Wissenschaftsfreiheit und Demokratie
Wie politische Systeme die Forschung beeinflussen
In einer Zeit, in der die Wissenschaftsfreiheit weltweit gefährdet ist und autoritäre Regime die unabhängige Forschung und Bildung unterdrücken, genießt die Wissenschaftsfreiheit in Europa einen hohen Stellenwert. Dennoch existieren auch hier Gefahren für die Wissenschaftsfreiheit, wie beispielsweise Cyberangriffe auf Universitäten und wachsende Elitenkritik. Die Tagung "Wissenschaft unter Druck?" der Akademie für Politische Bildung und des Wissenschaftsrats brachte Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik zusammen, um unter anderem über Wissenschaftsfreiheit in Demokratien und autoritären Systemen zu diskutieren.
Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 17.05.2023
Von: Almagul Shamyrbekova / Foto: Almagul Shamyrbekova
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Der Grad der Wissenschaftsfreiheit ist vom politischen System eines Landes abhängig. Autokratische und diktatorische Länder erleben immer wieder Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit, die die westliche Gesellschaft nicht kennt. Auch wenn Verstöße gegen die Wissenschaftsfreiheit in uns näherstehenden Ländern wie Ungarn zu verzeichnen sind, ist Europa ein Kontinent der Wissenschaftsfreiheit, sagt Kai Gehring, Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzungen des Deutschen Bundestags. In der Tagung "Wissenschaft unter Druck?" der Akademie für Politische Bildung und des Wissenschaftsrats hat Gehring mit anderen Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik über Demokratie und Wissenschaftsfreiheit diskutiert.
Die Wissenschaftssysteme in Demokratien und Autokratien
Wissenschaftsfreiheit ist ein Gradmesser für eine freie, offene und auch kreative Gesellschaft und entscheidend für Erkenntnis und Fortschritt. Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, denkt, dass es eine selbstverständliche Parallele zwischen politischen Systemen und der Form der Gesellschaften gibt. Denn eine Wissenschaft erfüllt wichtige Funktionen für eine freie Gesellschaft, etwa die Lieferung verlässlichen Wissens. Ein freies Wissenschaftssystem ist davon abhängig, ob es im politischen System eine tatsächliche Opposition und ökonomische Freiheit gibt oder nicht. In einer offenen Situation entsteht mehr Kreativität. Denn Wissenschaft und Staat arbeiten eng zusammen und beeinflussen sich stark - vor allem wenn es darum geht, schwierige Entscheidungen zu treffen, sagt Gehring.
Die Bekämpfung der Corona-Pandemie in Deutschland ist ein Beispiel dafür. Die lebenswichtigen Entscheidungen trafen die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei all den Schwierigkeiten, die die Zusammenarbeit von Staat und Wissenschaft bereitet, haben sie gemeinsam die Pandemie als Stresstest im Vergleich zu anderen Ländern wie China erfolgreich durchlaufen. "Wenn die Wissenschaft frei, evidenzbasiert und im Diskurs mit der Gesellschaft steht, wird sie erfolgreicher und innovativer als ein autoritär gesteuertes Wissenschaftssystem", sagt Gehring. Die autokratischen Regime scheinen die freie Wissenschaft und Bildung und den mit ihr einhergehenden Charakter zu fürchten. Je autoritärer ein Staat ist, desto weniger Wissenschaftsfreiheit gibt es.
Gefährdungen für die Wissenschaftsfreiheit
"Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Staaten, wo die Wissenschaftsfreiheit abnimmt", sagt Gehring. Er bedauert, wie im Iran der Staat gegen Universitäten und Bildungseinrichtungen zuschlägt. In Europa gebe es ebenfalls bedenkliche Fälle. "Ungarn macht mir im wissenschaftlichen Bereich auch Sorgen, nicht nur in der Justiz und im Medienbereich", sagt Gehring. Laut des Academic Freedom Index, der den Stand der Wissenschaftsfreiheit in rund 180 Ländern und Gebieten bewertet, hat Ungarn auf einer Skala von 0 bis 1 einen Wert von 0.34. Vor zehn Jahren lag dieser noch bei 0.96, dem Wert, den Deutschland heute erreicht.
Auch wenn Wissenschaftsfreiheit hierzulande vergleichsweise gut funktioniert, sieht Gehring Gefahren. Zum einen sind es die Cyberangriffe auf Universitäten, von denen deutschlandweit mindestens 24 Universitäten und Hochschulen betroffen sind. Zum anderen ist es die wachsende Elitenkritik, die durch Desinformationskampagnen wie beispielsweise russische Trollfabriken die Wissenschaftsfreiheit schwächt. Das Ziel dieser Fabriken besteht darin, Verwirrung zu stiften und die öffentliche Meinung zu spalten, indem sie gezielte Falschinformationen verbreiten. Die Falschinformationen haben das Ziel, Vorurteile und Unsicherheiten in der Bevölkerung zu erzeugen. Ein weiteres Beispiel für den zunehmenden Widerstand gegen Eliten ist das Aufkommen rechtsradikaler und Corona-leugnender Strömungen. In den vergangenen Jahren haben sich die heftigen Anfeindungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deutlich erhöht. Betroffen waren Virologen, Genderwissenschaftlerinnen und Klimaforscherinnen. Die Verrohung des Diskurses stellt eine Gefahr für Gesellschaft und Demokratie dar.
Was kann der Staat für die Wissenschaftsfreiheit tun?
"Es liegt in der staatlichen Verantwortung, die Freiheit von Forschung und Wissenschaft zu respektieren, da die Wissenschaft nur dann florieren und Fortschritte machen kann, wenn sie Respekt genießt und keinen Druck erfährt", sagt Gehring. Angesichts des Krieges in der Ukraine und der weltweit sinkenden Wissenschaftsfreiheit soll der Staat die Intensivierung von Schutzprogrammen für verfolgte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Betracht ziehen. Tausende Forscherinnen und Forscher aus der Ukraine haben in den vergangenen anderthalb Jahren ihre Heimat verlassen und an europäischen Forschungseinrichtungen Schutz gesucht. Der Krieg hat erneut verdeutlicht, welche zentrale Rolle die Freiheit der Wissenschaft spielt. Denn in Zeiten politischer Konflikte und Unsicherheit sind der Zugang zur freien Forschung und der Austausch von Wissen unabdingbar, um Lösungen zu finden und gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen.
Wolfgang Marquardt, Vorstandsvorsitzender des Forschungszentrums Jülich, fordert eine auskömmliche Finanzierung für die Wissenschaft, damit sie ihren umfangreichen Aufgaben gerecht werden kann. Zudem betont Marquardt die Bedeutung der Vielfalt in der Wissenschaft, insbesondere bei der Auswahl von Forschungsthemen. Diese sollen nicht von einem bestimmten politischen Programm abhängen. Die Wahlfreiheit ist eine Errungenschaft demokratischer politischer Systeme, die nicht vernachlässigt werden darf, wenn die Wissenschaft weiterhin kreativ bleiben soll. Die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft wird durch die Wissenschaftsfreiheit gestärkt. In Zeiten von Desinformationskampagnen sind ein Austausch und eine effektive Wissenschaftskommunikation von großer Bedeutung. Wissenschaftsfreiheit geht Hand in Hand mit der Demokratie. Sie stellt sicher, dass Wissen und Erkenntnisse objektiv und unvoreingenommen generiert und verbreitet werden können, was wiederum die Grundlage für eine informierte Entscheidungsfindung und eine offene, demokratische Debatte bildet.