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Streitkultur im Wandel

Social Media, Polarisierung und die Krise des politischen Dialogs

Scharfe Töne, emotionale Lagerbildung und digitale Empörungswellen prägen im Moment politische und gesellschaftliche Diskurse. Algorithmen verstärken die Polarisierung, während politische Reformen oft zu schnell verworfen werden. Über die Forderung nach einer neuen Streitkultur und den Auswirkungen von Social Media auf den politischen Diskurs haben Akademiedirektorin Ursula Münch, Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach von der Freien Universität Berlin und Philipp Lorenz-Spreen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zum Auftakt der Veranstaltung Wer, wenn nicht wir? Werkraum Demokratie 2025 der Akademie für Politische Bildung, Bayern 2 und der Nemetschek Stiftung diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 05.03.2025

Von: Sophie-Marie Mühling / Foto: Sophie-Marie Mühling

Programm: Wer, wenn nicht wir? Werkraum Demokratie 2025

Werkraum Demokratie 2025

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Es bedürfe einer besseren Streitkultur - einer, die nicht spalte, sondern zu echtem Austausch führe, fordert die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach, denn die Gesellschaft habe sich an einen Zustand permanenter Unruhe gewöhnt. Die Folge: ein sich verschärfender Ton in politischen Debatten, eine zunehmende Polarisierung und das Gefühl vieler Menschen, dass politische Diskussionen kaum noch Ergebnisse erzielen - eine strukturelle Veränderungen sei daher notwendig. Wie also kann konstruktives Streiten wieder Einzug in die Gesellschaft halten? Und welchen Einfluss hat Social Media auf die Debattenkultur?

Politische Verantwortung

"Wir haben ein gesteigertes Bedürfnis nach Verantwortungsbewusstsein in der Politik", stellt Reuschenbach fest. In Zeiten von gesellschaftlicher Unsicherheit und Krisen würden politische Akteure oft auf abstrakte Ziele und vage Versprechen zurückgreifen, die eher kurzfristig funktionieren, statt langfristige Lösungen zu verfolgen. Doch genau das verstärke die Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung. Auch die mangelnde Beständigkeit politischer Entscheidungen sei ein Problem. Reuschenbach kritisiert, dass Reformen heute kaum noch die benötigte Zeit bekämen um ihre Wirkung zu entfalten, bevor sie von einer neuen Regierung wieder abgesetzt werden würden.

Das Bedürfnis nach Klarheit und politischer Verlässlichkeit sei dementsprechend groß, doch es werde immer weniger erfüllt. Hinzu komme eine zunehmende affektive Polarisierung: Emotionen bestimmten die Debatte, während sachliche Argumente in den Hintergrund rückten. Wer eine abweichende Meinung vertritt, werde oft nicht als Diskussionspartner, sondern als Gegner wahrgenommen. Die Konsequenz? Viele Menschen zögen sich aus politischen Diskussionen zurück - sei es aus Frustration oder aus Angst vor harschen Reaktionen. Diese Entwicklung führe zu einer kaputten Kommunikation, so Reuschenbach.

Digitalisierung und Demokratie

Diese zunehmende Polarisierung politischer Debatten sei jedoch nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine mediale Entwicklung. Besonders die digitale Kommunikation verstärke emotionale Dynamiken und verändere die Art und Weise, wie politische Diskussionen geführt werden. Genau an diesem Punkt setzt Philipp Lorenz-Spreen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung an und fragt sein Publikum: "Wie oft schauen Sie, über den Tag verteilt, auf Ihr Smartphone?" Durchschnittlich 80 bis 100 Mal sei das der Fall. Eine Zahl, die eindrücklich zeige, wie stark unser Alltag von digitalen Medien geprägt sei. Doch welche Auswirkungen hat dieses Verhalten auf den gesellschaftlichen Diskurs?

Die individuelle Aktivität auf Social Media nehme stetig zu, so Lorenz-Spreen. Die kollektive Aufmerksamkeit würde dabei aber bestimmten Mustern folgen: Sie steige schneller bei und konzentriere sich stärker auf kontroverse Inhalte. Besonders Hass treibe die Dynamik voran - je emotionaler und aggressiver eine Debatte sei, desto mehr Reichweite erziele sie. Daraus resultiere, dass politische Diskussionen im digitalen Raum zunehmend feindseliger werden. Algorithmen seien darauf ausgelegt, Inhalte mit hoher Interaktionsrate zu bevorzugen, nicht solche mit journalistischer Sorgfalt.
Diese Entwicklung bleibe aber nicht auf den digitalen Raum beschränkt, sondern schlage sich auch in der realen Welt nieder. Der Sturm auf das US-Kapitol oder Bewegungen wie Fridays for Future würde zeigen, wie Social Media gesellschaftliche Prozesse beschleunigen und verstärken können - mit positiven wie auch negativen Folgen.

