Mitteleuropa im Wandel
So beeinflussen geopolitische Spannungen und nationalistische Strömungen die Zukunft der Region
Was macht Mitteleuropa aus und welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen prägen die Region aktuell? Über diese Fragen haben Expertinnen und Experten aus Kultur, Wirtschaft, Geschichte und der Politikwissenschaft in der Tagung "Vermessung der Mitte Europas: Interdisziplinäre Perspektiven" der Akademie für Politische Bildung diskutiert.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 14.11.2024
Von: Rebecca Meyer / Foto: Rebecca Meyer
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"Die Umwälzungen der vergangenen Jahre in Mitteleuropa zeigen, wie fragil die Errungenschaften von Demokratie noch immer sind", sagt Claudia-Yvette Matthes von der Humboldt Universität zu Berlin. Damit verweist sie auf die zunehmenden autoritären Tendenzen, die insbesondere in Ländern wie Ungarn demokratische Prinzipien untergraben. Aber wo liegt "Mitteleuropa" überhaupt und was bedeutet der Begriff? Die Region, oft unscharf als Mitteleuropa, Mittelosteuropa oder Ostmitteleuropa bezeichnet, ist geprägt von wechselnden Einflüssen mächtiger Nachbarn und politisch-gesellschaftlichen Spannungen. Im historischen Sinne umfasste Mitteleuropa die Länder, die zwischen den großen Mächten Deutschland, Russland und der Habsburger Monarchie lagen. Diese geostrategische Lage machte die Region zu einem Schauplatz wechselnder Einflussnahmen und Konflikte. Gleichzeitig ist Mitteleuropa mit seiner großen kulturellen und ethnischen Vielfalt keine einheitliche Region, sondern ein Mosaik aus unterschiedlichen Identitäten, historischen Prägungen und politischen Visionen. In der Tagung "Vermessung der Mitte Europas: Interdisziplinäre Perspektiven" der Akademie für Politische Bildung haben Fachleute aus Politik, Wirtschaft, Kulturwissenschaft und Geschichte darüber diskutiert, wie sich historische Konzepte von Mitteleuropa und die Prozesse der Nationenbildung bis heute auf die politische Kultur und institutionelle Stabilität der Region auswirken.
Die historische Idee eines Mitteleuropas unter deutscher Führung
Definitionsversuche und Konzepte eines "Mitteleuropas" entstammen einer langen Tradition, in denen Deutschland oft im Mittelpunkt stehe, sagt Claudia Weber von der Europa-Universität Viadrina. Deutschland habe dabei bereits seit dem 19. Jahrhundert als "Ordnungsmacht" über strategische Machtansprüche in Mitteleuropa verfügt. Besonders im Ersten Weltkrieg fand die durch Friedrich Naumann geprägte Idee eines vereinten Mitteleuropas als politisch-wirtschaftlicher Verbund unter deutscher Führung breite Resonanz in Deutschland. Das Ziel war eine geopolitische Struktur, die Deutschlands zentrale Lage und Machtansprüche gegenüber anderen Großmächten, insbesondere Russland und Frankreich, absichern sollte. Solche hegemonialen Vorstellungen stießen jedoch auf Widerstand bei den anderen europäischen Großmächten und den Völkern innerhalb Mitteleuropas, die sich gegen die deutsche Vorherrschaft wehrten. Nach dem Ersten Weltkrieg und in den darauffolgenden Krisenzeiten wurden diese Vorstellungen immer wieder neu interpretiert. Sie nahmen dabei unterschiedliche geografische Ausdehnungen an: Mitteleuropa reichte je nach Interessenlage von Belgien bis zu den baltischen Staaten und zum Balkan. Dabei ging es nicht nur um Machtprojektion, sondern auch um die kulturelle Dominanz, die eine deutsche Ordnung und Stabilität in Mitteleuropa verankern sollte – ein Gedanke, den auch Friedrich Naumann vertrat. In den postkommunistischen Staaten Ostmitteleuropas wirkten die historischen Machtbestrebungen der verschiedenen Akteure nach, erklärt Weber. Nicht nur Deutschland versuchte Einfluss über die Region auszuüben, sondern auch andere Großmächte, wie zum Beispiel die Sowjetunion. Die Erinnerung an Fremdbestimmung und eingeschränkte Autonomie prägt die heutige Haltung gegenüber supranationalen Strukturen wie der EU. Staaten, die nach dem Kalten Krieg ihre Souveränität wiedererlangten, begegnen hegemonialen Bestrebungen – sei es von Deutschland oder der EU – mit Zurückhaltung und Skepsis. Besonders in Krisenzeiten wird eine Abgrenzung deutlich: die Erfahrung früherer Fremdbestimmung ist in den Köpfen lebendig geblieben und Befürchtungen werden geweckt, dass alte Machtstrukturen sich wiederholen könnten. Viele Staaten in Mittelosteuropa zögern, sich stärker in supranationale Projekte einzubringen. Das zeige sich im Widerstand gegen bestimmte EU-Vorgaben oder der Überbetonung staatlicher Souveränität in EU-Prozessen.
