Barbara Bleisch und die "Mitte des Lebens"
Philosophin lädt zum Nachdenken über die vielleicht besten Jahre ein
Auf ein langes Leben hoffen wohl die meisten Menschen. Älter werden wollen viele aber lieber nicht - jedenfalls nicht mehr, nachdem sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Gerade der Eintritt in die mittlere Lebensphase wird selten positiv dargestellt. Eher wird er mit der berühmt-berüchtigten "Midlife-Crisis" verbunden. Warum ist dieses Urteil über die Lebensmitte so verbreitet? Und muss es notwendig zutreffen? Oder können die mittleren gar unsere besten Jahre sein? Diese Ansicht vertritt zumindest die Philosophin, Journalistin und Autorin Barbara Bleisch in ihrem neuen Buch "Mitte des Lebens". Im Rahmen der Tagung "Zeit und gutes Leben" der Akademie für Politische Bildung, der Georg-August-Universität Göttingen und der DFG-Forschungsgruppe "Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens" stellte sie es im Gespräch mit der Philosophieprofessorin Eva Weber-Guskar zum ersten Mal vor.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 02.09.2024
Von: Laura Martena, Rebecca Meyer / Foto: Rebecca Meyer
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Akademische Philosophie scheint Laien oft zu abstrakt und abgehoben von ihrer Lebenspraxis, als dass sie ohne Weiteres Zugang zu ihr fänden. Wenn Philosophie populär zu werden versucht, gelingt ihr das wiederum oft nur auf Kosten dessen, was sie ausmacht. Mit ihrem neuen Buch "Mitte des Lebens" zeigt Barbara Bleisch, die auch als Moderatorin der "Sternstunde Philosophie" im Schweizer Fernsehen bekannt ist, wie es anders gehen kann - und entwickelt dabei eine eigene Form philosophischen Schreibens für ein allgemeines Publikum. Die Buchpremiere war Teil der Tagung "Zeit und gutes Leben" der Akademie für Politische Bildung, der Georg-August-Universität Göttingen und der DFG-Forschungsgruppe "Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens". Das Gespräch führte Eva Weber-Guskar, Professorin für Ethik und Philosophie der Emotionen an der Ruhr-Universität Bochum.
In ihrem Buch widmet sich Barbara Bleisch der Mitte des Lebens. Damit geht sie von einer Erfahrung aus, die wir beim Älterwerden beinahe zwangsläufig machen. Irgendwann stellen wir fest, dass unsere Jugend unwiederbringlich hinter uns liegt und wir in der Mitte unseres Lebens angekommen sind. Statistisch betrachtet erreichen wir diese Lebensmitte in Mitteleuropa mit 40 Jahren. Mit 40 beginnen auch aus Sicht der Entwicklungspsychologie die mittleren Jahre, deren Ende wiederum das Erreichen des 65. Lebensjahrs markiert, das oftmals vom Ausscheiden aus dem Arbeitsleben und dem Eintritt in die Rente geprägt ist.
Das Klischee der Midlife-Crisis
Diese mittleren Jahre gelten als besonders krisenanfällig. Während uns in der Jugend alle Möglichkeiten offen zu stehen schienen und wir mit der Frage konfrontiert waren, wie wir unser Leben gestalten wollen, haben wir in der Lebensmitte die wesentlichen Entscheidungen getroffen und die Weichen für alles Weitere gestellt. Wir glauben vielleicht, nun werde alles auf ewig so weiterlaufen. Doch gerade dann kann uns die Einsicht, dass unser Leben bereits zur Hälfte vorbei ist, und damit die Einsicht in unsere eigene Endlichkeit einholen. Angesichts dessen können wir uns fragen, was uns für den Rest unseres Lebens noch zu tun bleibt - und ob das Leben, das wir bisher geführt haben, eigentlich das richtige war. Folgen wir dem Klischee der Midlife-Crisis, geraten gerade Männer angesichts dessen oft in eine Sinnkrise. Das Stereotyp des Mannes Mitte oder Ende 40 mit sich lichtendem Haupthaar, der den Zwängen seines Alltags mit der deutlich jüngeren Freundin im neuen Sportwagen entkommen will, wurde und wird immer wieder bemüht.
Wissenschaftlich betrachtet bleibt zwar umstritten, inwieweit es die Midlife-Crisis überhaupt gibt. Einige Forscherinnen und Forscher meinen zumindest zeigen zu können, dass Menschen in ihrer Jugend mit ihrem Leben besonders zufrieden sind, die Lebenszufriedenheit dann aber kontinuierlich sinkt und mit etwa 40 bis 50 Jahren ihren Tiefpunkt erreicht, um dann wieder zu steigen. Andere Studien ziehen diese U-Kurve in Zweifel und legen nahe, dass ohnehin nur ein geringer Teil der Menschen überhaupt eine solche Krise durchlebt. Kritikerinnen und Kritiker des Konzepts der Midlife-Crisis führen angesichts dessen an, dass der Zustand der stupiden Sattheit, aus der diese den populären Darstellungen zufolge entspringt, ein Privileg Weniger sei. Wieder andere wollen die Rede von der Midlife-Crisis als chauvinistisches Klischee entlarven, das dazu diene, insbesondere Männer zu entschuldigen, die ohne Rücksicht auf andere ihre zweite Adoleszenz zelebrieren.
