Wo blieb die Moral?

Der Holocaust als europäisches „Projekt“ des Deutschen Reichs

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 06.02.2012

Von: Sebastian Haas

# Nationalsozialismus

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Mayer-Longerich-Tutzing

Peter Longerich (rechts) eröffnete die Tagung im winterlichen Tutzing, zu der unser Zeitgeschichts-Experte Michael Mayer geladen hatte (Foto: Haas).

Vor 70 Jahren sprach die Führung des NS-Staates auf der Wannsee-Konferenz über die „Endlösung der Judenfrage“. Während die Nationalsozialisten ganz Europa im Blick hatten, konzentriert sich die historische Forschung vor allem auf einzelne Regionen. Für das Verständnis des Holocaust ist jedoch auch eine europaweite Perspektive nötig. An der Akademie für Politische Bildung kamen namhafte Historiker zusammen, um über einen transnationalen Blick auf dieses Jahrhundertverbrechen zu diskutieren.

Der Historiker Peter Longerich von der Universität London eröffnete unsere Tagung. Er wird in Kürze als Gastdozent an der Universität der Bundeswehr wirken und ist Mitglied der Antisemitismuskommission des Deutschen Bundestags. Der unbestrittene Experte auf diesem Gebiet machte gleich klar: Die gesamteuropäische Perspektive der Holocaust-Forschung zu stärken bedeutet nicht, den deutschen Antisemitismus zu einem gesamteuropäischen aufzubauschen. Es gab zwar eine mörderische Komplizenschaft zwischen deutschen Besatzern und der Bevölkerung. Doch die Kooperation war oft erzwungen, es gab keine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sondern eine Unterwerfung unter eine von Deutschland dominierte Politik: „Spätestens mit dem Kriegseintritt der USA werden Rassismus und Vernichtungspolitik die Klammer der deutschen Herrschaft in Europa“, erklärte Longerich.

Vernichtung als Klammer der Herrschaft

Longerich skizzierte die Stufen der Judenverfolgung in Deutschland: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sei es zu einer Welle der Gewalt gegenüber Juden gekommen. Damals entstand auch der Mythos der „jüdischen Kommunisten“. Nach der Machtübernahme Hitlers seien Juden dann einer scheinlegalen Diskriminierung unterworfen worden. Im Zuge der weiteren Radikalisierung, so stellte Longerich fest, sei ein europaweites Deportationsprogramm entstanden. Dieses könne nur aus einer geordneten Initiative und einer gut organisierten Zivilverwaltung resultieren. Für eine gesamteuropäische Perspektive der Holocaustforschung müsse zudem noch der Themenkomplex Flucht, Versteck und Widerstand berücksichtigt werden.

Wer war von der Rassengesetzgebung des Dritten Reiches betroffen? Wie konnte ein antisemitischer Massenmörder etwa im besetzten Polen erkennen, ob eine Person jüdischer Herkunft war oder nicht? Diesen Fragen widmete sich unser Tagungsleiter Michael Mayer. Er zeigte damit auf, wie seiner Ansicht nach das Konzept der Tagung auch in der Forschungspraxis umgesetzt werden könnte. Im Reich und in den besetzten Westgebieten hatte sich ein juristisch sehr komplexer „Judenbegriff“ entwickelt, dessen Umsetzung Verwaltung und Gerichte über Jahre beschäftigte. Selbst im Generalgouvernement Polen existierte ab Sommer 1940 eine solche Festlegung. Die Umsetzung dieser Maßgabe unterschied sich aber grundlegend vom Reich und den besetzten Westgebieten. Die SS-Einsatzgruppen bezogen Menschen willkürlich in den Massenmord ein, die aufgrund ihrer Kleidung, ihrer Sprache, ihres scheinbar jüdischen Aussehens oder aufgrund von Eintragungen in Synagogenlisten für Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft gehalten wurden.

Völlige Willkür

In den besetzten Gebieten der Sowjetunion konnte praktisch jeder von Judensternen, Beschlagnahmungen, Ghetto, Zwangsarbeit und Ermordung betroffen sein. Denn der Entwurf zu einer „Verordnung über die Bestimmung des Begriffs Jude in den besetzten Ostgebieten“ vom Januar 1942 ließ verlauten: „Jude ist, wer sich zur jüdischen Religionsgemeinschaft oder sonst als Jude bekennt oder bekannt hat oder wessen Zugehörigkeit zum Judentum sich aus sonstigen Umständen ergibt.“ Aber selbst diese völlig willkürliche Rassengesetzgebung wurde von den SS-Einsatzgruppen abgelehnt. Heinrich Himmler gelang es, die Einführung eines „Judenbegriffes“ in den besetzten Ostgebieten zu verhindern. Er erklärte dazu: „Ich lasse dringend bitten, daß keine Verordnung über den Begriff ‚Jude‘ herauskommt. Mit all diesen törichten Festlegungen binden wir uns ja selbst nur die Hände. Die besetzten Ostgebiete werden judenfrei. Die Durchführung dieses sehr schweren Befehls hat der Führer auf meine Schultern gelegt. Die Verantwortung kann mir ohnedies niemand abnehmen. Also verbiete ich mir alles Mitreden.“

Michael Mayer sieht im Himmler-Apparat ab Frühjahr 1942 die treibende Kraft für die radikale Umsetzung des Holocaust in einem europaweiten Maßstab: „Der bewusste Verzicht auf bürokratische Regeln und die völlige Willkür ist eines der grundlegenden Elemente, um die Singularität des Holocaust zu erklären.“ Gleichzeitig betont er, wie die übrigen Besatzungsorgane auch weiterhin Teil des Massenverbrechens blieben.

