Sportvereine als "Schulen der Demokratie"?
Ein Interview mit dem Fußballsoziologen Tim Frohwein
Wie kann die Zivilgesellschaft den Herausforderungen von Rechtspopulismus, Globalisierung und Individualisierung begegnen? Ein wichtiger Ansatzpunkt sind die Vereine. Denn die Vereinsstrukturen in Deutschland spielen eine zentrale Rolle für die Gesellschaft und fördern Demokratie sowie gesellschaftliches Engagement. Sie sind Orte der Begegnung und des Austauschs. Doch auch sie werden von demokratiefeindlichen Trends bedroht. Was also tun? Darüber diskutierten Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf der Tagung "Vorreiter Sachsen? Was wir von Ostdeutschland lernen können" der Akademie für Politische Bildung und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 08.04.2025
Von: Anna Berchtenbreiter / Foto: Anna Berchtenbreiter
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Tim Frohwein, Fußballsoziologe, Initiator von "Mikrokosmos Amateurfußball“ und Mitglied bei den Hartplatzhelden, betont, dass allein schon die Existenz von Vereinen ein demokratisches Fundament bildet. In diesen Organisationen fänden nicht nur sportliche Aktivitäten statt, sondern auch demokratische Prozesse wie Wahlen und Mitgliederversammlungen. Diese Strukturen ermöglichten es den Mitgliedern, sich auszutauschen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen, wodurch die demokratische Kultur gestärkt werde. Darüber hinaus böten Vereine einen Raum für informelle Interaktionen, in denen man sich auch bei unterschiedlichen Meinungen respektvoll austauschen könne. Trotz mancher Herausforderungen seien Regionen mit einer hohen Vereinsdichte tendenziell wirtschaftlich stärker, hätten eine höhere Wahlbeteiligung und eine niedrigere Kriminalitätsrate. Diese positiven Effekte, die in Studien belegt wurden, bestätigen für Frohwein die Bedeutung von Vereinen als "dritte Orte" - Gemeinschaftsräume, die auch für politische Bildungsarbeit genutzt werden können. Wie das Ganze in der Praxis aussieht und aussehen kann, erläutert der Fußballsoziologe im Interview.
In Vereinen wird ja oft früh geübt, wie Demokratie funktioniert - jedoch nicht im politischen Kontext, sondern im Vereinskontext. Manche bezeichnen Vereine auch als "Schulen der Demokratie". Stimmt das?
Das ist einer der Begriffe, der auch durchaus umstritten ist, denn es gibt auch Leute, die reine Lobeshymnen auf Vereine kritisieren. Nichtsdestotrotz: man kann den Vorstand wählen, kann sich in Mitgliederversammlungen mit anderen Positionen auseinandersetzen. Schon qua Vereinssatzung ist da also formal so etwas wie Demokratie angelegt. Und dann gibt es noch das informelle Aushandeln, bei dem man sich auch mal mit den Perspektiven anderer auseinandersetzen muss. Ich spreche natürlich hier vor allem von Sportvereinen, die sind ja mein Steckenpferd. Man kommt, z.B. in der Kabine, mit Menschen in Kontakt, die aus anderen Umfeldern kommen, die anders denken als die aus dem eigenen sozialen Umfeld, das stark von Homophilie geprägt ist. Und das ist, finde ich, elementar wichtig, damit eine Demokratie funktioniert.
Dabei geht es ja nicht nur um Erwachsene, sondern auch um Kinder, die durch Vereine ganz früh mitbekommen, wie man miteinander umgehen sollte und könnte, oder?
Genau. Ich bin zum Beispiel U9-Trainer bei mir im Fußballverein, zusammen mit anderen Vätern und wir haben schon auch einen gewissen Anspruch, dass wir den Kindern genau solche Werte vermitteln wollen, so wie viele andere Trainerinnen und Trainer auch. Wir sagen: es muss Austausch geben, man muss andere Meinungen akzeptieren und man muss auch die Schwächeren mitnehmen. Das ist ja ein großes Thema im Sport, diesen Spagat zwischen Leistungs- und Solidarprinzip zu schaffen. Denn auch die, die nicht so gut spielen, sind Teil des Vereins, Teil deiner Mannschaft – und dann muss man vielleicht Schwächen ausgleichen. Natürlich gibt es Vereine, die die Schwächeren aussortieren. Aber bei uns gibt es schon den Anspruch zu sagen: wir sind eine Bildungsinstanz, wir sind eine Sozialisationsinstanz und wir wollen den Kindern dann auch entsprechend etwas mitgeben. Ob wir das jetzt implizit machen oder mal offensichtlicher, das ist dann wieder eine andere Frage. Aber die Vereine sind definitiv schon für Kinder eine prägende Instanz.
Was sind denn dabei die Herausforderungen, vor allem, wenn es um Werte- und Demokratievermittlung geht?
