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Zeitenwende in der Sicherheitspolitik

Wie Deutschland und Europa Sicherheit neu denken müssen

Die Welt ist seit Beginn des Ukrainekriegs nicht mehr dieselbe wie zuvor, stellt Raphael Loss vom European Council on Foreign Relations fest. Die politische Neuausrichtung in den USA sorgt in Europa für große Veränderungen und die Rolle und Position der NATO sowie der EU unterliegen einem Wandel: Der Beginn einer neuen Zeitenwende. Die neue Bundesregierung steht dementsprechend vor großen, zentralen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Wie muss Verteidigungs- und Sicherheitspolitik heute (neu) gedacht werden? In welchen Bereichen können neue Impulse gesetzt werden? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Tagung "Germany’s European and Global Relationships in Challenging Times: Neuausrichtung oder Normalbetrieb?" der Akademie für Politische Bildung und der International Association for the Study of German Politics (IASGP).

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 13.06.2025

Von: Franziska Steinich / Foto: Franziska Steinich

Programm: Internationale Akademie: Germany's European and Global Relationships in Challenging Times

Germany's European and Global Relationships in Challenging Times: Neuausrichtung oder Normalbetrieb?

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

"Wir müssen krisenfester werden, nicht nur von der Bedrohung her denken, sondern zukunftsorientiert", erkennt Anja Opitz von der Akademie für Politische Bildung. Wir leben in Zeiten, in denen die europäische Sicherheit durch massive Krisen von außen bedroht wird. Die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik muss angesichts der Politik Donald Trumps und Wladimir Putins neu gedacht werden. Wir müssen uns fragen, was uns Sicherheit bedeutet und wie viel sie uns innerhalb der freiheitlich-demokratischen Ordnung wert ist. Es handelt sich um Zukunftsfragen, die nicht nur sicherheitspolitische Relevanz besitzen, sondern auch für kommende Generationen wichtig sind. Mit diesen Themen haben sich Expertinnen und Experten auf Tagung "Germany’s European and Global Relationships in Challenging Times: Neuausrichtung oder Normalbetrieb?" der Akademie für Politische Bildung und der International Association for the Study of German Politics (IASGP) auseinandergesetzt.

Verteidigung Europas

Nur etwas mehr als 100 Tage nach Beginn der Amtszeit Donald Trumps kristallisiert sich heraus, dass das Schicksal Europas für die amerikanische Außenpolitik nicht mehr von Relevanz ist  - so jedenfalls der Konsens unter den anwesenden Expertinnen und Experten. Im Sinne einer Zeitenwende gelte es daher nun, eine eigenständige europäische Verteidigungsfähigkeit herzustellen. Doch ist Europa in der Lage, sich ohne die USA zu verteidigen?

Zur Beantwortung dieser Frage spielt die Position der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle. Einblicke in die öffentliche Meinung bietet etwa eine aktuelle Umfrage des Eurobarometers: die Bürgerinnen und Bürger Europas sind demnach eher pessimistisch, was die eigene Wirkmächtigkeit anbelangt. Gleichzeitig stößt die Frage, ob Deutschland einem NATO-Verbündeten im Angriffsfall zur Hilfe kommen soll, auf große Zustimmung. Die europäische Sicherheit (mit weniger Unterstützung von Seiten der USA) ist somit die zentrale neue Herausforderung für die Bundesregierung.

Aktuell kristallisiere sich nämlich heraus, dass sich die USA auf die Sicherheit des indo-pazifischen Raums konzentriere und Donald Trump seinen imperialen Blick auf die Welt mit China und Russland teile, erklärt Loss. Doch Europa sei momentan enorm abhängig von den USA, was die politische Führung der europäischen Sicherheit betrifft. In Deutschland mangele es zum Beispiel vor allem an Personal, um Fähigkeitslücken zu schließen, da die militärischen Notwendigkeiten bislang nicht vorhergesehen wurden.

Die kürzliche Reform der Schuldenbremse zeige jedoch, dass die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der deutschen und europäischen Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeit erkannt wird. Ein umfassenderes Sicherheitsverständnis rücke zunehmend in den Fokus, woraus für Loss folgt, dass sich ein gesamtstaatliches Akteurskollektiv der Sicherheit und Verteidigung verpflichtet sehen und entsprechend handeln sollte. Zusätzlich werde es notwendig, gesamtgesellschaftlich zu denken was den Einbezug von Zivilgesellschaft und privatwirtschaftlichen Akteuren bedeutet. Doch sind wir als Gesellschaft bereit und willens, uns auf Krisen vorzubereiten? "Wir brauchen resiliente Verfahren, Abläufe und eine resiliente Infrastruktur sowie die Bereitschaft, gemeinschaftlich zu agieren", schlussfolgert Loss.

