Debatten im Schnelldurchlauf
Warum die politische Kultur an Tiefgang verliert
Demokratie lebt davon, dass die Bürgerinnen und Bürger um die Gestaltung ihres Zusammenlebens ringen. Das Medium, in dem das geschieht, ist die öffentliche Debatte. Diese orientiert sich im Idealfall an der Sache und am besseren Argument. In einer Welt, in der politische und mediale Debatten immer schneller geführt werden, bleibt aber wenig Raum für die Reflexion grundlegender normativer Fragen. Auch die Sachorientierung fällt schwer, wenn verkürzte Narrative, Appelle an Emotionen und die öffentliche Meinung besser verfangen als Argumente. Welche Probleme für die politische Kultur sind damit verbunden? Und wie kann eine offene, fundierte Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen unseres Zusammenlebens noch gelingen? Damit haben sich Expertinnen und Experten im Rahmen der Tagung "Und was bringt ein Argument, das die Leute nicht bewegt? Möglichkeiten und Grenzen des Argumentierens in Politik und Gesellschaft" der Akademie für Politische Bildung, dem Netzwerk "Argumentieren an Schulen" und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beschäftigt.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.04.2025
Von: Sophie-Marie Mühling / Foto: Sophie-Marie Mühling
Programm: "Und was bringt ein Argument, das die Leute nicht bewegt?"
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In politischen und medialen Debatten dominiert Tempo statt Tiefgang. Urteile müssen aus dem Stand gefällt, Meinungen pointiert formuliert und komplexe Sachverhalte auf Schlagworte reduziert werden, wenn man Gehör finden will. Kritische Reflexion hat es in diesem Umfeld schwer. Wie wirken sich diese Entwicklung auf die politische Kultur aus - und wie ließe sich wieder mehr Raum für fundierte Diskussionen schaffen?
Darüber haben Laura Martena von der Akademie für Politische Bildung und Dominik Balg von der Universität Mainz bei der Tagung "Und was bringt ein Argument, das die Leute nicht bewegt? Möglichkeiten und Grenzen des Argumentierens in Politik und Gesellschaft" der Akademie für Politische Bildung, des Netzwerks "Argumentieren in der Schule" und der Universität Mainz mit Korbinian Rüger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München und SPD-Politiker, sowie Lars Weisbrod, Redakteur im Feuilleton der ZEIT, diskutiert.
Die Verdrängung ethischer Reflexion
Als Philosophen sind beide darauf trainiert, angesichts politischer und ethischer Kontroversen zunächst einen Schritt zurückzutreten. Philosophie bedeutet die Rückwendung auf die Prämissen, von denen solche Kontroversen ausgehen, die Prüfung von Begriffen, die darin verwendet werden, und die Evaluation von Argumenten, die vorgebracht werden.
Gerade dafür bleibe in öffentlichen Debatten, die durch Pragmatismus und Zeitdruck geprägt seien, aber immer weniger Raum, so Korbinian Rüger. Das gelte insbesondere mit Blick auf Auseinandersetzungen um normative Fragen. Politische Talkshows und ähnliche Debattenformate reduzierten diese häufig auf Tatsachenfragen, wodurch die ethische Dimension gesellschaftlicher Themen in den Hintergrund trete. Diese Entwicklung präge laut Rüger auch Debatten zu Themen wie Steuern, Wirtschaft oder Klimapolitik. Obwohl sie unweigerlich moralische Fragen aufwürfen, würden sie häufig als rein technische Probleme behandelt. Dabei seien die Positionen, die in den Debatten vertreten werden in Wahrheit immer von bestimmten Wertvorstellungen getragen. Die Verlagerung auf scheinbar objektive Sachzwänge verhindere jedoch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit diesen zugrundeliegenden Werten.
Moralische Schubladen
Gleichzeitig, erklärt Lars Weisbrod, sei aber ein gegenläufiger Trend erkennbar: Politische Debatten würden zunehmend als moralische Auseinandersetzungen inszeniert, in denen Positionen nicht argumentativ, sondern anhand moralischer Kategorien bewertet würden. Emotionen und Personen stünden im Mittelpunkt, während die Sachebene verdrängt werde.
Dies habe Auswirkungen auf die gesamte politische Kultur, so Rüger. Anstelle eines offenen, kontroversen Diskurses trete eine Moralisierung, die Positionen von einem vermeintlich überlegenen Standpunkt aus in "gut" und "böse" einteile. Die Einordnung von nicht nur Positionen, sondern zugleich den Personen, die sie vertreten, in "moralische Schubladen" erschwere den offenen Dialog. Wer von dominanten Narrativen abweicht, riskiere soziale oder politische Sanktionen. Diese Entwicklung zeige sich auch innerhalb politischer Parteien, wo interne Debatten oft wenig Platz finden würden. Wer sich gegen die Parteilinie stellt, laufe Gefahr, marginalisiert zu werden. Parlamente, die eigentlich der Ort für echte Debatten sein sollten, erfüllten diese Funktion nur bedingt, sondern böten oft eher Inszenierungen solcher Kontroversen.
Zwischen Sachlichkeit und Emotionalisierung
Auch im Journalismus zeige sich diese Entwicklung, erklärt Weisbrod. Während klassische Berichterstattung sich um Sachlichkeit bemühe, nehme die Bedeutung von persönlicher Betroffenheit und Identitätsfragen weiter zu. Subjektiver Journalismus gewinne an Einfluss, insbesondere in digitalen Formaten. Social Media verstärke diesen Trend zusätzlich, hebt Rüger hervor. Algorithmen belohnten emotionalisierende und polarisierende Inhalte, wodurch sachliche Argumente an Sichtbarkeit verlören. Dies wirke sich zunehmend auch auf die Politik aus. Gleichzeitig stünden Politiker vor einem Dilemma: Wer sich an die verkürzten Kommunikationsmuster sozialer Medien anpasse, verliere an argumentativer Tiefe - wer es nicht täte, riskiere, in der öffentlichen Wahrnehmung unterzugehen.
Neue Debattenkultur?
Was folgt aus diesen Analysen? Zunächst scheint es wichtig, den Unterschied zwischen Tatsachenbehauptungen und (normativen) Bewertungen wieder stärker ins Bewusstsein zu heben. Dabei müsste auch wieder deutlicher gemacht werden, dass sich nicht nur über technische Lösungen, sondern auch und gerade über ethische Fragen rational streiten lässt und in einer Demokratie gestritten werden muss. Und es müssen noch mehr Räume geschaffen werden, in denen das wieder möglich ist. Die bloße Inszenierung des Aufeinanderprallens von vornherein feststehender, damit vorhersehbarer, in sich dogmatisch geschlossener Positionen in Talkshows und anderen Debattenformaten ist dazu kaum geeignet. Was es bräuchte, wären Formate mit mehr Zeit für Nachdenklichkeit und Gelassenheit - auch bei kontroversen und polarisierenden Themen. Die Forderung nach Sachorientierung und argumentativer Strenge müsste dabei von allen Beteiligten erhoben werden. Ob solche Formate breitenwirksam werden können, darf bezweifelt werden. Gleichwohl könnten sie Vorbild- und Modellcharakter haben, denn durch sie könnten Haltungen und Fähigkeiten kultiviert werden, die für die Demokratie insgesamt entscheidend sein könnten.