspatriotismus" bereits vorweg. Ein gutes Jahrzehnt später griff er den Gedanken dann erneut auf. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien am 16. September 1959 unter dem Titel Das Vaterland eine Leitglosse und auch darin stellte Sternberg die genannte Verknüpfung her: "Das Vaterland ist die 'Republik', die wir uns schaffen, das Vaterland, ist die Verfassung, die wir lebendig machen."5

Eine breitere Öffentlichkeit erreichte Sternberger aber weder mit seinen Überlegungen von 1947 oder 1959 noch mit seinem Zeitungstext von 1970, der zumindest den Begriff erstmals ins Spiel brachte. Die Wortschöpfung fand zunächst keine erkennbare Resonanz. Exemplarisch wird die ausbleibende Rezeption auch daran, dass noch in der Festschrift zu Sternbergers 70. Geburtstag, die im Jahr 1977 erschien, Terminus und Kernidee des Verfassungspatriotismus keine Rolle spielen.6

Dies änderte sich erst mit einem weiteren Zeitungsbeitrag: Am 23. Mai 1979 gab Sternberger einem Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus Anlass des 30. Jahrestags der Grundgesetz-Verkündigung den kurzen und prägnanten Titel Verfassungspatriotismus. Der Beitrag war vor allem eine Würdigung der noch recht jungen bundesrepublikanischen Verfassung. Angesichts der deutschen Teilung schrieb Sternberger: "Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland".7

Drei Jahre später gelangte der Begriff dann endgültig zum Durchbruch: Sternberger hielt anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Tutzinger Akademie für Politische Bildung beim Festakt im Münchner Maximilianeum den Festvortrag. Wieder lautete der Titel Verfassungspatriotismus.8 Aber diesmal wurde Sternberger - anders als in seinem Zeitungsbeitrag, der sich kaum um begriffliche Klärung bemühte - ausführlicher und präziser. Während der Leitartikel von 1979 nur gut drei Seiten in Sternbergers Schriftenedition füllt, umfasst die Akademie-Festrede dort immerhin 15 Druckseiten. Der zentrale Status der Ansprache lässt sich auch daran festmachen, dass fast die gesamte Forschungsliteratur zur Interpretation von Sternbergers "Verfassungspatriotismus" schwerpunktmäßig auf seine dort enthaltenen Begriffserläuterungen zurückgreift.

Der Begriff Verfassungspatriotismus wurde somit zwar nicht in Tutzing oder bei einer Akademieveranstaltung geboren. Aber es war die Festansprache, bei der die Begriffsbildung ihre weithin gültige und ausführlichste Bearbeitung durch Sternberger erfahren hat. Gleichwohl bleibt nach deren Lektüre ein etwas sonderbarer Eindruck: Der Umfang von konkreten Begriffsbestimmungen steht auch dort in einem merkwürdigen Missverhältnis zum späteren Streitpotenzial und den Unmengen bedruckten Papiers, das die Deutungsversuche zum Begriff Verfassungspatriotismus inzwischen füllen.9

Sternbergers Akademierede

Sternberger aber ging offenbar von einer Art Selbstevidenz seiner Begriffsbildung aus. Die Ansprache eröffnete er mit den Sätzen: "Es ist ein einziges Wort, das den Titel dieser Rede bildet. [...] Dieses eine Wort 'Verfassungspatriotismus' enthält eigentlich schon alles, was ich zu sagen habe."10 Anders als es die späteren Auseinandersetzungen erwarten lassen, war der Urheber also überzeugt, dass seine Wortschöpfung ein weitgehend sich selbst erklärender Ausdruck sei. Gleichwohl gestand er die etwas eigenwillige Begriffsbildung zu. Die "Verbindung von Patriotismus und Verfassung mag manchem ungewöhnlich vorkommen, ungewohnt ist sie sicherlich."11

In der Tat ist das "scheinbare Oxymoron Verfassungspatriotismus"12 auf den ersten Blick ein eher widersprüchlicher Begriff. Es bindet zwei Vokabeln aneinander, die auf fundamental Gegensätzliches verweisen: Der Patriotismus ist eine Sache von Gefühlen und Leidenschaften, der das Wohlergehen einer Gemeinschaft, zum Teil in romantischer oder gar mystischer Verklärung in den Mittelpunkt rückt, während die Verfassung gerade Rechte und Freiheit des Individuum garantieren soll, kurz, so Jan-Werner Müller: "Wo die Verfassung den Staat vertextet, verzaubert ihn der Patriotismus."13

Der Kerngedanke, den Sternberger im Fortgang der Feierstunde näher ausleuchtete, ist jedoch vergleichsweise einfach. Er entspricht in Grundzügen seiner bereits 1947 skizzierten Überzeugung: Zustimmung kann der staatlichen Ordnung demnach nicht schon aufgrund einer geschichtlich gewachsenen Schicksals- und Erlebnisgemeinschaft erwachsen. Vielmehr vermag allein die gemeinsame Wahrnehmung von Freiheits- und Partizipationsrechten wirkliches Identitätsgefühl zu stiften. Ein modernes Gemeinwesen wie die Bundesrepublik werde in erster Linie zusammengehalten durch den rationalen Willen der Bürger, dazuzugehören und mitzumachen. Staatliche Einheit ruhe deshalb hauptsächlich auf der Symbolkraft einer Verfassung, die diese Rechte und Freiheiten garantiert. Sternbergers Konzept ist alles andere als wertfrei. Es basiert letztlich auf der Überzeugung, dass vor dem Horizont der neuzeitlichen Erfahrungen die freiheitlich-demokratische Grundordnung die einzig angemessene Ordnungsform ist, die der Fähigkeit des Menschen zu bürgerschaftlicher Selbstregierung Rechnung trage.14