Sowohl die Europäische Union als auch die NATO spielen eine zentrale Rolle bei der Beantwortung dieser Fragen. Während die EU sich vornimmt, unterstützende Maßnahmen zu ergreifen um die militärische Entwicklung zu fördern, besteht innerhalb der NATO die Vision eines gemeinsamen Marktes für Verteidigung, die jedoch durch das Einstimmigkeitsprinzip im Entscheidungsprozess der NATO bei wichtigen Entschlüssen behindert wird.

Macht als Einfluss, Ressource, Gelegenheit?

Spricht man von Sicherheits- und Verteidigungspolitik, so geht es auch immer um Macht.
"Verstehen wir Macht als Einfluss, Ressource, Gelegenheit? Wie ist diese Macht in der Welt verteilt?", fragt Lisa-Marie Geltinger von der Universität Regensburg. Kernbereiche der Macht umfassen für Geltinger militärische, wirtschaftlich-infrastrukturelle, technologisch-normative, politisch-diplomatische sowie kulturell-mediale Fähigkeiten und Ressourcen.

Versteht man Macht als Ressource, so erkenne man die USA als einzige Supermacht, da sie militärisch und technologisch am breitesten aufgestellt sei. Allerdings nehme sie aktuell nicht die Position einer Ordnungsmacht ein. "Ordnungsmacht ist, wer Macht besitzt, Einfluss entfaltet und Gelegenheiten erkennt, bevor sie andere zur Disruption nutzen", erklärt Geltinger.

Deutschland und die Europäische Union hätten das Potenzial, Ordnungsmacht zu sein und die Welt nach westlichen, liberalen Werten zu gestalten. Um diesem Potenzial in den nächsten Jahren jedoch gerecht werden zu können, müsse Deutschland politisch, wirtschaftlich-technologisch und militärisch noch einiges ändern:

  1. Politisch muss diese Führungsrolle, nicht nur moderiert, sondern aktiv übernommen werden. Es gilt das eigene Sicherheitsnarrativ neu zu definieren und zum neuen Konsens in der EU beizutragen
  2. Wirtschaftlich-technologisch wird es relevant, die Rüstungsindustrie strategisch aufzubauen und Technologiesouveränität zu stärken.
  3. Militärisch gilt es, eine reale Kampffähigkeit herzustellen - insbesondere in den Bereichen Munition, Luftverteidigung und Logistik. Die Rolle in der nuklearen Abschreckung muss neu definiert werden.

Sicherheit neu denken

Konkret lassen sich für Deutschland in den Bereichen Bundeswehr, Politik und Gesellschaft neue Visionen für mehr Sicherheit denken. Noah Heinemann von Polis 180 e. V. plädiert dabei für ein Überdenken der Wehr- oder Dienstpflicht. Die Bundeswehr hat bereits vor Jahren eine Zielgröße von 200.000 Menschen definiert und steht aktuell bei 180.000. Jeder Vierte, der zur Bundeswehr kommt, verlässt diese schnell wieder. Auch in der Infrastruktur mangelt es an Kapazitäten. Jährlich können 5.000 Interessierte aufgenommen werden, wobei eigentlich die Aufnahme von 20.000 nötig wäre. Heinemann schlägt eine Orientierung am schwedischen Modell vor, das die Musterung aller Wehrtüchtigen vorsieht und dennoch auf Freiwilligkeit beruht.

Im Bereich der Politik steht für den Politikwissenschaftler die Stärkung eines breiteren Sicherheitsbegriffs im Zentrum. Der Wandel zu einer effektbasierten Krisenvorsorge sei dabei entscheidend. Diese stellt nicht nur den Kriegsfall in den Vordergrund, sondern betrifft die Vorbereitung auf jegliche Form von Krisen. Die Fragen, wie gut wir auf solche vorbereitet sind und wie schnell wir in einer Krisensituation handlungsfähig wären, sind dabei zentral. Auch Veranstaltungen im Bildungsbereich zur Aufklärung und Diskussion sicherheits- und verteidigungspolitischer Themen für Zivilistinnen und Zivilisten sind von Bedeutung, betont Heinemann. Im Sinne einer neuen Zeitenwende müssten Angebote und eine strategische Ausbildung zu sicherheitspolitischen Fragen entwickelt werden.

Gesellschaftlich gelte es, die persönliche Resilienz zu stärken, sowie unseren Informationskonsum kritisch zu hinterfragen und einzuordnen. Zudem sollten zentrale Debatten weniger polarisierend und differenzierter geführt werden. Es sei an der Zeit, an einen strategischen Kulturwandel zu denken, in dem das Militär nicht als grundsätzlich schlecht dargestellt wird - denn in der Sicherheitspolitik gehe es laut Heinemann vor allem um "die Verteidigung der Errungenschaften unserer Demokratie nach außen".

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