Forschung: Osteuropa muss aufholen

Dieter Pohl von der Universität Klagenfurt stellte Forschungsperspektiven zum Holocaust in Ostmittel- und Osteuropa dar – und die sind nicht gerade positiv. Bis 1990 gab es nur in Polen eine intensive, aber kaum beachtete Forschung zu diesen Verbrechen. Die sowjetische Geschichtsschreibung negierte diesen Forschungszweig und betrachtete die deutschen Kriegsverbrechen allgemein, ohne zwischen verschiedenen Opfergruppen zu unterscheiden. „Mittlerweile aber ist die Holocaust-Forschung so vernetzt wie kaum ein Zweig der Geschichtswissenschaft“, erklärte Pohl, „es gibt umfassende Quelleneditionen und die junge Generation wird wieder mit diesem Thema konfrontiert.“

Schwerpunkt der Forschung im östlichen Europa bleibe aber die Nationalgeschichte, zu der die jüdischen Bevölkerungsteile aber nur selten gerechnet werden. Im Gegenteil. Pohl beobachtet das Aufkommen alter antisemitischer Stereotypen: der verhasste Kommunismus werde mit „den Juden“ gleichgesetzt. Judenvernichtung werde als rein deutsches Phänomen gesehen. Im Baltikum oder in Bulgarien stelle der kritische Umgang mit der Vergangenheit lediglich eine Episode im Zuge des EU-Beitritts dar. In Russland ist der Mord an den Juden mittlerweile ein Thema, geht aber im Historikerstreit mit den baltischen Staaten und der Ukraine unter. Von einer jüdischen Gesellschaftsgeschichte, integriert in eine nationale oder gar europäische Geschichte, ist man noch weit entfernt.

Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin ist seit den 1980er-Jahren damit beschäftigt, die Dimensionen des Holocaust zu erforschen und grundlegendes Zahlenmaterial vorzulegen. Klar ist: eine generalisierende Opferforschung führt zu keinem Ergebnis – zu groß ist die Spannbreite der Reaktionen von gleichgültiger Hinnahme der Verfolgung bis hin zu offenem Widerstand. Zum Beispiel in den Niederlanden, wo das Königspaar der Legende nach aus Solidarität den „Judenstern“ getragen haben soll, wo Anne Frank lange versteckt gehalten wurde, wo aber auch zwei Drittel der dort lebenden Juden ihr Leben verloren. Oder wie in Bulgarien, wo Juden zwar diskriminiert, aber nicht in die deutsche Rassenpolitik einbezogen wurden. Oder in der Slowakei, wo es zwar Massendeportationen gab, aber auch „Schutzbriefe“ durch die Verwaltung oder rettende Taufscheine durch die katholische Kirche ausgestellt wurden.

Pius XII. und der Holocaust

Damit sind wir auch schon beim nächsten Themenkomplex. Michael F. Feldkamp vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags sprach darüber, wie sich der Heilige Stuhl zum Holocaust positionierte. Feldkamp revidierte dabei das Bild von Papst Pius XII. als Freund des Nationalsozialismus. Dieser trug den bürgerlichen Namen Eugenio Pacelli und war seit 1917 als päpstlicher Nuntius in Bayern bzw. der Weimarer Republik tätig gewesen – was seine Liebe zur deutschen Kultur und Sprache erklärt.

Doch bereits in seiner Enzyklika aus dem Herbst 1939 betonte er die Gleichheit aller Menschen. Aktiver Widerstand gegen die Nationalsozialisten und ihre Vernichtungspolitik fiel ihm aber schwer, diplomatisch war der Vatikan in seiner Rolle als neutrale Instanz gefangen. In Polen beispielsweise hatte jede Beschwerde eine härtere Gangart gegen die Kirchen zur Folge. Feldkamp betont, dass die kirchliche Hilfe für Juden, etwa im von deutschen Truppen besetzten Rom, auf eine Initiative des Papstes zurückging und nicht allein auf individuelle Hilfe von Kirchenvertretern beruhte: „Keine Einzelperson kann 200.000 Flüchtlinge in römischen Klöstern verstecken. Die Klausur eines Klosters kann nur der Bischof aufheben, und das ist in Rom der Papst“, erklärte Feldkamp. Auch beschaffte man von den südamerikanischen Botschaften in Vatikanstadt tausende gefälschte Pässe für Verfolgte – davon profitierten ab 1945 aber auch jene Nationalsozialisten, die aus Europa flohen.


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