Europa unter Druck
Manfred Weber diskutiert über Krisen und Zukunft der EU
Wirtschaftliche Sorgen der Bevölkerung, das Erstarken rechter Kräfte und geopolitischen Spannungen, insbesondere der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, haben das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine stabile und sichere Europäische Union erschüttert. Darüber hinaus verstärken sich Desinformationskampagnen in Social Media. Ist der Staatenverbund diesen neuen Problemen gewachsen? Über die aktuellen Herausforderungen für die Demokratie in Europa hat Manfred Weber, CSU-Politiker und Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament, gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler und ehemaligen Akademiedirektor Heinrich Oberreuter, dem Juristen Michael Mertes, dem Historiker Krzysztof Ruchniewicz vom Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien und Julia Smirnova vom Institute for Strategic Dialogue unter dem Titel "Frieden und Demokratie in unsicherer Zeit" beim Passauer Tetralog der Akademie für Politische Bildung, der Universität Passau und der Europäischen Wochen Passau gesprochen.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 29.07.2024
Von: Rebecca Meyer / Foto: Rebecca Meyer
Programm: 25. Passauer Tetralog: Frieden und Demokratie in ungewisser Zeit
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"Viele Europäerinnen und Europäer blicken unsicher in die Zukunft", sagt Manfred Weber, CSU-Politiker und Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament. In den vergangenen Jahren ist die Europäische Union, die Frieden und Demokratie fördert, zunehmend ins Wanken geraten. Globale Krisen wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben geopolitische Spannungen auf dem Kontinent verstärkt und ein Klima der Verunsicherung geschaffen. Dieses wird durch gezielte Desinformationskampagnen, die vor allem über Social Media verbreitet werden, weiter verschärft. Gleichzeitig haben rechtspopulistische und nationalistische Parteien in vielen EU-Mitgliedsstaaten an Einfluss gewonnen, was die politische Landschaft fragmentiert und die EU auf die Probe stellt. Kann sich die EU beweisen und die Probleme lösen? Über "Frieden und Demokratie in ungewisser Zeit" hat Weber gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler und ehemaligen Akademiedirektor Heinrich Oberreuter, dem Juristen Michael Mertes, dem Historiker Krzysztof Ruchniewicz vom Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien und Julia Smirnova vom Institute for Strategic Dialogue, beim Passauer Tetralog der Akademie für Politische Bildung, der Universität Passau und der Europäischen Wochen Passau diskutiert.
Rechtsruck in Europa
Die politische Landschaft in Europa habe sich verändert und das nicht unbedingt positiv, sagt Heinrich Oberreuter. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2024 zeigten in gewissen Regionen eine erhebliche Stärkung der erzkonservativen, nationalistischen und rechten Kräfte. Der Politikwissenschaftler zeigt sich besorgt, dass viele Regierungen den Kontakt zu ihrem Volk verloren haben. Er vermutet, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger die Bedürfnisse und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen oder ignorieren. Der Rechtsruck sei aber nicht so massiv, wie in der Öffentlichkeit wahrgenommen, entgegnet Weber. Zwar wählen mehr Menschen rechte Parteien, im Vergleich zu den Wahlen von 2019 habe sich dieser Trend jedoch nicht extrem verstärkt. Weber wirft den Medien vor, ihre intensive Berichterstattung über einen Rechtsruck habe dazu geführt, dass die Öffentlichkeit die Ergebnisse überinterpretiere.
Im Europäischen Parlament spüre er selbst den Rechtsruck kaum, da bürgerliche Kräfte weiterhin die meisten Sitze innehaben. Um die Wahlergebnisse zu stabilisieren und dem weiteren Zuwachs rechter Parteien entgegenzuwirken, müsse Deutschland auf nationaler und internationaler Ebene die Ängste der Wählerinnen und Wähler ernst nehmen. Weber nennt die Furch vor Arbeitslosigkeit, die Belastung durch geopolitische Spannungen und die Sorge vor zunehmendem Populismus als Kernanliegen. Wenn demokratische Parteien Antworten auf diese Probleme finden, können sie verhindern, dass Menschen Alternativen jenseits der demokratischen Parteien suchen.
Demokratische Entwicklungen in Ungarn und Polen
Weber erinnert in diesem Zusammenhang auch an positive Entwicklungen in Europa. In Ungarn schnitt die neu gegründete Partei Tisza unter Péter Magyar bei der Europawahl mit 30 Prozent überraschend stark ab. Ihre Programmatik ist pro-europäisch und betont die Rechtsstaatlichkeit. Werte, die Viktor Orbáns Partei Fidesz untergräbt, seit sie 2010 die Regierung übernahm. Das Wahlergebnis signalisiere eine klare Ablehnung von Autokratie. Die ungarische Bevölkerung wünsche sich demokratische Reformen, erklärt Weber.
