In dubio pro libertate?
Die Meinungsfreiheit in der Verfassung und auf Social Media
"Man darf heutzutage ja gar nichts mehr sagen!" - Ein häufig gehörter Vorwurf in öffentlichen Debatten. Doch wie frei sind wir wirklich in unserer Meinungsäußerung? Und warum ist die Meinungsfreiheit ein so wichtiger Pfeiler der Verfassung? Das Forum Verfassungspolitik der Akademie für Politische Bildung und des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat sich unter dem Titel "Wehrhafte Demokratie" mit den Schutzmechanismen der Verfassung auseinandergesetzt - und dabei auch über die Herausforderungen der Meinungsfreiheit in einer modernen, digitalen Gesellschaft diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 18.12.2024
Von: Anna Berchtenbreiter / Foto: Anna Berchtenbreiter
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"Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei sagen können", erklärt Meinhard Schröder, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Informationstechnologierecht an der Universität Passau. Doch stimmt das? Ist die Meinungsfreiheit in Deutschland wirklich so stark eingeschränkt oder darf man hier sagen, was man will? "Es ist eines der vornehmsten Grundrechte überhaupt", meint Schröder. Das Grundgesetz, in dem die Meinungsfreiheit verankert ist, hat den Ruf, für eine der stabilsten rechtsstaatlichen Demokratien zu sorgen. Bei seiner Erschaffung wollte man aus den Erfahrungen der Schwachstellen der Weimarer Reichsverfassung lernen und stattete das Grundgesetz mit zahlreichen Bestimmungen aus, die die Demokratie effektiv gegenüber ihren Gegnern verteidigen sollen. Doch neue Bedrohungen aus verschiedenen Richtungen rütteln an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Konzept der "wehrhaften" Demokratie des Grundgesetzes rückt mehr und mehr in den Blickpunkt - und damit auch die Meinungsfreiheit. Diese besondere Freiheit ist als Werkzeug für den Schutz der Demokratie gedacht. Beim "Forum Verfassungspolitik: Wehrhafte Demokratie" diskutierten Expertinnen und Experten über verfassungsrechtlichen Schutzmechanismen für Demokratie und Rechtsstaat und über die darüber hinaus bestehenden gesellschaftlichen Aufgaben zum Erhalt der freiheitlichen Ordnung.
Grundrecht: Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit sei ein besonderer Schutz der freien Machtkritik – ein wichtiger Punkt in einer starken, freiheitlichen Demokratie, erklärt Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Der Staat müsse scharfe, polemische Kritik aushalten können. Warum also haben die Menschen das Gefühl, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äußern dürften? "Ist das ein juristisches Gefühl, oder doch eines der Wahrnehmung?" fragt Schröder.
Gesellschaftlich könne die Ursache für das Gefühl in dem breiten Meinungsspektrum stecken, in dem sich auch extremer Meinungen zeigen würden. Schröder spricht von einer stärkeren Fragmentierung der Gesellschaft und einer gleichzeitig gefühlten geringeren Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen. Hinzu käme auch die Angst vor Sanktionen: staatliche, wie zum Beispiel die Erwähnung in Verfassungsschutzberichten oder Verurteilungen wegen Volksverhetzung und gesellschaftliche, wie zum Beispiel Shitstorms.
Juristisch gesehen sei die Meinungsfreiheit jedoch ganz klar als Artikel 5 im Grundgesetz definiert –und damit Teil der sogenannten "objektiven Wertordnung", erklärt Schröder. „Das Kind der Aufklärung hat sich verfassungsrechtlich durchgesetzt", so der Professor. Staatliche Akteure seien an das Recht gebunden und der Staat müsse sich schützend vor die Grundrechte stellen, wenn sie von anderen oder einer höheren Gewalt bedroht werden würden, denn Grundrecht verpflichtet. Dabei sei es wichtig zu definieren, was eine Meinung eigentlich sei, erklärt Schröder. Als Meinung würden generell Werturteile gesehen werden, wie z.B. Stellungnahmen. Dabei dürfe jedoch nicht nach Qualität geurteilt werden: alle Meinungen seien gleich geschützt. Auch die negative Meinungsfreiheit sei gesichert, denn niemand dürfe dazu gezwungen werden, eine Meinung zu äußern.