Nationenbildung in Ostmitteleuropa
Diese Zurückhaltung sei aber nicht nur auf die historischen Machtansprüche anderer Länder zurückzuführen. Die Art der Nationenbildung und der vorherrschende Nationalismus in Mittelosteuropa zeige weitere historischen Eigenheiten der Region, sagt Rudolf Kučera vom Masaryk-Institut. Im Gegensatz zu Westeuropa, wo Nationalstaaten meist aus gewachsenen politischen Strukturen entstanden, standen viele Völker Ostmitteleuropas jahrhundertelang unter der Herrschaft großer Imperien wie des Habsburgerreichs, des Osmanischen Reichs oder des russischen Zarenreichs. Sie entwickelten ihre nationale Identität daher oft ohne territoriale Unabhängigkeit und stützten sich auf Sprache, Kultur und historische Erzählungen. "In Ostmitteleuropa war die Nation eher ein kulturelles als ein staatliches Projekt", erklärt Kučera. Bis heute prägt diese Art der Identifizierung die politischen Konflikte der Region.
Der Erste Weltkrieg markierte für viele "Nationen ohne Staat" in der Region einen Wendepunkt, da erstmals die Chance auf Eigenstaatlichkeit bestand. Länder wie Polen, die damalige Tschechoslowakei und Ungarn nutzten diese Gelegenheit. Sie standen jedoch weiterhin vor der Herausforderung, nationale Einheit und ethnische Vielfalt in Einklang zu bringen. In der Tschechoslowakei beispielsweise wurde die sogenannte "goldene Zeit" eines souveränen, ethnisch einheitlichen Nationalstaats idealisiert, obwohl das Land tatsächlich eine multiethnische Bevölkerung besaß. Diese idealisierte Vorstellung einer homogenen nationalen Identität, die in der Realität einer multiethnischen Gesellschaft oft schwer umsetzbar war, stelle viele osteuropäische Staaten bis heute vor Herausforderungen. "Während Pluralismus und kulturelle Vielfalt im Westen als demokratische Ideale gelten, ist in vielen osteuropäischen Ländern die nationale Identität genau andersherum geprägt", erklärt Kučera. Diese Einstellung forme die politische Kultur der Region, wirke sich bis in heutige Diskussionen über Migration und Minderheitenrechte aus und hebe die Kluft zwischen den demokratischen Prinzipien der EU und den Eigenverständnissen vieler postkommunistischer Staaten hervor.
Demokratische Regression in Mittelosteuropa
Die aktuellen politischen Entwicklungen sind stark von diesen Identitätsfragen und historischen Erfahrungen geprägt, die sich mit nationalen Bestrebungen und heutigen autoritären Tendenzen verweben. In einigen Staaten Mittelosteuropas verliere die Demokratie wieder an Rückhalt, was Claudia-Yvettes Matthes als "demokratische Regression" bezeichnet. Demokratisch gewählte Regierungen stärken autoritäre Strukturen, indem sie die Exekutivmacht ausbauen und die Unabhängigkeit von Justiz und Medien einschränken. Der Rückbau der Demokratie zeige sich besonders deutlich in Ungarn, wo Ministerpräsident Viktor Orbán seine eigene Macht immer weiter ausbaue und Kritikerinnen und Kritiker durch Medienkontrollen und Justizreformen mundtot mache. "Wir sehen hier eine schleichende Erosion demokratischer Institutionen", sagt Matthes. Sie verweist darauf, dass dieser Rückbau oft nicht im Widerspruch zum demokratischen Prozess stehe, sondern durch eine gezielte Nutzung bestehender Institutionen erreicht werde.
Diese Schritte werden oft mit nationalistischen Narrativen legitimiert, die die EU als Bedrohung für die nationale Souveränität darstellen. Orbán etwa rechtfertigte seine Maßnahmen im Namen einer ungarischen Identität, die er gegen westliche Einflüsse zu verteidigen vorgibt. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Polen, wo die Partei PiS unter dem Vorwand der nationalen Einheit und Unabhängigkeit ihre Macht stärkte. Sowohl in Ungarn, als auch unter der damaligen PiS Regierung in Polen, ziehen die Machthabenden eine klare Grenze zwischen einem "eigenen, nationalen Weg" und der westlichen Demokratie. "Die 'Wir/Die-Rhetorik schafft dabei Zustimmung im Inland und stützt autoritäre Strukturen", erklärt Matthes. Die europäische Integration, die nach dem Fall des Kommunismus vielfach als "Rückkehr nach Europa" begrüßt wurde, verliere durch diese Entwicklungen an Rückhalt. Wo die EU einst als Demokratiemodell galt, wird sie heute von manchen Regierungen in Mittelosteuropa als Einmischung empfunden. In Ungarn, einst Vorreiter der Integration, belastet diese Ablehnung mittlerweile das Verhältnis zu den anderen EU-Staaten. Die Kluft zwischen Ost und West vergrößere sich, auch weil viele Bürgerinnen und Bürger der Region das westliche Modell als zu individualistisch und nicht im Einklang mit ihren nationalen Traditionen sehen, sagt Matthes. Die EU, die den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und demokratische Werte als Basis der Mitgliedschaft sieht, steht andererseits vor der Herausforderung, wie sie auf diese Rückschritte reagieren soll. Ob Mitteleuropa langfristig ein stabiler und demokratischer Raum bleiben wird, bleibt dahe erstmal unklar.