Entscheidend ist dabei, dass Sternberger seinen Verfassungspatriotismus nicht auf das juristische Dokument bezog, etwa auf das "Bonner Grundgesetz mit allen seinen 146 Artikeln", sondern auf das Wesen des modernen Verfassungsstaates, letztlich die "freiheitliche demokratische Grund­ordnung".15 Ähnlich wie schon 1979, als Sternberger erklärte, dass es ihm nicht um die bloßen, nüchternen Rechtsnormen, sondern um die "Kräfte der lebenden Verfassung" gehe16 , stellte er nun die zentralen Merkmale heraus, die seines Erachtens als Substanz des modernen Verfassungsstaates berechtigterweise Loyalität, ja Zuneigung der Bürger verdienten. Gemeint waren repräsentative Körper- und bürgerliche Wählerschaften, eine kontrollierte Regierung, gesetzliche Verwaltung, unabhängige Gerichtsbarkeit, offene Führungselitenrekrutierung, Ämterwechsel nach vereinbarten Spielregeln, öffentliche Information und Diskussion, Widerstand und Opposition, gesellschaftlicher Pluralismus und schließlich eine bürgerliche Freiheit, die durch staatliches Gewaltmonopol gesichert werde.17

Sternberger bediente sich zur Stärkung seines Konzepts zudem einer historischen These: Er vertrat die Überzeugung, dass es eine Art Verfassungspatriotismus gab, schon "längst bevor er sich auf die Nation und auf den Nationalstaat fixiert hat."18 Der Patriotismus sei älter als die gesamte nationalstaatliche Organisation Europas.19  Und in seinen Ursprüngen, nicht zuletzt bereits in der antiken Republik, sei Patriotismus stets eng verknüpft gewesen mit Staat und Verfassung. Sein wichtigster Zeuge für die moderne Geschichte ist der junge deutsche Schriftsteller Thomas Abbt, von dem, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, zwei erstaunliche Sätze stammen: "Die Stimme des Vaterlandes kann nicht mehr erschallen, wenn einmal die Luft der Freiheit entzogen ist." Und: "wenn mich die Geburt oder meine freye Entschließung mit einem Staat vereinigt, dessen heilsamen Gesetzen ich mich unterwerfe; Gesetzen, die mir nicht mehr von meiner Freiheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staats nöthig ist: alsdann nenne ich diesen Staat mein Vaterland."20 Bemerkenswert ist in der Tat, dass von Volk oder Land überhaupt keine Rede ist, sondern nur von Gesetzen des Staates und der Freiheit der Person. Sternberger hörte gleichsam "Merksätze" des Verfassungspatriotismus heraus. Die Äußerungen verkörperten den reinsten Ausdruck eines "verfassungspolitischen Vaterlandsbegriffs"21. Zugleich zog Sternberger daraus die Hoffnung, dass auch für einen neuen, recht verstandenen Patriotismus dieses "vornationalistische Verständnis eine Hilfe bieten" könne.22

Schon daran wird ersichtlich, wie sehr der Begriff bei Sternberger eine ebenso normative wie deskriptive Bedeutung besaß. Und streng betrachtet, hielt er die Dimensionen nicht immer widerspruchsfrei auseinander. Die Beispiele Schweiz und USA zeigten, so Sternberger, dass ein moderner Verfassungsstaat Loyalität oder Zuneigung wecken und bewahren könne. Die Schweiz mit ihren vier Sprachgemeinschaften sei keine Nation, sondern werde zusammengehalten durch ihre Verfassung. Und die USA würden "durch nichts anderes geeinigt als durch ihre Verfassung und durch die patriotischen Gefühle, die ihr, der Verfassung, entgegengebracht werden."23

Auch mit Blick auf die Bundesrepublik ging Sternberger davon aus, dass sich seit 1949 eine Identifikation mit den staatlichen Institutionen und seiner demokratischen Ordnungsidee und damit eine auf die Verfassung zentrierte politische Kultur entwickelt habe. Schon 1979 hatte er formuliert: Ein "neuer, ein zweiter Patriotismus (hat sich) ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet."24 Das allmähliche Ausprägen des Grundgesetzes zum entscheidenden Kristallisationskern des soziopolitischen Systems der Bundesrepublik beschrieb Sternberger also einerseits als empirischen Sachverhalt. Anderseits wirkte schon diese empirische Diagnose etwas unsicher, wenn Sternberger in seiner Rede festhielt: "In alledem jedoch denken die Alten wie die Jungen, die Gelehrten wie die Ungelehrten, wenn sie von Patriotismus hören [...] an nationalen Patriotismus, kaum hingegen oder nie [...] an ihre Verfassung."25 Demnach existierte in der Bundesrepublik, so muss man Sternberger verstehen, nur ein eher unterschwelliger, ja unbewusster Verfassungspatriotismus. Und zweifellos erhoffte er sich insgesamt ein offeneres Eintreten und ein aktiveres Bekenntnis zu den Verfassungswerten. Nicht zuletzt in diese Richtung zielte auch sein Wunsch, nicht nur die "Demonstrierdemokraten" mögen auf die Straße gehen, sondern auch die "Verfassungsfreunde".26

Im Hintergrund schwang dabei jedoch durchgängig ein zentrales Motiv Sternbergers mit, nämlich dem Vaterlandsbegriff wieder zu einer neuen positiven Konnotation zu verhelfen. Dieses Ansinnen zeigte sich schon 1959 exemplarisch an der Freude über die Formel, mit der man Theodor Heuss damals aus dem Amt des Bundespräsidenten verabschiedete: "Er hat sich um das Vaterland verdient gemacht." Sternberger kommentierte dazu nicht ohne Pathos: "Es wäre eine Erlösung, wenn wir das Wort mit Ernst und ohne Scheu gebrauchen dürften. Das Wort ist gefallen. Ein Anfang ist gemacht."27

Eine entscheidende praktisch-politische Konsequenz verband sich aus Sternbergers Sicht aber in jedem Fall mit einem verfassungspatriotischem Bewusstsein. So forderte er, dass sich die Bundesdeutschen unter keinen Umständen "versuchen lassen, auszuziehen aus der Verfassung um der Nation und ihrer Vollständigkeit willen."28 Das lässt sich, falls es zum Schwur zwischen Demokratie oder Nation kommen sollte, auf die Formel verkürzen: Keine Einheit Deutschlands auf Kosten der Freiheit. Nichts anderes war jedoch gleichsam Staatsräson der alten Bundesrepublik. Diese Tatsache ist keineswegs so trivial, wie sie auf den ersten Blick den Anschein haben mag, denn sie bezeugt letztlich nicht weniger als die Existenz und konkrete Wirksamkeit eines verfassungspatriotischen Konsenses in der Bundesrepublik.

Wertung und Würdigung

Im Anschluss an die Rede entspann sich in den folgenden Jahren eine lebhafte Debatte. Wenngleich der Begriff nie so recht zum Schlagwort taugte, so begleitete er doch eine ganze Reihe bedeutender Kontroversen der vergangenen Jahrzehnte und etablierte sich als feste Kategorie im politisch-kulturellen Vokabular der Bundesrepublik. Im sogenannten "Historikerstreit" war der Begriff ebenso präsent wie in der Verfassungsdebatte der deutschen Wiedervereinigung. Gleiches galt für die Auseinandersetzungen um eine "deutsche Leitkultur" oder die Diskussionen rund um den (letztlich gescheiterten) europäischen Verfassungsprozess.

Die lange Karenzzeit, die die Idee des Verfassungspatriotismus benötigte, ehe die letztlich ausgesprochen umfangreiche Rezeptionsgeschichte einsetzte, mag ihre Ursache auch darin haben, dass Sternberger die Vokabel erst nachträglich näher zu bestimmen versuchte. Manche Ausführungen, so Peter Molt, wirkten gelegentlich wie "nachgeschobene Begründungen".29

Sternbergers Wortschöpfung aber fiel auf fruchtbaren Boden - nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines geteilten Deutschlands, das jeder national gefärbten Identitätsstiftung entgegenstand. Im Osten Deutschlands setzte die DDR-Führung ohnehin auf ein neues "Klassenbewusstsein", auf proletarischen Internationalismus und Antifaschismus, während im Westen primär die ökonomische Erfolgsgeschichte eine Art kollektive Einheit zu stiften vermochte. Vorbehalte gegenüber einem allzu starken Bekenntnis zur Bundesrepublik und ihrer Verfasstheit resultierten zudem aus der Befürchtung, der nationalen Teilung damit Vorschub zu leisten. In diesem "Zustand kollektiven politischen Sinnvakuums" wirkte die neue Formel gleichsam wie eine "Erlösung".30 Der Verfassungspatriotismus, so urteilte sogar der Begriffskritiker Otto Depenheuer, sei das "erste theoretische Konzept kollektiver Identität" gewesen, das nach der Katastrophe des deutschen Nationalstaates wieder "politische Einheit zu stiften versprach und mit dem man sich auch in der Welt wieder sehen lassen konnte."31

Der Begriff galt, auch angesichts der turbulenten Dekade im Anschluss an das Jahr 1968, zunächst als geradezu "geniale"32 Erfindung, um das komplizierte Staatsverständnis der Bundesdeutschen auf eine griffige Formel zu bringen und zugleich einen partei- wie generationenübergreifenden Grundkonsens zur demokratischen Ordnung zu betiteln. Zustimmung erhielt Sternberger unter anderem von Karl-Dietrich Bracher, Alexander Schwan und Iring Fetscher.33 Auch bundespräsidiale Weihen schlossen sich an. Richard von Weizsäcker urteilte im Jahr 1987 aus Anlass von Sternbergers 80. Geburtstag bei einem Kolloquium in Heidelberg: "Die Frage wird auf den Begriff gebracht, und zwar so prägnant, dass mit der Überschrift bereits die Antwort gegeben wird: Verfassungspatriotismus. Dolf Sternberger hat sich damit ein hohes Verdienst erworben." Die Begriffsverbindung, so Weizsäcker weiter, formuliere im Angesicht der fast 40-jährigen verfassungsstaatlichen Geschichte der Bundesrepublik gleichsam "die Selbstverständlichkeit einer Wahrheit".34

Die produktivste Aufnahme fand der Begriff schließlich bei Jürgen Habermas. Doch mit dem über weite Teile der deutschen Öffentlichkeit geteilten Konsens war es damit alsbald vorbei. Der Terminus geriet zum Zankapfel in einer ideologisch und polemisch aufgeladenen Auseinandersetzung. Der Grund war nicht zuletzt, dass sich Habermas infolge des sogenannten »Historikerstreits« zu einer Art rotem Tuch für konservative Intellektuelle entwickelt hatte.

Habermas und die Polemik des Historikerstreits

Der Historikerstreit war eine erbittert geführte Debatte. Gegenstand der Kontroverse war neben der Singularität der NS-Judenvernichtung rasch auch der Streit um Begriffe wie Vaterland, Identität, Verfassung und Nation.35 Der Streit in der Sache wurde allerdings vielfach überlagert von persönlichen Animositäten und nicht zuletzt von Vorwürfen über sinnentstellende Zitationspraxis.36 Entzündet hatte sich die Auseinandersetzung an der These Ernst Noltes vom Vorbild der bolschewistischen Vernichtungsprogramme für die NS-Rassenideologie, die in den verhängnisvollen Fragen gipfelte: "Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine 'asiatische' Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer 'asiatischen' Tat betrachteten? War nicht der 'Archipel GULag' ursprünglicher als 'Auschwitz'? War nicht der 'Klassenmord' der Bolschewiki das logische und faktische Prius des 'Rassenmords' der Nationalsozialisten?"37

Jürgen Habermas war erzürnt. Er konterte die seines Erachtens "funktionalistische Geschichtsbetrach­tung"38 eines Teils der deutschen Historikerzunft, darunter neben Ernst Nolte auch Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer, und vermutete darin den Versuch, den moralischen Zivilisationsbruch des NS-Regimes auf die Einzigartigkeit einer technischen Innovation herabstufen zu wollen. Seinen Beitrag, der sich gegen diese "apologetischen Tendenzen" richtete, beendete Habermas mit dem Diktum: "Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist der Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach - und durch - Auschwitz bilden können."39

Damit war der Begriff im Kontext des sich ausweitenden Historikerstreits platziert. Seine Position begründete Habermas damit, dass die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens "die große intellektuelle Leistung" der Nachkriegszeit gewesen sei.40 Diese Öffnung sei allerdings nur durch Überwindung jener revisionistischen Tendenzen und jener "Ideologie" der europäischen Mittellage möglich geworden, für die die angegriffenen Historiker stehen. Auf der Habermas-Seite ergriffen später Hans Mommsen, Eberhard Jäckel, Jürgen Kocka und Rudolf Augstein das Wort. Als weitere Gegner positionierten sich unter anderem Horst Möller und Joachim Fest.

Allerdings hatte sich Habermas dem Konzept anfangs eher zögerlich genähert. Da der Verfassungspatriotismus in Deutschland weitgehend an die Stelle eines von den Nationalsozialisten zerstörten Nationalbewusstseins getreten sei, nehme er gelegentlich "zwanghafte Züge", ja "Züge einer neurotischen Ersatzleistung" an.41 Der bundesrepublikanische Verfassungspatriotismus sei, so Habermas, eine Folge der jüngeren deutschen Geschichte und daher an eine entscheidende Voraussetzung geknüpft: Die Deutschen hätten aufgrund des ungeheuerlichen Kontinuitätsbruchs der NS-Zeit die Möglichkeit verloren, ihre politische Identität auf etwas anderes als universalistische staatsbürgerliche Prinzipien zu gründen und sie seien gezwungen, sich ihre nationalen Traditionen fortan kritisch und selbstkritisch in deren Licht anzueignen.42

Insofern liegt ein Unterschied zu Sternberger nun in der Tat darin, dass Habermas sein Konzept quasi konstitutiv an den Imperativ der kritischen Vergangenheitsbewältigung knüpfte.43 Ein gesundes Selbstverständnis kultureller Identität speiste sich für Habermas deshalb aus besonderen Quellen: "Für uns in der Bundesrepublik bedeutet Verfassungspatriotismus unter anderem den Stolz darauf, daß es uns gelungen ist, den Faschismus auch auf Dauer zu überwinden, eine rechtsstaatliche Ordnung zu etablieren und diese in einer halbwegs liberalen politischen Kultur zu verankern."44

Darüber hinaus deutete Habermas den Verfassungspatriotismus als Symptom einer grundsätzlichen Formveränderung nationaler Identitäten in den westlichen Industrienationen. Er integrierte den Begriff somit in seine Theorie moderner Gesellschaften. Lebensformen, Identifikationen und Überlieferungen würden zunehmend überlagert von einem abstrakter gewordenen Patriotismus, der sich nicht mehr auf das konkrete Ganze einer Nation, sondern auf abstrakte Verfahren und Prinzipien beziehen würde.45 Verglichen mit dem Nationalstaat alter Prägung registrierte Habermas eine immer stärkere Differenzierung von Kultur und staatlicher Politik, die Voraussetzung für die Entwicklung von Verfassungspatriotismus sei. "Die abstrakte Idee der Verallgemeinerung von Demokratie und Menschenrechten bildet [...] das harte Material, an dem sich nun die Strahlen der nationalen Überlieferung brechen."46 Damit gab Habermas dem Begriff eine postnationale Tendenz und eine deutlich universalistischere Perspektive, die er in allen westlichen Demokratien beobachtete und worin er zugleich eine Quelle gemeinsamer, insbesondere europäischer Identitätsstiftung erblickte.

Allerdings betrachtete Habermas den Verfassungspatriotismus nie losgelöst von kulturellen und nationalen Traditionen. Schon 1987 hielt er fest: "Die verfassungspatriotische Bindung an diese Prinzipien muß sich freilich aus dem konsonanten Erbe kultureller Überlieferung speisen."47 Die identitätsbildende Kraft des Verfassungspatriotismus, die Bindung an Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie, könne nur Realität werden, wenn diese Prinzipien "in den verschiedenen politischen Kulturen jeweils auf andere Weise Wurzeln schlagen." Verfassungspatriotismus im Land der Französischen Revolution muss und wird eine andere Gestalt haben, als in einem Land, das aus eigener Kraft nie eine Demokratie hervorgebracht hat. Derselbe universalistische Gehalt müsse aus einem anderen, jeweils eigenen historischen Lebenszusammenhang heraus angeeignet werden.48

Während der Begriff nun einerseits in gelungener Weise anschlussfähig schien für die gemeinsame Tradition europäischer Konstitutionalisierungsprozesse und es im Lichte dieser Neuinterpretation auch vielen linken Intellektuellen in der Spätphase der Bonner Republik möglich wurde, ihren Frieden mit dem "ungeliebten, aber letztlich doch irgendwie anerkennungswürdigen Westdeutschland"49 zu schließen, rief Habermas andererseits eine Vielzahl von Kritikern auf den Plan. Seine Gegner sahen den Versuch, mit Hilfe des Begriffs Stellung zu beziehen, gegen jede Form national-kultureller Identität. Das "Vaterland", so der Vorwurf, solle gewissermaßen durch die "Verfassung" substituiert werden.

Obwohl sich der Begriff vom unmittelbaren Kontext des Historikerstreits zunehmend emanzipierte, verblieb er im Strudel der polemisch geführten Debatte. Aus Sicht konservativer und nationalpatriotischer Kreise, aber auch weit darüber hinaus, galt "Verfassungspatriotismus" nunmehr als Projekt einer multikulturellen und postnationalen Linken. Gegen Habermas wurde argumentiert, dass eine gemeinsame Rechtsordnung nicht ohne nationalstaatliche Identität zu haben sei. Auf die Verfechter der Bezeichnung prasselten regelrechte Salven der Kritik nieder, die nun fast ausschließlich auf Habermas' Begriffsverständnis rekurrierten: Für Karl-Rudolf Korte war der Verfassungspatriotismus ein »emotional armes, rationales Konstrukt, das offenbar mit gefühlsbetontem Engagement wenig verbindet«, Hermann Lübbe bezeichnete ihn als "ätherisches Gebilde", Hans-Peter Schwarz fand die Formel: "dünnblütige, wenn auch wohlmeinende Professorenfiktion".50 Und Martin Walser spottete sogar: "Das Wort riecht nach dem Abfindungslabor, aus dem es stammt. Alles was uns angeboten wird, riecht nach Ersatz."51

Nun hat die besondere Diskurslage im Gefolge des Historikerstreits und die dortige Polemik auch auf die Auseinandersetzung um den Verfassungspatriotismus abgefärbt und der Kontroverse eine zusätzliche Schärfe und Unversöhnlichkeit verliehen. Zumindest die Einschätzungen, Habermas habe den Verfassungspatriotismus zum "Kampfbegriff [...] gegen einen nationalen Patriotismus" 52 umfunktioniert oder "Sternbergers Intention in ihr Gegenteil verkehrt"53, wirken deutlich überzogen. Die Unterschiede zwischen Sternberger und Habermas sind keineswegs so groß, wie sie zum Teil inszeniert wurden.54 Zwar hatte Sternberger vor allem auf die historischen Wurzeln des Patriotismus hingewiesen und betont, dass dieser älter und ursprünglicher sei als der Nationalismus oder die Nationalstaatsbildung in Europa. Sternberger suchte zweifellos die Wiedergewinnung einer verfassungspatriotischen Identität im modifizierten Rückgriff auf eine vornationale und alteuropäische Tradition, während Habermas eher aus der Antizipation schöpfte, einen allgemeinen Trend zu posttraditioneller Identitätsbildung beschrieb und einen Entwurf für eine tendenziell postnationale europäische Zukunft stiften wollte. Doch auch Habermas begründete sein Konzept historisch und verwies darauf, dass im 19. Jahrhundert Elemente des Republikanismus und des Nationalismus fusioniert waren. Mit der abnehmenden Bedeutung des Nationalstaates biete sich nunmehr aber auch die Möglichkeit, den Begriff für den europäischen Einigungs- und Verfassungsprozess fruchtbar zu machen, was zugleich die Perspektive eines "europäischen Verfassungspatriotismus" eröffne.55

In diesem Punkt wäre Dolf Sternberger, der sich im Kontext des Historikerstreits nicht mehr explizit zu Wort meldete, Habermas vermutlich kaum gefolgt, wenngleich er ebenfalls grobe Überlegungen in diese Richtung schon frühzeitig angestellt hatte.56 Vor allem mit einer bestimmten Tendenz war Sternberger aber mitnichten einverstanden, nämlich damit, dass sein Verfassungspatriotismus nun weitgehend als Gegenbegriff zum Nationalpatriotismus in Stellung gebracht wurde. Sternberger sah sich anlässlich des Heidelberger Geburtstagskolloquiums von 1987 zu einer Klarstellung gedrängt. Er habe keinen Ersatz für nationalen Patriotismus liefern wollen: "Vielmehr wollte ich darauf aufmerksam machen, dass Patriotismus in einer europäischen Haupttradition schon immer wesentlich etwas mit Staatsverfassung zu tun hatte, ja dass Patriotismus ursprünglich und wesentlich Verfassungspatriotismus gewesen ist - und freilich auch, dass er es heute in Deutschland noch und wieder sein könnte."57 Der letzte Satz deutet indes erneut darauf hin, dass Sternberger keineswegs davon ausging, dass sich ein tragfähiger Verfassungspatriotismus in der Bundesrepublik bereits allerorten entwickelt habe. Auch bei Sternberger schwingt insofern eine gewisse Hoffnung und Forderung nach Formveränderung nationaler Identität mit.

Deutsche Wiedervereinigung

Die Frontstellung aber blieb auch über die deutsche Wiedervereinigung hinaus bestehen, und das teilweise sogar in verstärktem Maße. Nach Vollendung der nationalen Einheit betrachteten viele Kommentatoren den »Kompromisscharakter« und »Notbehelf« eines Verfassungspatriotismus für obsolet. Der Augenblick schien gekommen, das rationale Konstrukt endgültig durch ein mehr emotionales, in der deutschen Geschichte und Tradition verankertes Nationalbewusstsein zu ersetzen. Während Habermas bereits 1990 das Wiedererstarken nationaler Gefühle befürchtete58, wurde dem Verfassungspatriotismus erneut vorgeworfen, er sei ein irreführendes "Schein-Konzept" (Rupert Scholz) und eine "Kopfgeburt" (Ralf Dahrendorf).59 Unverständnis und Ablehnung artikulierte auch Gerd Hepp, der im Verfassungspatriotismus ein "rein akademisches, von der Praxis weitgehend abgehobenes Konstrukt ohne emotionale Bodenhaftung" erblickte.60

Besonders unversöhnlich zeigte sich Josef Isensee, der - nun bereits im Kontext der Leitkultur-Debatte - von einer "dünnen Abstraktion" sprach, die nicht geeignet sei, zu erklären, "warum ein Volk in guten und schlechten Tagen zusammenhalten" soll.61 Vielmehr hätte sich "die deutsche Linke des Begriffs bemächtigt und in ihrem Sinne umgedeutet: von einer Anreicherung des Patriotismus zu dessen Ersatz." Künftig solle daher das Vaterland - und das ist nicht positiv gemeint - ein "offenes, kosmopolitisches, unbegrenztes Vaterland, ein rationales, nicht mehr nationales" sein. "Die 'Verfassungspatrioten' suchen sich des Deutschtums zu entledigen."62

Auch Otto Depenheuer hielt das Konzept sowohl theoretisch wie praktisch für zu kurz gesprungen. Seine Kernthese lautete: Der Verfassungspatriotismus vermag allein die "rational bestimmte Dimension staatlicher Existenzweise auf den Begriff zu bringen." Darüber hinaus gebe es jedoch auch jene menschlichen Dimensionen, die dem "rationalen Vernunftabsolutismus" unzugänglich seien, Dinge wie "Transzendenz, Volk, Liebe, Kunst und Humor".63 Neben rationaler Legitimation, vernünftiger Zustimmung und politischer Aktivität existiere eine stets zu berücksichtigende "emotionale Tiefendimension staatlicher Existenz", die überdies nicht rechtfertigungsbedürftig sei.64 Bestätigt sah Depenheuer seine Position insbesondere durch das Scheitern des europäischen Verfassungsprozesses. Die vielen Befürworter in Deutschland, zusammen mit den "Europaingenieuren" in Brüssel, hätten die Rechnung für ihr Projekt "eines nachnationalen Gemeinwesens, einer staatstranszendierenden Republik" ohne den Wirt, ohne die europäischen Völker gemacht und somit schlicht die Gefühle, Ängste und nationalen Identitätsbedürfnisse ignoriert.65 Da der Verfassungsvertrag aber letztlich nur am Votum zweier Länder (Frankreich und Niederlande) scheiterte und es demgegenüber in Deutschland und vielen anderen Ländern auch große Zustimmung gab, scheint die Argumentation zumindest selektiv.