Chancen und Risiken für die Demokratie

Lorenz-Spreen zeichnet dabei ein ambivalentes Bild für die Rolle von Social Media. Einerseits werde die Demokratie gestärkt, indem die Netzwerke Partizipation erleichtern, politisches Wissen erweitern und eine größere Meinungsvielfalt ermöglichen. Gleichzeitig böten sie Raum für politische Ausdrucksformen, die in traditionellen Medien keinen Platz fänden. Die Diversität von Nachrichtenquellen könne das Vertrauen in demokratische Institutionen stärken. Doch genau hier liege auch eine Gefahr, denn dieselben Mechanismen, die Partizipation förderten, würden auch Polarisierung, Populismus und die Verbreitung von Fehlinformationen begünstigen. Menschen, die sich aktiv in sozialen Medien engagierten, würden sich zwar häufiger an politischen Prozessen beteiligen, seien jedoch auch stärker von affektiver Polarisierung betroffen. Das Schwarz-Weiß-Denken nehme zu, während Hasskommentare und Echokammern die öffentliche Debatte verzerrten. Ein weiteres Problem: Social Media ermögliche es zwar, sich unabhängig von etablierten Medien zu informieren - doch die Qualität dieser Informationen bleibe fraglich. Die Plattformen agierten nach kommerziellen Interessen, nicht nach demokratischen Prinzipien. Das Ergebnis: Eine wachsende Konzentration von Macht in den Händen weniger Tech-Konzerne, die bestimmten, welche Informationen sichtbar seien - und welche nicht.

Mehr Stimmen, mehr Konflikte?

Diese Dynamiken wirke sich nicht nur auf den digitalen Diskurs aus, sondern verändere auch die gesellschaftliche Debattenkultur insgesamt. Während Social Media die politische Auseinandersetzung fragmentiere, wachse zugleich die Zahl der Stimmen, die Gehör finden wollen - ein Zeichen zunehmender Pluralität, das jedoch neue Herausforderungen für den Umgang mit Meinungsvielfalt mit sich bringe. Viele Beteiligte empfänden das als anstrengend, weil gewohnte Mehrheitsverhältnisse infrage gestellt würden. Reuschenbach betont jedoch, dass es nicht die Lösung sein könne, die Debatte zu meiden oder ungewollte Stimmen auszublenden, vielmehr müsse gelernt werden, besser zuzuhören und Debatten klüger zu führen.

Aber was braucht es dafür? Laut der Politikwissenschaftlerin seien drei Dinge entscheidend:

  • Zeit für echte Auseinandersetzungen
  • weniger Druck zur vorschnellen Positionierung
  • eine bewusste Vermeidung von Bekenntnisforderungen an das Gegenüber

Wer in einer Diskussion sofort zu einer klaren Stellungnahme gedrängt werde, neige eher zu Abwehrreaktionen. Konstruktiver Streit sei nur möglich, wenn sich alle Beteiligten darauf einließen, Argumente auszutauschen, ohne sich direkt angegriffen oder in eine Verteidigungsposition gezwungen zu fühlen.

Debattenkultur: Lagerfeuer oder Shoppingmall?

Die aktuelle Debattenkultur entspreche immer häufiger dem Bild einer "Shoppingmall" statt dem eines "Lagerfeuers", erklärt Reuschenbach. Während das Lagerfeuer eine Öffentlichkeit des gemeinsamen Zuhörens darstelle, an dem alle die gleichen Informationen bekämen, die gleiche Diskussion erlebten und sich eine gemeinsame Grundlage teilten, handele es sich bei einer Shoppingmall um eine hoch anonymisierte und hoch individualisierte Art von Öffentlichkeit. Menschen würden nur nebeneinander existieren, nicht miteinander. Jeder konsumiere nur die Inhalte, die ihm gefallen, ohne sich mit anderen Perspektiven auseinanderzusetzen. Anstelle eines echten Austausches, bei dem sich Menschen auf ein gemeinsames Thema konzentrierten, käme es so nur zu Frustration.

Reuschenbachs Fazit: "Es müssen wieder mehr Lagerfeuer-Momente geschaffen werden." Es läge in unserer Verantwortung, die letzte verbliebene Dorfkneipe, das kleine Eiscafé oder den Kiosk am Bahnhof wieder zu Orten zu machen, an denen Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammenkommen um zu diskutieren - ohne Vorwürfe, ohne Polarisierung, sondern mit echtem Interesse an der Debatte.

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