Die Krise der mittleren Jahre als Chance
Bleisch greift die Einsicht in die potentiellen Krisenhaftigkeit der mittleren Jahre auf. Sie geht aber nicht davon aus, dass diese allein aus bürgerlicher Saturiertheit entsteht, und daher mitnichten von allen Menschen erfahren würde. Ihren tieferen Grund sieht sie eher darin, dass Menschen in der Mitte des Lebens, anders als in der Jugend und im Alter, in ein neues Verhältnis zur Zeitlichkeit ihres Daseins treten. In den mittleren Jahren leben Menschen "zeitgleich im retrospektiven wie im prospektiven Modus". Sie blicken zurück und bilanzieren, und sie schauen zugleich nach vorn und prüfen, inwiefern sie sich noch einmal neu orientieren können und sollen. Damit ist diese Lebensphase prädestiniert für eine Reflexion und Prüfung unserer lebensleitenden Wertmaßstäbe, letztlich unserer Vorstellung vom guten Leben, die uns damit vielleicht zum ersten Mal zum Problem werden kann. Das heißt: Die Mitte Lebens provoziert zum Philosophieren.
Daher versucht Bleisch die potentielle Krisenerfahrung auch nicht, wie die Autorinnen und Autoren vieler Ratgeber, mit mehr oder weniger durchdachten Handlungsempfehlungen gleich wieder einzuhegen. Vielmehr versucht sie zunächst einmal zu verstehen, worin sie genauer besteht - und inwiefern sie zugleich auch eine Chance darstellen kann. Immerhin werden die mittleren Jahre seit der Antike auch als die "besten Jahre" und die Lebensmitte als "Blüte des Lebens" beschrieben. Worin liegt die besondere Fülle dieser Lebensphase, und wie ließe sich aus ihr schöpfen?
Die Güter der Lebensmitte
Indem es sich um Antworten bemüht, wird Bleischs Buch nicht selbst zum Ratgeber. Sie bezeichnet es lieber als "Beratungsbuch", "ein Buch für die Gemeinschaft der Suchenden, die sich in der Mitte des Lebens existentiellen Fragen stellen". Auf dieser Suche, zu der sie ihre Leserinnen und Leser einlädt, lässt sie, neben einer Fülle literarischer Beispiele, zahlreiche philosophische Stimmen von der Antike bis zur Gegenwart zu Wort kommen. Diese dienen ihr aber nicht nur, wie es bei Populärphilosophie oft der Fall ist, als unbefragte Lieferanten vermeintlich tiefsinniger Weisheiten. Stattdessen tritt Bleisch in einen oft pointierten argumentativen Austausch mit ihnen. Angesichts der Vielzahl spannender Themen, die sie dabei streift - etwa die Frage nach Nutzen und Nachteil der Unsterblichkeit für das Leben, der (Un-)Denkbarkeit des eigenen Todes oder der Struktur transformativer Erfahrungen -, gibt ihr Buch Gelegenheiten zum Weiterdenken.
Was aber sind nun die spezifischen Güter der Lebensmitte, die wir erst jetzt verwirklichen können? Bleisch nennt insbesondere drei: Lebenserfahrung, Kenntlichkeit und die Fähigkeit zur Distanznahme. Keines von ihnen falle uns jedoch mit dem Älterwerden einfach in den Schoß. Um Lebenserfahrung im Sinne eines praktischen Orientierungswissens zu gewinnen, müssen wir uns Erfahrungen zuerst aussetzen und aus ihnen lernen. Das ist auch die Voraussetzung der Kenntlichkeit, die bei Bleisch so etwas wie praktische Selbst- und Menschenkenntnis meint. Im Zuge dessen können wir uns "der eigenen Präferenzen, Ängste und Reaktionsweisen bewusst werden" und so erst verstehen, woran uns eigentlich liegt. Die Fähigkeit zu ironischer Distanznahme bestehe schließlich im Wissen, "dass die Dinge selten so sind, wie wir dachten, und dass auch die stärksten Gewissheiten einreißen können." Die Erschütterung vermeintlicher Gewissheiten kann wiederum den Anfang des Philosophierens markieren. Wir hoffen, dass sich einige Teilnehmende von der Lesung und der Tagung insgesamt dazu anregen ließen - ganz gleich, in welchem Alter sie gerade sind.