Peter Haungs vertrat schon 1992 die Ansicht, dass der Verfassungspatriotismus mit der deutschen Wiedervereinigung keineswegs obsolet geworden sei.66 Neben dem wirtschaftlichen Aspekt hätte nicht zuletzt die Attraktivität des freiheitlichen Verfassungsstaates eine entscheidende Rolle für den raschen Beitritt der früheren DDR zur Bundesrepublik gespielt. Der Verfassungspatriotismus war für ihn ein "Konzept ohne überzeugende Alternative"67 , und gegen die Kritiker des Begriffs erhob Haungs die etwas sorgenvolle Frage, welche neuen Elemente denn nun eigentlich den Verfassungspatriotismus verdrängen oder ergänzen sollten.

Auch Donate Kluxen-Pyta erkannte im Verfassungspatriotismus "kein Alternativkonzept, sondern die angemessene Form nationaler Identität und eines humanistisch kontrollierten Patriotismus".68 Ganz ähnlich resümierte schließlich Peter Molt, der Gehalt des Verfassungspatriotismus sei "trotz seiner sperrigen und interpretationsbedürftigen Bezeichnung geeignet, auch weiterhin Orientierung für den inneren Frieden und Zusammenhalt im geeinten Deutschland sowie für die Zukunft der Europäischen Union zu geben und als Richtschnur für das nationale Selbstverständnis der Deutschen zu dienen."69

Insgesamt betrachtet, hat sich die Frontstellung seit den späten Nullerjahren merklich abgeschwächt. Volker Kronenberg diagnostizierte im Jahr 2009 sogar, dass die alten Streitmuster einem "weitgehend konsensuellen Verständnis von Patriotismus" gewichen seien.70 Er führte die Entwicklung unter anderem auf die rot-grünen Regierungsjahre von 1998 bis 2005 und eine Öffnung des linksdemokratischen Lagers gegenüber dem Begriff der Nation sowie die psychologische Wirkung des fahnenfröhlichen WM-Sommers 2006 zurück, während zugleich von liberal-konservativer Seite die Forderung nach einem demokratisch-freiheitlichen Wertekonsens mit Anerkenntnis eines multikulturellen Pluralismus verbunden wurde. Zudem sei seit 1990 der Verfassungspatriotismus auch wieder stärker auf das Ursprungskonzept bei Sternberger zurückgeführt worden.

Verfassungspatriotismus als Rationalitätskonzept in der politischen Bildung

Es mag ein günstiger Zufall, möglicherweise auch Weitsicht oder ein kluger Schachzug der handelnden Akteure gewesen sein, dass der Begriff seine größte Entfaltung und Wirkung bei Sternberger just auf der Veranstaltung einer Institution erfahren hat, die die politische Bildung als Zweckbestimmung bereits im Namen trägt. Sogar Sternberger gab in seiner Akademie-Festrede für das Konzept Verfassungspatriotismus die Losung aus: "Vielleicht ist es auch eine Stichwort für politische Bildung."71

Schon kurz bevor Sternberger 1979 seinen Leitartikel publiziert hatte, war von Manfred Hättich, dem damaligen Direktor der Akademie für Politische Bildung, eine kleine Schrift mit dem Titel Rationalität als Ziel politischer Bildung veröffentlicht worden.72 Der Grundlagencharakter des Bandes ist bis heute ungebrochen, wenngleich der Tutzinger Akademiedirektor bereits einleitend festhielt, dass sein Plädoyer - angesichts des breiten Konsenses - kaum besondere Originalität beanspruchen könne.73 Unter dem Stichwort "Verfassungskonsens" stellte Hättich ganz ähnliche Überlegungen wie Sternberger an.74 Die Verfassung galt Hättich dabei sowohl als Gegenstand, Legitimationsgrundlage wie schlichte Gegebenheit politischer Bildung.

Politische Bildung sei prinzipiell nicht um des politischen Systems, sondern um der Bürger willen da. Wenn politische Bildung zu rationaler Urteilsfähigkeit beitragen soll, dann dergestalt, dass die Bürger ihre Rolle zunächst innerhalb des gegebenen Systems - und nicht in einer nicht oder noch nicht existierenden politischen Ordnung - wahrnehmen können. Diese Zielsetzung ist aber nur möglich in einer mit Freiheitsnormen ausgestatteten Ordnung, wie sie gerade das Grundgesetz niederlegt. Es gehe nicht darum, Sozialkunde zu einem "Gesinnungsfach" zu machen, aber man könne die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass politische Bildung - wie andere Fächer auch - stets Werteinstellungen transportieren werde.

Hättichs Überlegungen zielten darauf ab, die Verfassung als Maßstab der politischen Wirklichkeit und damit auch als Maßstab der Kritik zu etablieren. Die Vermittlung von grundlegenden Verfassungsnormen und -werten habe nicht zu bedeuten, dass das Denken in Alternativen aufhören müsse. Hättichs Hoffnung aber war, dass sich durch die Bindung an die Verfassung zugleich ein Minimalkonsens für den politischen Unterricht im Sinne rationaler Urteilsbildung begründen ließ.

Später stellte auch die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in einem eigenständigen Sammelband die Titelfrage: Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung? 75 Die Antworten fielen durchaus differenziert aus. Günter C. Behrmann erklärte darin den Begriff für sozial, räumlich und geschichtlich indifferent76, aber der Großteil der Autoren war durchaus bereit, ein Ausrufezeichen hinter die Titelfrage zu setzen. Wenig später plädierte Sabine Leutheusser-Scharrenberger in einem Beitrag mit großem Nachdruck für den Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung. Die Frage, ob dieser ein geeignetes Ziel sei, stelle sich gar nicht, denn: "Wenn und solange wir an gesellschaftlichen Zusammenhalt überhaupt interessiert sind, [...] bleibt nur die Möglichkeit einen auf die republikanische, freiheitliche und demokratische Verfassung abstellenden, in den Herzen und Köpfen möglichst aller Bürgerinnen und Bürger verankerten Verfassungspatriotismus zu befördern."77

Eines kann dabei zumindest als unbestritten gelten: Der Verfassungspatriotismus ist - das haben auch seine Kritiker nie infrage gestellt - eine ausgesprochen rationale Kategorie politischer Orientierung. Wer demnach für Rationalität als Ziel politischer Bildung plädiert, der kann kaum widerspruchsfrei gegen einen wohlverstandenen Verfassungspatriotismus argumentieren und er kann kaum wollen, dass weitgehend etablierte rationale Kategorien durch primär emotionale Orientierungsgrößen ersetzt werden. Verfassungspatriotismus heißt an erster Stelle, dass es Loyalität nur für einen Staat geben kann und darf, der die grundlegenden Freiheits- und Menschenrechte garantiert. Er dient damit zugleich der Prävention von Gefahren, die aus dem Missbrauch patriotischer Gefühle für anti-demokratische Zwecke resultieren. Für die politische Bildung jedenfalls, und das Ziel rationaler Urteilsbildung, scheint der Begriff als Leitmotiv von geradezu überragender konsensstiftender Bedeutung. Eine bessere Kategorie wurde bisher zumindest noch nirgends formuliert. Es entbehrt somit nicht einer gewissen Folgerichtigkeit, dass man Dolf Sternberger wenige Jahre nach Hättichs ersten diesbezüglichen Überlegungen bat, seine neue Wortschöpfung auf der Jubiläumsfeier der Akademie für Politische Bildung näher auszuleuchten.