Grenzen der Meinungsfreiheit
Was darf man dann also wirklich NICHT sagen? Wie bei vielen Gesetzen gibt es auch bei Artikel 5 GG gewisse Einschränkungen: Absatz 2 des Artikels weißt auf die Schranken durch allgemeine Gesetze, den Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre hin. Falls der Staat von diesen Einschränkungen Gebrauch machen wollen würde, dann müsse er sich jedoch jedes Mal rechtfertigen. Beispiele für solche Schrankengesetze sind die Volksverhetzung, üble Nachrede, die falsche Tatsachenbehauptung der sogenannten Holocaust-Lüge, Propagandamittel von verfassungswidrigen Organisationen und die Verletzung der Menschenwürde. Das sei laut Stephan Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen, auch der Unterschied zu den USA: dort herrsche Redefreiheit und nicht Meinungsfreiheit. Den Holocaust leugnen sei dort also legal - genauso wie das Verbreiten von Fake News, erklärt Anwalt Chan-jo Jun. In Deutschland gäbe es neben den klaren Einschränkungen auch noch einen Grenzbereich: dort bewegten sich laut Schröder Beleidigungen. Für eine staatliche Einschränkung sei aber immer eine gesetzliche Grundlage nötig, die sich nicht gegen bestimmte Meinungen richten dürfe, sondern ein höherrangiges Rechtsgut schützen sollte. "Gute" Meinungen dürften dabei nicht bevorzugt werden, die Meinungsfreiheit sei wichtig um die Voraussetzungen für einen öffentlichen Diskurs aufrechtzuerhalten. Wichtig sei es daher, zu beachten, dass Schrankengesetze immer verhältnismäßig, angemessen und im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt werden. Zensur dürfe nicht stattfinden. Schröder aber schätzt die Rechtsprechung grundsätzlich als sehr Meinungsfreiheit-freundlich ein.
Social Media und die Meinungsfreiheit
Viel Freiheit gäbe es auch im Internet, meint Joachim Herrmann, Bayerischer Staatsminister des Innern, für Sport und Integration. Doch auch die Feinde von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie würden das zu ihrem Vorteil nutzen. Auf Social Media herrsche laut Schröder außerdem eine ganz andere Art der Meinungskundgabe: sie sei sehr öffentlichkeitswirksam und gleichzeitig gröber. Einer, der das immer wieder am eigenen Leib erfährt ist Rechtsanwalt Chan-jo Jun. Er ist selbst auf Social Media sehr präsent und bekäme für seine Inhalte oft Hasskommentare, Morddrohungen und extreme Gewaltfantasien zugesandt, erzählt er. Doch was passiert mit solchen Inhalten? Wie reagieren Plattformbetreiber und Politik darauf? Denn eigentlich ist auch Social Media kein rechtsfreier Raum. Und doch bekäme Jun, wenn er die Angriffe den Plattformen melde, oft die Rückmeldung, dass die Aussage eigentlich okay wäre. Irgendwann höre er dann auf, solche Nachrichten zu melden, erzählt er.
Eine Reaktion auf die Untätigkeit der Plattformbetreiber sei das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Im Grunde sei es einfach nur die Regel, dass geltendes deutsches Recht auch im Internet durchgesetzt werden würde. Der Großteil des Gesetzes wurde inzwischen durch den sogenannte Digital Services Act der EU abgelöst. Das hört sich erstmal nach vielen Regulierungen der Meinungsfreiheit an. "Regulierung bedeutet im Moment nicht mehr als die Anwendung des geltenden Rechts. Der Kampf um diese Regulierung ist noch nicht ausgestanden" sagt aber Jun. Außerdem stelle sich die Frage, ob die großen Social Networks sich überhaupt an ein lokales Recht wie Deutschlands halten würden.
Doch viele Nutzer hätten Angst vor sogenanntem "Overblocking" durch den Staat, vor exzessiver Zensur also. Doch so etwas würde in der Realität überhaupt nicht stattfinden. Laut dem Rechtsanwalt lösche Twitter in einem halben Jahr auf staatliche Anordnung hin 3000 Beiträge - aufgrund der eigenen Gemeinschaftsstandards jedoch ca. 5 Millionen Inhalte. "Das Overblocking-Problem ist eine Chimäre, eine Narrative, mit der man uns einschüchtern will. Wir haben dann Angst, unsere eigene Demokratie zu zerstören", meint Jun. Trotz aller Vorgaben sei das Thema Meinungsfreiheit im Netz laut Jun noch lange nicht ausdiskutiert: "Das Thema der Content Moderation ist die heiße Kartoffel, die wir trotz gesetzlicher Grundlagen seit Jahren nicht anfassen." Auch Herrmann bedauert, dass das Gesetz bis jetzt vorranging noch auf die analoge Welt ausgelegt sei: "wir laufen mit der Gesetzgebung bei der ständigen technischen Revolution nur mit Mühe hinterher". Doch nicht alles sei hoffnungslos, denn die Strafverfolgung sei schon beachtlich.
Und dann gibt Chan-jo Jun seinem Publikum noch einen wichtigen Denkanstoß mit: "Wenn Sie sich entscheiden müssten: auf Demokratie oder auf die Meinungsfreiheit zu verzichten? Diese Fragestellung ist eine Anmaßung, ich weiß - man kann das eine schließlich nicht ohne das andere haben."