Haben wir den europäischen Traum verloren?
Wie sich die Europäische Union inmitten wachsender Skepsis neu positionieren muss
Von der Gurkenverordnung bis zur Abschaffung der Plastikstrohhalme - sehr viel weiter reicht das Bild über die Errungenschaften und Arbeit der Europäischen Union bei vielen Bürgerinnen und Bürgern in den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht. Wenn Nachrichten aus Brüssel wahrgenommen werden, dann nur mit einem Stirnrunzeln und einer negativen Erwartungshaltung. Eins steht fest: aktuell sieht sich die europäische Idee zunehmend Skepsis, Gleichgültigkeit, teilweise sogar Feindschaft gegenüber. Wie äußert sich die Euroskepsis noch und wie kann ihr wirksam begegnet werden? Welche Verantwortung tragen dabei Politik, Medien und Gesellschaft? Darüber diskutierten Expertinnen und Experten auf der Tagung "Forum Verfassungspolitik: Die Zukunft der Europäischen Union", eine Kooperation zwischen der Akademie für Politische Bildung und dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 21.07.2025
Von: Franziska Steinich / Foto: Franziska Steinich
Programm: Forum Verfassungspolitik: Die Zukunft der Europäischen Union
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"Es gab viele Schönwetterjahre. Jetzt haben wir eine Vielfalt von Krisen vor uns. Alle Gewissheiten sind weg. Wir brauchen die Europäische Union!" Mit diesen Sätzen fasst Marieluise Beck, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages des Bündnis90/Die Grünen, die aktuelle Lage zusammen. Multiple Krisen und Unsicherheit dominieren das Weltgeschehen. Die Europäische Union könnte mit vereinten Kräften, gemeinsamen Werten und Zielen für die Mitgliedsstaaten Stabilität und Sicherheit bedeuten. Und dennoch sind Bürgerinnen und Bürger so skeptisch - oder noch schlimmer: so gleichgültig - wie nie zuvor. Woher kommt die Euroskepsis? Wie äußert sie sich? Und wie kann dieser wirksam begegnet werden? Welche Verantwortung tragen dabei Politik, Medien und Gesellschaft? Über diese Fragen diskutieren Expertinnen und Experten auf der Tagung "Forum Verfassungspolitik: Die Zukunft der Europäischen Union", eine Kooperation zwischen der Akademie für Politische Bildung und dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier.
Wie demokratisch kann die EU sein?
Bevor man sich den Fragen nach der aktuelle bestehenden Skepsis gegenüber der Europäischen Union widmet, lohnt sich ein Blick auf die tatsächliche Verfasstheit der EU. Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, betont, dass es sich bei der EU nicht um einen überdimensionierten Superstaat handle, sondern um einen engen Verband von souveränen Staaten. Doch wie demokratisch ist und kann ein solcher Staatenverbund sein? Auf europäischer Ebene könnten demokratische Prinzipien nicht so funktionsfähig umgesetzt werden wie auf staatlicher Ebene, da der Verbund nicht über die gleiche demokratische Legitimation verfüge wie seine Mitgliedstaaten, erklärt der Jurist. Dies könne der EU jedoch nicht vorgeworfen werden. In den vergangenen Jahren seien das Demokratieprinzip und der Parlamentarismus innerhalb der Europäischen Union weiter ausgebaut worden, wie zum Beispiel durch die Gleichsetzung des Europäischen Parlaments mit dem Europäischem Rat. Eine volldemokratische Struktur könne und werde es auch in Zukunft nicht gebe, da es dafür erst zu einer Staatsgründung kommen müsse. Das deutsche Verfassungsgericht betont, dass das Demokratieprinzip natürlich für die Union selbst gilt, jedoch anders ausgestaltet ist und sein muss als in den volldemokratisch organisierten Mitgliedsstaaten. Dies liege vor allem daran, dass es keine gesamteuropäische Zivilgesellschaft, Parteien- oder Medienlandschaft gäbe, erklärt Papier. Diese wesentlichen Voraussetzungen für transparente Willensbildungsprozesse, die von einer Zivilgesellschaft begleitet und kontrolliert werden, beschränken die Demokratiefähigkeit der Europäischen Union. Der ehemalige Verfassungsrichter sieht die Zukunft der EU nicht in einer überdimensionalisierten Staatlichkeit, sondern in einem sinnvoll angepassten Umbau, der sich auf drei Ziele konzentriert: engerer Zusammenhalt innerhalb der Union, geographische Erweiterung und die Stärkung des parlamentarischen Systems. Diese Ziele könnten jedoch nicht gleichmäßig, gleichzeitig und gleichrangig verwirklicht werden.