Fazit

Die Vokabel ist nicht unumstritten geblieben. Sie ist allerdings hauptsächlich aus Gründen, die Sternbergers Konzept nicht selbst zu vertreten hat, in unruhiges Fahrwasser geraten und teilweise Opfer einer polarisierten Debatte geworden. Mehr noch aber gilt, dass viele Einwände der Begriffskritiker nicht sonderlich stichhaltig sind.

Ein Großteil der Kritik am Verfassungspatriotismus lässt sich - ob der Begriff nun in toto abgelehnt, ob Sternberger oder Habermas missverstanden oder ob mit Sternberger gegen Habermas argumentiert wurde - auf einen sehr analogen Reflex zurückführen: Es ist die Sorge, etwas abgeben oder eintauschen zu müssen; die Befürchtung, emotionale Ressourcen, die sich mit der kollektiven Identität der Deutschen verbinden, verabschieden und durch Bezugnahme auf einen Verfassungstext ersetzen zu müssen. Doch auf nichts dergleichen zielt der Begriff. Verfassungspatriotismus ist gerade nicht auf ein sperriges Textdokument gerichtet, sondern auf die zentralen Prinzipien des modernen Verfassungsstaates. Und das Konzept lässt, zumal im Sinne Sternbergers, sämtliche kulturell, historisch oder ethisch begründeten Gemeinschaftsempfindungen intakt.

Ein weiterer, viel gehörter Einwand lautet, der Verfassungspatriotismus sei eine abstrakte Kategorie. Der Versuch, die Solidarität und das Zusammenleben der Deutschen auf universale Prinzipien, auf abstrakte Ideen wie Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit zu gründen, sei zum Scheitern verurteilt, weil er gerade das Besondere, die spezifisch-kulturelle Identität der Deutschen ausgrenzt. Letzteres aber müsse als Voraussetzung einer Gemeinschaftsempfindung gelten, denn ohne vorpolitische Identitäten, ja Nationen gebe es schlechterdings kaum eine Verfassung. Der Verfassungspatriotismus verhalte sich daher weitgehend "parasitär" zum Nationalismus, da er auf ihn angewiesen sei.78

Auch dies ist ein grundlegendes Missverständnis. Denn der bundesrepublikanische Verfassungspatriotismus bezieht sich nicht auf irgendeine westlich-demokratische Verfassung, sondern auf ein Dokument, in dem sich die spezifischen Erfahrungen der deutschen Geschichte, nicht zuletzt jene der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus widerspiegeln und niedergeschlagen haben. Sternbergers Verfassungspatriotismus ist daher wie das Grundgesetz "alles andere als ein ahistorisches Konstrukt".79 Aber auch Habermas hat einem kulturell und historisch losgelösten Verfassungspatriotismus nie das Wort geredet. Vielmehr erklärte er schon zu aller Anfang, dass sich jedes Land Prinzipien wie Demokratie und Menschenrechte auf eigene, historisch und kulturell spezifische Weise aneignen müsste.

Darüber hinaus näherte sich Habermas in späteren Äußerungen den Positionen von Sternberger sogar noch weiter an. So schrieb er 2005 in einem Aufsatz: "Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis heißt 'Verfassungspatriotismus', dass sich die Bürger die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext ihrer eigenen nationalen Geschichte zu eigen machen." Zudem insistierte er, dass es "im eigenen Interesse des Verfassungsstaates (liege), mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen."80 Die rein universalistische Wendung des Begriffs - die es so zwar nie gegeben hat, die aber gleichwohl als solche häufig rezipiert und kritisiert wurde81 - war damit weitgehend Geschichte.

Der Verfassungspatriotismus ist, sofern dies als Vorwurf zu verstehen ist, in der Tat eine tendenziell rationale Orientierungsgröße. Diese Ausrichtung besitzt jedoch in einigen Fällen eindeutige Vorzüge gegenüber anderen, rein emotional besetzten und stark polarisierenden Begriffen. Mit Blick auf die Integrationsdebatte gilt dies insbesondere für die Forderungen nach einer "deutschen Leitkultur". Menschen mit Migrationshintergrund werden zwangsläufig größere Schwierigkeiten haben, ihre (neue) Identität auf die Geschichte und Tradition der deutschen Nation zu gründen. Ein Bekenntnis zu den zentralen Werten des Grundgesetzes kann man dagegen deutlich leichter einfordern. Jedes Land, das die Freiheit sichert, kann zum Vaterland werden, so lautete schon die Grundformel bei Thomas Abbt.

Darüber hinaus ist der Verfassungspatriotismus kein hermetisch geschlossenes Konzept. So sehr sich verschiedenartige Formen und Prägungen in unterschiedlichen Ländern ausbilden konnten und können, so wenig muss er an ursprünglichen Begründungen haften bleiben. Der Verfassungspatriotismus ist ein vergleichsweise undogmatisches Modell kollektiver Identität. Die eher assoziativ argumentierende Art Sternbergers war daran nicht unbeteiligt. Zwar hat diese zu manchen Unschärfen und Missverständnissen beigetragen, sie hat aber auch - willentlich oder unwillentlich - die Grundlage für die besondere Offenheit der Interpretation, Auseinandersetzung und Neuakzentuierung gelegt.

Das ändert freilich nichts daran, dass der Begriff auch Schwächen besitzt: Ein reiner Verfassungspatriotismus ist mit seinen Bindekräften, zumal in Gestalt des vergleichsweise jungen Grundgesetzes, gewiss überfordert, um alle historischen, ethnischen und kulturellen Identitätsressourcen zu symbolisieren. Allerdings: Vergleichbares gilt auch für den Nationalpatriotismus. Dieser ist zudem keine zwingend notwendige Voraussetzung für den demokratischen Prozess im Verfassungsstaat.

Der Begriff Verfassungspatriotismus kann insofern nicht nur als diskussionswürdige, sondern als durchaus fruchtbare und nach wie vor aktuelle Formel gelten. Lässt man die gelegentlichen Überspitzungen außen vor, dann vermag das Konzept sowohl für national-konservative wie linke Demokraten eine gemeinsame Wertesubstanz zu formulieren und als Richtmaß für die Frage dienen, was die Gesellschaft (auch) zusammenhält.82

Richtig ist, dass auch der Verfassungspatriotismus - durchaus im Sinne von Sternbergers "lebender Verfassung" - auf Formen vorpolitischen Engagements, auf eine Kultur von Bürgertugenden angewiesen ist. Ferner lebt der Verfassungspatriotismus nicht zuletzt vom Nachdenken über den Verfassungspatriotismus.83 Es wäre daher zumindest kein gutes Zeichen, wenn sich niemand mehr auf den Verfassungspatriotismus berufen, ja wenn keiner mehr über den Verfassungspatriotismus streiten würde.

Der größte Widerstand gegen den Begriff gleicht jedoch weitgehend einem Scheinproblem: Es ist "nicht einzusehen, warum die verfassungspatriotische Identität gegen die nationale Identität der Deutschen ausgespielt werden sollte."84 Verfassungspatriotismus ist kein Konkurrenzbegriff zum Nationalpatriotismus, er ist kein Kampfbegriff, der diesen ausschließt oder überwindet; der ein bloß rationales Staatsbürgerbewusstsein an die Stelle eines emotionalen, ein juristisches an die Stelle eines kulturellen setzen will.85 Verfassungspatriotismus zwingt zu keinerlei Verzicht, er nötigt niemanden zu einem ungebührlichen Tauschgeschäft. Verfassungspatriotismus substituiert keinen Nationalpatriotismus, er muss aber komplementär und sogar notwendigerweise zu diesem hinzutreten. Die Verfassung gegen erklärte Feinde zu verteidigen, hielt schon Sternberger für eine "patriotische Pflicht."86 Ein neuer Nationalpatriotismus, der sich lediglich auf das irrationale Element einer emotionalen Bindung an die nationale Identität gründet, ist weder mit der Argumentation Sternbergers noch mit jener von Habermas vereinbar. Beide, aber auch Hättich87, verstanden den Verfassungspatriotismus zu Recht als entscheidendes und notwendiges Korrektiv. Nicht ein Verfassungspatriotismus ohne Nationalpatriotismus ist suspekt, ein Nationalpatriotismus ohne Verfassungspatriotismus dagegen allemal.

 

Dolf Sternberger - eine biografische Skizze

Am 28. Juli 1907 wurde Dolf Sternberger, der eigentlich Adolf Sternberger hieß, in Wiesbaden geboren. Nach dem Abitur ging er zunächst nach Kiel, belegte dort Theaterwissenschaft, verließ aber bereits nach einem Semester die Universität wieder, um ihn Frankfurt Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren. 1927 wechselte er nach Heidelberg, lernte Karl Jaspers und Hannah Arendt kennen und promovierte - nach einer Zwischenstation bei Martin Heidegger in Freiburg - schließlich 1932 in Frankfurt bei Paul Tillich. Die Arbeit erschien 1934 unter dem Titel Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzialontologie. Im gleichen Jahr nahm Sternberger eine Stelle als Redakteur im Bildungsressort der Frankfurter Zeitung an, 1943 erhielt er Berufsverbot. Anfechtungen im Nationalsozialismus hat er stets widerstanden. Seine aus jüdischer Familie stammende Frau Ilse musste Sternberger bis Kriegsende vor den brauen Schergen verstecken. Ab Oktober 1945 gab er zusammen mit Karl Jaspers, Alfred Weber und Werner Kraus die Zeitschrift Die Wandlung heraus, eine viel beachtete Stimme zum geistigen Wiederaufbau Deutschlands. Von 1950 bis 1958 engagierte er sich als Mitherausgeber bei der zweiwöchig erscheinenden Zeitschrift Die Gegenwart. Von 1949 bis zu seinem Tod schrieb Sternberger zudem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hauptsächlich Essays und Leitglossen und nahm regelmäßig an den großen Redaktionskonferenzen teil. Auch im Radio war Sternberger zu hören. 20 Jahre lang (1946 - 1966) sprach er politische Kommentare für den Hessischen Rundfunk. Schon 1946 propagierte er - als Erster überhaupt – die Einführung der Faches Politikwissenschaft an deutschen Universitäten. Er erhielt 1947 einen Lehrauftrag in Heidelberg und zählte damit neben Otto Suhr, Ernst Fraenkel, Theodor Eschenburg oder Arnold Bergstraesser zu den Gründungsvätern der Zunft. Er rief 1960 als Mitglied des Herausgebergremiums die Politische Vierteljahresschrift (PVS) ins Leben, das offizielle Periodikum der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), als deren Vorsitzender Sternberger zudem zwischen 1961 und 1963 amtierte. Seine Antrittsvorlesung als Ordinarius im November 1960 spiegelte Sternbergers Politikbegriff wider: In erklärter Gegnerschaft zu Carl Schmitt, die einer "zum Ekel gesteigerten Aversion" gleichkam (G. Nonnen­macher), postulierte er: "Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist Frieden." Dieser Grundzug findet sich auch in seinem Hauptwerk Drei Wurzeln der Politik: Nicht die "dämonologische" Figur des machiavellistischen Herrschertypus oder die "eschatologische" Variante des augustinischen Gottesstaates, sondern die "politologische" Wurzel der aristotelischen Bürgerschaft hob Sternberger auf den Schild. Aristoteles' Politik galt ihm zeitlebens als "das Grundbuch der abendländischen Staatslehre". In einer gesammelten Schriftenedition, die zwischen 1977 und 1991 in insgesamt 12 Bänden erschien, sind seine wichtigsten Arbeiten zugänglich. Am 27. Juli 1989, nur einen Tag vor seinem 82. Geburtstag, starb Sternberger in Frankfurt am Main.

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