Ähnlich wie in Ungarn zeige sich auch in Polen, dass die Bevölkerung bereit sei, für demokratische Werte einzutreten, sagt der polnische Historiker Krzysztof Ruchniewicz. Dort standen Bürgerinnen und Bürger jahrelang vor der Wahl, entweder unter einer autoritären Regierung zu leben oder das Land zu verlassen. Die Wahlen im Oktober 2023 markierten eine Wende. Die Bevölkerung wählte die autoritäre PiS-Regierung erfolgreich mit demokratischen Mitteln ab. Die hohe Wahlbeteiligung, insbesondere von Frauen und Jugendlichen, deute auf ein wachsendes politisches Engagement und ein Bewusstsein für die Bedeutung demokratischer Prozesse hin.
Der Wechsel an der politischen Spitze, mit der neu gewählten Regierung unter Donald Tusk, normalisierte die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland. Nach acht Jahren der Distanz und Differenzen erarbeiteten Vertreterinnen und Vertreter beider Regierungen einen Aktionsplan, um die Zusammenarbeit in Zukunft zu vertiefen. Ziel ist, nicht nur die Beziehungen zu verbessern, sondern auch die demokratische Neuausrichtung in Polen zu unterstützen. Die Wahl 2023 sei nur ein erster Schritt zur Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sagt Ruchniewicz. Die polnische Regierung müsse weitere Reformen vorantreiben und die Zivilgesellschaft stärken.
Öffentliche Meinung und Desinformation in Europa
Dabei stehe die Tusk-Regierung auch vor der Herausforderung, die Auswirkungen von Desinformation und manipulativen Kampagnen zu bewältigen. Die PIS-Partei beeinflusste bis zu ihrer Abwahl 2023 ihre Bevölkerung durch gezielte Propagandamaßnahmen in Social Media und durch das staatliche Parteifernsehen. Social Media habe in den falschen Händen erhebliche Folgen, sagt Julia Smirnova vom Institute for Strategic Dialogue und erklärt, dass es für eine stabile Demokratie vor allem eine sichere Fakten- und Informationsgrundlage brauche. Diese habe in den vergangenen Jahren europaweit Risse bekommen.
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine destabilisiere Russland gezielt die europäischen Demokratien durch Desinformationskampagnen. Dabei versuche Russland die öffentliche Meinung zu manipulieren und das Vertrauen in die demokratischen Strukturen zu schwächen. Das Land nutze dafür vor allem Social-Media-Plattformen wie Facebook, X, Instagram und TikTok. Dort bestimmen Algorithmen, welche Inhalte verstärkt angezeigt werden. Zum Teil priorisieren sie polarisierende und irreführende Informationen. Das fragmentiere die öffentliche Meinung, erklärt die Smirnova. Im Vorfeld der Europawahlen 2024 verbreiteten russische Akteurinnen und Akteure zum Beispiel zahlreiche Meldungen, die die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht unterstützen. Beide Parteien sprechen sich gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Russland versuche damit, aktiv auf die deutsche und europäische Politik einzuwirken, erklärt Smirnova. Trotzdem dürfe Social Media nicht verteufelt werden, weil nicht alle Nutzerinnen und Nutzer dort antidemokratische Zwecke verfolgen, betont Ruchniewicz. Tusk profitierte von Social Media, in dem er auf den Plattformen seine Politik kommunizierte, Anhängerinnen und Anhänger mobilisierte und seine Popularität steigerte.
Stabilität und Stärkung Europas durch gemeinsame Politik
Um dem Missbrauch dieser Plattformen vorzubeugen, sei eine Regulierung entscheidend. Damit könnten Deutschland und die EU sicherstellen, dass die Bürgerinnen und Bürger Zugang zu verlässlichen Informationen bekommen, erklärt Smirnova. Um Desinformation zu bekämpfen, müssen die EU-Mitglieder gemeinsame Standards und übergreifende Strategien entwickeln. Der Digital Services Act aus dem Jahr 2022 zielte darauf ab, die Verantwortung von Online-Plattformen zu erhöhen. Tech-Konzerne sollen dadurch gezwungen werden, nicht nur die eigenen Gewinninteressen zu verfolgen, sondern auch zur Förderung einer aufgeklärten und stabilen Gesellschaft beizutragen. Um eine informierte Öffentlichkeit zu schaffen, müsse außerdem die Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden, damit sie Desinformation leichter erkennen.
Europa kann aus den aktuellen Krisen gestärkt hervorgehen, wenn es den Bürgerinnen und Bürgern eine klare Perspektive für die Zukunft biete, sagt der Jurist Michael Mertes. Es sei entscheidend, den Menschen zu zeigen, dass die EU politische Lösungen entwickeln kann, die den Frieden und die Demokratie in Europa schützen. Die europäischen Staaten müssen in Zeiten globaler Krisen vor allem geschlossen und solidarisch zusammenarbeiten, betont Mertes. Er zitiert den ehemaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer: "Wer Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für alle Bürger unseres Kontinents auf Dauer sichern will, der wird für das geeinte Europa eintreten."