Die Welt im Wandel

Das Jahr 1989 aus weltweiter Perspektive

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.07.2014

Von: Christoph Scholl und Dan Prume

# Zeitgeschichte, Globalisierung

Download: Welt im Wandel: 1989 als globales Epochenjahr

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Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing

Wenn es in der Geschichtswissenschaft Stars gibt, dann sammelten sie sich in der Akademie für politische Bildung Tutzing. Autoren internationaler Standardwerke, profilierte und provozierende Historiker diskutierten vom 11.-13.Juli 2014 über die „Welt im Wandel: 1989 als globales Epochenjahr“.

Der Direktor des National Security Archive in Washington D.C., Thomas Blanton, untersuchte die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion, aber auch gegenüber der Volksrepublik China und Südafrika im Epochenjahr 1989. Dabei beschrieb er die Europa-Politik der Bush-Senior-Administration, die gerade frisch ins Amt gekommen war, in dieser Zeit als von großer Unsicherheit geprägt. Auf die Reformpolitik von Gorbatschow reagierte Bush sehr zurückhaltend. Die amerikanische Entscheidung, die Reformkräfte in Osteuropa nicht aktiv zu unterstützen, ermöglichte dabei aber paradoxerweise durch das so entstandene Machtvakuum den Erfolg der Demokratiebewegung in Mittelosteuropa. Svetlana Savranskaya – ebenfalls vom National Security Archive – referierte über die sowjetische Politik gegenüber Osteuropa und der Volksrepublik China im Jahr 1989. Ihrer Meinung nach war für Gorbatschow ein Einsatz von Gewalt gegenüber der Protestbewegung nie eine rechte Option, weil die Sowjetunion einen reformatorischen Ansatz vertrat. Die revolutionären Bewegungen in Osteuropa kamen Glasnost und Perestroika somit entgegen.

Horst Teltschik gab einen Abriss über die Ereignisse des Jahres 1989 aus der Sicht des Bundeskanzleramtes. Der damalige Leiter der außenpolitischen Abteilung und enge Vertraute Helmut Kohls verdeutlichte, wie riskant die von der Regierung angestrebte Wiedervereinigung tatsächlich war. Obwohl die Verbündeten den beiden deutschen Staaten dieses Recht zugestanden hatten, gab es zunächst keine proaktive Unterstützung. Die Reaktion der Sowjetunion, die eigentlich den Sozialismus in der DDR reformieren wollte, war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls keineswegs absehbar, so Teltschik. Als die deutsche Einheit zunehmend zur realen Option wurde, ging man zunächst von einem Prozess von fünf bis zehn Jahren aus – sowohl bei den Verbündeten und der Sowjetunion als auch im Kanzleramt. Das schnelle ostdeutsche Votum für die Einheit überraschte auch Kohl, wie sein enger Berater berichtete, und führte zu seinem Zehn-Punkte-Programm, von dem weder die Alliierten noch Außenminister Genscher wussten.

Der Historiker Andreas Rödder stellte in seinem Vortrag die zentrale Frage, ob die Einführung des Euro der Preis für die deutsche Einheit war. Er sagte, dass die Wiedervereinigung in die Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses „hineinplatzte“, der bereits 1985 initiiert worden war. In diesem Rahmen war auch die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung bereits vor 1989 im Grundsatz eine beschlossene Sache. Zu konkreten Umsetzungsplänen kam es allerdings erst Anfang der neunziger Jahre (Maastricht 1992). Besonders auf deutscher Seite bestanden Vorbehalte gegen eine schnelle Einführung, weil die Wirtschaftssysteme der EG-Staaten zu unterschiedlich waren. Kohl entschied sich schließlich zugunsten der integrationspolitischen Ideale und stimmte den französischen Plänen zu.

Der Historiker von der Sorbonne, Frédéric Bozo, skizierte die französische Rolle im Epochenjahr 1989. Das Mutterland der Menschenrechte und Volkssouveränität begrüßte die Demokratiebewegungen in Mittelosteuropa. Gegenüber einer deutschen Einheit bestanden jedoch Bedenken, die nicht historisch begründet waren, sondern aufgrund der Befürchtung entstanden, dass sich Deutschland von der westeuropäischen Integration abwenden könnte. Mary Sarotte von der Harvard University vertrat die These, dass das Epochenjahr 1989 eine verpasste Chance war, die Sowjetunion stärker in Europa zu integrieren. Obwohl rhetorisch die Schaffung einer neuen Weltordnung propagiert wurde, habe sich in der internationalen Politik sehr wenig verändert. In Bezug auf die Integration der osteuropäischen Staaten hätten Bonn und Washington mit dem NATO-Beitritt des vereinten Deutschland das Zukunftsmodell „Prefab“, also eine Ausdehnung der im Jahr 1990 bereits existierenden, „vorabfabrizierten“ Institutionen des Westens, gewählt, so Sarotte. Da man kein paneuropäisches Sicherheitssystem geschaffen habe, sei Russland am Rande Europas verblieben.

Der Experte für Zeitgeschichte der APB Tutzing, Michael Mayer, lenkte den Blick auf das Verhältnis der Volksrepublik China und der beiden deutschen Staaten im Jahr 1989. Aufgrund der kritischen Haltung der Bundesrepublik nach dem Tiananmen-Massaker im Juni 1989 vertiefte die chinesische Führung zunächst ihre Beziehungen zur DDR. Nach dem Mauerfall wollte Peking zuerst den ostdeutschen Staat unterstützen, verfiel jedoch längerfristig aus pragmatischen Erwägungen auf eine zweigleisige Außenpolitik, die auch die Bundesrepublik einbezog. Obwohl die Bundesrepublik als Handelspartner von größerer Bedeutung war, sicherte man der DDR Unterstützung in ihrem Existenzkampf zu. Als sich dann die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete, verwies die chinesische Regierung darauf, diese schon immer unterstützt zu haben. Gerhard A. Ritter ergänzte Mayers Ausführungen dahingehend, dass sich China in Bezug auf die Massenflucht aus der DDR sehr vorsichtig äußerte. Obwohl man ein Übergreifen der Oppositionsbewegung auf China verhindern wollte, wurde das SED-Regime nicht aktiv unterstützt. Ab Mai 1990 wurde die DDR von China als in Abwicklung befindlicher Staat angesehen, weshalb man sich um eine Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik bemühte und sich nicht in den Wiedervereinigungsprozess einmischte.


Weitere Informationen

Der Tagungsbericht von H-Soz-u-Kult


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