Es ist ja so, dass ein Verein, wie im Vereinsrecht niedergeschrieben, politisch neutral sein muss. Demokratische Werte dürfen dort aber schon vermittelt werden bzw. sie sollen dort sogar vermittelt werden. Oft passiert das en passant. Andererseits gibt es auch Leute, die sich auf den Zweck, auf ihr Organisationsziel - zum Beispiel das Ermöglichen sportlicher Betätigung – beschränken und sich mit anderen Themen nicht viel stärker auseinandersetzen wollen. Das ist legitim. Aber es gibt auch Menschen, die anderer Meinung sind und z.B. für ihren Verein ein Leitbild aufsetzen, in dem sie bestimmte Werte verankern, für die der Verein steht und die auch schon in der Jugendarbeit vermittelt werden sollen. Am anderen Ende des Spektrums gibt es Vereine, die davon die Finger lassen. Die gegenüber den Initiativen, die den Verein als Ort der Demokratievermittlung stärken wollen, nicht aufgeschlossen sind. Initiativen die sagen „Hey, wollt ihr nicht auch als dritter Ort agieren?“ Sprich, wollen wir nicht auch mal dieses Potenzial, dass so viele Menschen zusammenkommen, nutzen, um z.B. über Demokratie, Rassismus oder Gewalt zu sprechen. Kurz gesagt, ja, es gibt diese Hürden und ich glaube, dass sie größer geworden sind in den letzten Jahren, weil alles so aufgeregt ist. Oft winken die Leute bei bestimmten Begriffen – Begriffe, die lange Zeit positiv aufgeladen waren – schon ab und sagen "Nein, lass uns bloß in Ruhe damit."
Ist der Sport denn politisch? Oder gehören Sport und Politik nicht zusammen?
Der Sport ist definitiv politisch, ob er das will oder nicht. Sport hat allein durch seine Größe und Popularität immer eine Wirkung auf die Politik - und wird andersherum von der Politik instrumentalisiert, um sich zu inszenieren. Der Fußball ist ein gutes Beispiel dafür: große Turniere werden z.B. genutzt, um sich als Staat darzustellen, wie z.B. Qatar oder Russland. Auch die Olympischen Spiele sind solch eine Bühne. Frankreich hat letztes Jahr bei der Eröffnungsshow seine Diversität gezeigt und damit eine weltweite politische Debatte ausgelöst. Das ist im Großen wie auch im Kleinen der Fall. Auch im normalen Sportverein wird mal über Politik gesprochen. Wenn der Verein beispielsweise ein Leitbild entwickeln will, kommt er um politische Diskussionen nicht herum. Sport ist also auf jeden Fall politisch. Mehr denn je würde ich sogar sagen.
Und in der Praxis? Wie kann und wie wird im Amateurfußball, in Vereinen, mit antidemokratischen Tendenzen umgegangen?
Es gibt natürlich immer große Kampagnen, bei denen man sich offen gegen Rechtsextremismus, gegen antidemokratische Tendenzen ausspricht, indem man Plakate aufhängt, ein schönes Gruppenbild macht und das dann in der Kommunikation nach außen nutzt. Aber stehen die Menschen da auch wirklich dahinter? Nicht jedes Kind, jeder Jugendliche oder manchmal auch Erwachsene, der hinter solche Banner gestellt wird, wird gefragt "Bist du eigentlich dieser Meinung?". Da geht es vor allem um Medienwirksamkeit. Das ist das Problematische an diesen symbolischen Aktionen, die ohne Frage auch ihr Gutes haben.
Ich glaube, dass man darüber hinaus aber auch stärker in den Dialog gehen muss und man jedes Mitglied und jede Position ernst nehmen muss. Gerade jetzt, wo sich die Fronten verhärtet haben. Bei politischen Auseinandersetzungen ist es wichtig, Dialog und Perspektivübernahme zu ermöglichen und so Probleme anzugehen - Ausschluss bringt da wenig, ein Gespräch suchen ist wichtig. Aber dafür braucht es natürlich auch die nötigen Kompetenzen und Ressourcen.
Das schließt gut an die letzte Frage an: Können Vereine diese Arbeit denn überhaupt leisten?
In der Regel nicht, nein. Sie brauchen die Unterstützung von der Politik und den Verbänden. Der DFB hat hier zum Beispiel ein gutes Projekt gestartet: Zusammen mit dem Nordostdeutschen Fußballverband betreibt er in ostdeutschen Bundesländern Antirassismus-Arbeit in Vereinen. Da werden mit professioneller Hilfe z.B. Trainings gegeben oder Gespräche durchgeführt. Man versucht so bestimmte Kompetenzen in die Vereine reinzubringen. Aber das geht bei über 24.000 Fußballvereinen natürlich nicht flächendeckend. Mehr als diese Einzelmaßnahmen, brauchen wir eine strukturelle Stärkung. Die Schaffung von Sportsozialarbeiterstellen überall in Deutschland wäre zum Beispiel ein Ansatz. Mit genau solchen Positionen könnte man viele Probleme im Fußball, im Sport angehen und vor allem die Vereine entlasten.
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"Probetraining - Eine Reise an die deutsche Fußball-Basis" - Tim Frohwein, herausgegeben von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit