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Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland

So bleibt das Land trotz Fachkräftemangel und Transformationen wettbewerbsfähig

Inflation, Rezession, Fachkräftemangel - die Nachrichten sind voll von schlechten wirtschaftlichen Entwicklungen. Doch wo steht die deutsche Wirtschaft tatsächlich und ist der Pessimismus vieler Expertinnen und Experten berechtigt? Was fordern Forschende und Unternehmen von der Politik? In der Abendveranstaltung "Standortbestimmung Deutschland: Wie zurück auf die Erfolgsspur?" der Akademie für Politische Bildung und der Gesellschaft für Wirtschafts- und Tourismusentwicklung im Landkreis Starnberg GmbH haben Fachleute aus Wirtschaft, Forschung und Politik über die Zukunft der deutschen Volkswirtschaft diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 04.07.2024

Von: Charlotte Emmerich / Foto: Charlotte Emmerich

Programm: Standortbestimmung Deutschland: Wie zurück auf die Erfolgsspur?

Standortbestimmung Deutschland: Wie zurück auf die Erfolgsspur?

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"Wir haben im Grunde vier Jahre ohne Wachstum hinter uns", sagt Michael Böhmer, Chefvolkswirt von Prognos. Die Krisen der vergangenen Jahre haben der deutschen Wirtschaft zugesetzt. Insbesondere die hohe Inflationsrate und die gestiegenen Preise für Energie haben Privathaushalte und Unternehmen vor Herausforderungen gestellt. Auch die Zukunft des Arbeitsmarktes macht Fachleuten Sorgen. Für einen langfristigen Wirtschaftsaufschwung fordern Expertinnen und Experten unter anderem mehr Investitionen in grüne Energie und ins Sozialsystem sowie eine Modernisierung der Verwaltung. In der Abendveranstaltung "Standortbestimmung Deutschland: Wie zurück auf die Erfolgsspur?" der Akademie für Politische Bildung und der Gesellschaft für Wirtschafts- und Tourismusentwicklung im Landkreis Starnberg GmbH haben Fachleute über den Zustand der deutschen Wirtschaft gesprochen und Forderungen an die Politik gestellt.

Die deutsche Wirtschaft braucht einen Aufschwung

Im ersten Pandemiejahr 2020 ist das Bruttoinlandsprodukt um 3,8 Prozent gesunken. Nach einem kurzen Anstieg 2021 und 2022 stagniert es seit 2023. Für die kommenden Jahre erwarten Expertinnen und Experten eine fortlaufende Stagnation. Denn die Sanktionen, die die Europäische Union infolge des Angriffskrieges auf die Ukraine gegen Russland verhängt hat, stürzten Deutschland in eine Energiekrise. Die Preise für Öl und Gas stiegen immens und verursachten eine Inflation, die sich negativ auf die gesamte Volkswirtschaft auswirkt. Im Winter 2022/2023 fiel die deutsche Wirtschaft deshalb in eine Rezession. Nachdem die Inflationsrate 2022 ein Rekordniveau erreicht hatte, sinkt sie und wird sich voraussichtlich 2025 in der Nähe der gewünschten Zwei-Prozent-Marke einpendeln.

Für ein stärkeres Wachstum fehlt es der Wirtschaft darüber hinaus an Innovation und Produktivität. Während 2012 noch neun Prozent der weltweiten Patente aus Deutschland stammten, waren es 2020 nur noch sieben Prozent. Diese Differenz mag klein erscheinen, doch laut Michael Böhmer sei genau diese schleichende Verschlechterung das Problem. Denn darin liege die Gefahr, dass die negative Entwicklung zu spät erkannt wird. Böhmer wünscht sich für Deutschland mehr Produktivitätswachstum, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bekommen. Dafür soll das Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde steigen. In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist dieser Wert allerdings stark gesunken. Für ein höheres Level an Produktivität braucht es nicht mehr Arbeitsstunden, sondern mehr Leistungsfähigkeit. Erreicht werden könnte diese beispielsweise durch Digitalisierungs- und Modernisierungsprozesse innerhalb von Unternehmen.

Sozialreformen gegen den Fachkräftemangel

Für ein hohes Produktivitätslevel und Bruttoinlandsprodukt braucht es allerdings ausreichend Fachkräfte. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen sie in vielen Branchen und das wird sich voraussichtlich weiter verschärfen. Betroffen sind insbesondere Branchen wie der Bausektor und die Pflege. 2023 blieben bundesweit rund 19.000 Stellen in der Altenpflege unbesetzt. Forschende erwarten, dass in der Metallerzeugung und -bearbeitung bis 2030 etwa fünf Prozent weniger Arbeitskräfte als noch 2023 zur Verfügung stehen. Rund 20 Millionen Menschen gehen jedes Jahr in Altersrente, doch Unternehmen fällt es schwer, Nachwuchs einzustellen. Das liegt einerseits an den niedrigen Geburtenraten der vergangenen Jahrzehnte, andererseits sind viele Berufe für junge Menschen nicht mehr attraktiv - auch aufgrund der niedrigen Bezahlung in Anbetracht der steigenden Lebenskosten.

Um den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen, fordern Fachleute insbesondere die Förderung von Zugewanderten sowie eine erhöhte Frauenerwerbstätigkeit. Es brauche beispielsweise ein größeres Angebot an Sprachkursen und einen Ausbau der Kinderbetreuung. Giulia Mennillo von der Akademie für Politische Bildung spricht von einer "strukturellen Lähmung" des Sozialsystems. Andererseits möchten viele Menschen auch nach Überschreiten des Renteneintrittsalters weiterhin arbeiten. Manchen von ihnen reicht die monatliche Rente nicht, sie sind auf einen Zuverdienst angewiesen. Bisher stehen sie noch vor Hürden, die beispielsweise durch eine steuerpolitische Reform gesenkt werden könnten, sagt Christoph Leicher vom Bundesverband für Großhandel, Außenhandel und Dienstleistungen. Möglich wäre, weiterarbeitende Seniorinnen und Senioren von der Lohnsteuer zu befreien oder das Gehalt nicht auf die Rentenauszahlung anzurechnen.

Wirtschaftliche Vorteile durch die Energiewende

Neben Änderungen im Steuer- und Sozialsystem wünschen sich Fachleute auch eine Energiewende. Die hohen Industriestrompreise beeinträchtigen die Wirtschaft und gefährden die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Der Preis pro Kilowattstunde Strom betrug 2023 etwa doppelt so viel wie in den USA und lag damit über dem europäischen Durchschnitt. Ein Ausbau der Erneuerbaren Energien sei eine gute Lösung, um die Industriestrompreise nachhaltig auf einem niedrigen Niveau zu halten, sagt Michael Böhmer. Der Prozess der Dekarbonisierung hat dementsprechend auch wirtschaftliche Vorteile. Zunächst benötigt die Energiewende große Investitionen, doch langfristig wird grüne Energie günstiger. Atomstrom hingegen stelle keinesfalls eine Alternative dar, auch wenn er anfänglich preiswerter erscheinen mag. Zudem sei der Bau neuer Atomkraftwerke "in keinem Land der Welt wirtschaftlich", merkt der Volkswirt an. Nur Erneuerbare Energien hätten eine Zukunft.

Digitalisierung der Verwaltung

Zukunft heißt auch Digitalisierung und Fortschritt. Unternehmen sowie Gründerinnen und Gründer prangern immer wieder die deutsche Bürokratie an. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2023 nehmen 69 Prozent der Unternehmen Deutschland aufgrund der vielen Regulierungen negativ wahr und schrecken vor langfristigen Investitionen zurück. Das schadet der Attraktivität des Wirtschaftsstandortes. Doch die Forderung, Regulierungen und Bürokratie zu erleichtern, ist nicht einfach umzusetzen. Ein pauschaler Abbau sei keine Lösung, sagt Michael Böhmer. Die Frage ist, welche Schritte der Bürokratie und welche Regulierungen tatsächlich verzichtbar sind. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger müssen sich dafür intensiv mit dem deutschen Verwaltungssystem auseinandersetzen. Eine umfassende Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, um beispielsweise Anträge zu digitalisieren, senke die bürokratischen Hürden für bestehende Unternehmen und solche, die sich neu ansiedeln. Eine einheitliche Digitalisierung ist aufgrund des föderalen Systems schwierig, sagt Volkmar Halbleib, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Bayerischen Landtag. Doch genau wegen dieser Vielzahl an Verwaltungseinheiten sei ein gemeinsamer Weg wichtig, um die Zusammenarbeit zu vereinfachen.

Bei all den negativen Entwicklungen, die sich derzeit in der Wirtschaft beobachten lassen, solle man dennoch nicht "den Kopf in den Sand stecken", sagt Michael Böhmer. "Für alle Probleme, die vor uns stehen, gibt es Lösungen." Dabei seien klare Ziele und eine Zusammenarbeit auf allen Ebenen wichtig. Trotz Einbußen im Vorjahresvergleich produzierte Deutschland 2022 noch immer das vierthöchste Bruttoinlandsprodukt der Welt. Deutschland ist weiterhin eine starke Volkswirtschaft, auch wenn ihre Wettbewerbsfähigkeit sinkt. Um dem entgegenzuwirken bedarf es jetzt Transformationen und Investitionen. "Man darf nicht in eine rhetorische und mentale Abwärtsspirale geraten", warnt Volkmar Halbleib. Vielmehr brauche es ein "Mindset des Anpackens".

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