Skepsis, Gleichgültigkeit, Feindschaft
Die europäische Idee sieht sich zunehmend Skepsis, Gleichgültigkeit, teilweise sogar Feindschaft gegenüber. Woran lässt sich eine solche Haltung gegenüber der EU erkennen? Marie-Luise Beck erkennt Unmut und Ablehnung der Union bei Bürgerinnen und Bürgern über kleine, gegebenenfalls auch überflüssige, Einschränkungen im alltäglichen Leben, die sich eindeutig auf EU-Verordnungen zurückführen lassen: "Es fängt mit der Gurke an und endet mit der Abschaffung des Plastikstrohhalmes." Die Menschen interessiere, was sie im Alltag beeinflusst. Große, lebensfernere Errungenschaften der Europäischen Union werden nicht gesehen. Das Euroskepsis per se nicht negativ sei, betont der Brüssel-Korrespondent Hendrik Kafsack der FAZ. Ein kritischer Blick auf die EU sei immer etwas Gutes, solang die Kritik nicht platt werde und zu einer Abwertung von allem führe, was aus Brüssel kommt. Die Abneigung gegen das Plastikstrohhalmverbot sei vor allem ein Symbol für ein Unbehagen gegenüber der Europäischen Union. Die aktuelle Tendenz von "wenn es gut ist, waren wir es selbst, wenn es schlecht ist, war es Brüssel" zeige in welch einem negativen Licht die Europäische Union aktuell dasteht. Auch Ulrike Müller, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, bekräftigt, dass die EU besser sei als ihr Ruf. Häufig werde jedoch aus den nationalen Parlamenten die Verantwortung der EU zugeschoben wird, obwohl es um eigene Verantwortlichkeiten gehe. Außerdem erkennt Müller das Narrativ und die Empfindung von "Wir hier unten, die da oben". Die Europäische Union lasse sich von der Bevölkerung nicht greifen, da sie als lebensfern wahrgenommen wird.
Wie kann man der Euroskepsis begegnen?
Um das Bild der Europäischen Union wieder in ein positives Licht zu rücken, müsse sich einiges verändern - so der Konsens der anwesenden Expertinnen und Experten. Marie-Luise Beck betont, dass es nicht um Regelungslockerungen gehe, sondern vor allem um die Frage, ob innerhalb der EU eine neue gemeinsame politische Ausrichtung und ein Wille, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, formuliert werden könne. Dieser müsse von Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern gut an Bürgerinnen und Bürger kommuniziert werden. Auch Ulrike Müller sieht die Relevanz einer Neuansprache der europäischen Bevölkerung. Das Konstrukt EU - bei dem es um Werte, Wirtschaft und Kompetenzverteidigung gehe - müsse den Menschen wieder nähergebracht werden. Müller plädiert für eine Rückbesinnung auf die großen europäischen Themen. Kleinere Anliegen sollten den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen werden. Die ehemalige EU Parlaments Abgeordnete legt viel Hoffnung in eine direkte Ansprache von Bürgerinnen und Bürgern. Man müsse zu den Menschen gehen und fragen: Wie wird die EU-Kommission wahrgenommen? Wie werden die Führungspersönlichkeiten wahrgenommen? Kennt man den eigenen EU-Abgeordneten? Foren für junge Menschen, Jugendparlamente, Städtepartnerschaften - über eine menschennahe Ebene könne die Tür zu weniger Skepsis und einem Verständnis der institutionellen Ebene geöffnet werden.
Hendrik Kafsack widerspricht diesem Ansatz. Diese Ebene reiche nicht aus. Erasmus+ Programme, Austauschreisen und Förderprogramme sprächen laut dem Journalisten nur eine akademische Elite an. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger erreiche eine wie von Müller beschriebene Ansprache nicht. Auch lasse sich Euroskepsis allein durch Deregulierung nach dem Motto: "Jetzt habe ich aus Brüssel fünf Jahre lang nichts Blödes gehört, jetzt finde ich die EU gut" nicht lösen. Kafsack plädiert stattdessen dafür, die "Luft aus der Blase" zu lassen. Die bestehende Kritik müsse endlich bei den Brüsseler Abgeordneten ankommen und in deren Arbeit integriert werden. Die Rolle der Medien sei dabei relevant, jedoch nicht allzu mächtig. In der Vergangenheit seien europäische Themen immer wieder relevant geworden und veröffentlich worden, jedoch wurden die Themen nach wenigen Wochen wieder eingestellt, da die Menschen kein wirkliches Interesse zeigten: "Die EU klickt nicht".
Bei der Frage wie gegen die bestehende Euroskepsis vorgegangen werden könne blieben unterschiedliche Ansätze nebeneinanderstehen - Bei alle diesen Ansätzen bleibt das Gefühl, dass sich vermutlich ein positiveres Bild der EU in Zukunft nur durch eine Prise von jeder dieser Ideen erzielen lässt.

