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Der Krieg im Tigray

Ist in Äthiopien ein nachhaltiger Frieden möglich?

Ausgelöst durch den Kampf um die Macht ist vor zwei Jahren ein Krieg in der äthiopischen Nordprovinz Tigray entfacht. Infolgedessen wurden tausende Frauen vergewaltigt, die Infrastruktur zerstört und mehrere Massaker verübt. Trotz der Brutalität ist der Konflikt vielen Menschen in Europa und den USA unbekannt. Wie konnte der Krieg derart eskalieren? Wie steht es aktuell um den Frieden im Tigray? Und welche Forderungen stellen internationale Organisationen an Äthiopien? Diesen Fragen haben sich Expertinnen und Experten bei der Tagung "Regionalkonflikte: Äthiopien, Tigray und die Nachbarregion" der Akademie für Politische Bildung und des Landesverbands Bayern der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. gewidmet. 

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 26.04.2023

Von: Sara Ritterbach Ciuró / Foto: Sara Ritterbach Ciuró

Programm: Regionalkonflikte: Äthiopien, Tigray und die Nachbarregion

Regionalkonflikte: Äthiopien, Tigray und die Nachbarregion

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Der Krieg im Tigray ist an Brutalität kaum zu überbieten. In den Hochphasen sei dieser Konflikt "der umfassendste der Welt" gewesen - und nicht, wie häufig angenommen, der Krieg in der Ukraine, sagt Magnus Treiber, Professor für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In zwei Jahren starben in der Region schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Menschen. Tausende Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, die medizinische Infrastruktur zerstört und alle Kommunikationswege abgeschnitten. In Europa und den USA ist der Konflikt dennoch häufig nur eine Randnotiz. Über die Entstehung des Krieges, Menschenrechtsverletzungen und die Zukunft Tigrays haben Expertinnen und Experten bei der der Tagung "Regionalkonflikte: Äthiopien, Tigray und die Nachbarregion" der Akademie für Politische Bildung und des Landesverbands Bayern der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. diskutiert.

Der Kampf um die Macht im Tigray 

"Äthiopien kann man verstehen als eine Geschichte politischer Macht, des Kampfes um die Macht und des Kampfes um die Anerkennung dieser Macht", sagt Gerrit Kurtz von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Konflikte gab es in der Vergangenheit des Landes immer wieder. Im Herbst 2020 löste eine Serie an Ereignissen den Krieg im Tigray aus: Ursprünglich sollten in dem Jahr Wahlen in Äthiopien stattfinden. Die äthiopische Regierung hatte sich aufgrund der Corona-Pandemie aber darauf geeinigt, die Wahlen zu verschieben. Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) akzeptierte das nicht, führte im Tigray trotzdem eine eigene Regionalwahl durch und gewann. Als im Oktober 2020 die Amtszeit der äthiopischen Bundesregierung auslief, erkannte die TPLF deren Legitimität nicht mehr an. Die Bundesregierung akzeptierte wiederum die Regionalregierung in Tigray nicht und strich die Überweisung von Bundesmitteln. 

Sicherheitskräfte des Bundesstaates Tigrays nahmen daraufhin im November 2020 Kasernen in der tigrayschen Hauptstad Mek'ele ein, was die Zentralregierung unter Premierminister Abiy Ahmed als Kriegsgrund wahrnahm. In den kommenden zwei Jahren folgten verschiedene Kriegsphasen. Die Regierungstruppen erhielten dabei auch Unterstützung aus dem Nachbarland Eritrea und von ethnischen Milizen, besonders aus der Amhara-Region in Äthiopien. Denn Amhara beansprucht schon länger Territorien im Tigray für sich und Eritrea streitet mit der TPLF um regionale Dominanz. Das Konfliktgeschehen und die Auswirkungen haben sich daher auch auf Nachbarregionen ausgeweitet.

Krieg im Tigray: Massaker und Zerstörung

"Äthiopiens Krieg war einer der blutigsten, wenn nicht der blutigste Krieg der vergangenen Jahre", sagt Gerrit Kurtz. Sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden im Tigray dokumentiert. Kriegsverbrechen sind vor allem Verstöße im Zuge des Krieges gegen die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur. Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschreiben darüber hinaus "ein systematisches, intendiertes Vorgehen gegen zivile Gruppen", erklärt Franziska Ulm-Düsterhöft von Amnesty International. 

Über die Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen gibt es laut Magnus Treiber massenhaft Veröffentlichungen. "Aber angesichts der Masse an Menschenrechtsverletzungen, die wir dort vermuten und auch an Materialien, die wir bekommen haben, ist es sehr wenig, was veröffentlicht wurde", so Franziska Ulm-Düsterhöft. Der Zugang zur Region und die Kommunikationswege waren abgeschnitten. Menschenrechtsverletzungen im Konflikt konnten deshalb nur schwer verifiziert werden. Amnesty International geht davon aus, nur die Spitze des Eisbergs dokumentiert zu haben. Dazu zählen: Massaker, Plünderungen und die Zerstörung von Eigentum sowie Infrastruktur im Tigray. Daran beteiligt waren alle Konfliktparteien - also sowohl die äthiopische Zentralregierung als auch die TPLF, eritreische Gruppen und andere ethnischen Milizen wie die aus der Amhara-Region. 

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe

Auch intendierte und systematische Angriffe gegen Frauen und Mädchen hat Amnesty International festgehalten. Formen sexualisierter Gewalt wie Gruppenvergewaltigungen und die Verstümmlung von Genitalien wurden im Konflikt als Mittel der Kriegsführung eingesetzt, "um Gemeinschaften aufzubrechen, zu demütigen und darüber dann auch Territorien zu kontrollieren", erläutert Franziska Ulm-Düsterhöft. 

Da der Konflikt im Tigray auch eine ethnische Komponente beinhaltete, war dieser häufig von ethnischen Beleidigungen begleitet. Das hat maßgeblich zur Aufladung des Konflikts beigetragen. Amnesty International hat im westlichen Tigray festgestellt, dass insbesondere amharische Behörden und Sicherheitskräfte eine Kampagne ethnischer Säuberungen vorgenommen haben. Dafür wurden massenhaft Tigrayer und Tigrayerinnen verhaftet, unter entsetzlichen Umständen in Gefängnissen gehalten und gefoltert. 

Gibt es jetzt Frieden im Tigray?

"Der Krieg ist formal erstmal zur Ruhe gekommen", sagt Gerrit Kurz. Im November 2022 gab es ein Friedensabkommen zur Einstellung der Feindseligkeiten. Die TPLF in Tigray hat eingewilligt, die Autorität der äthiopischen Regierung in der Region wiederherzustellen und äthiopische Sicherheitskräfte in die Region zu lassen. Außerdem gab es kurz später ein Übereinkommen zur humanitären Hilfe. 

Der zivilgesellschaftliche Raum in Äthiopien ist aber weiterhin massiv eingeschränkt. Die äthiopische Regierung schüchtert Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger sowie potenzielle Oppositionelle ein und verhaftet sie. Auch aus ethnischen Gründen landen Personen im Gefängnis - beispielsweise, weil sie aus Tigray stammen. Die Medien werden außerdem stark attackiert und Lizenzen entzogen. Eine Verbesserung der aktuellen Situation ist nicht in Sicht. 

Franziska Ulm-Düsterhöft kritisiert zudem, dass es eine komplette Straflosigkeit für alle Konfliktbeteiligten gibt. "Aus der Erfahrung, die wir aus Konflikten haben, ist das kein nachhaltiger Friede, sondern wird vermutlich dazu führen, dass die Konfliktlinien wieder aufbrechen und die Bevölkerung weitestgehend mit ihren Traumatisierungen allein gelassen wird", betont sie. Ein weiteres Problem stellen eritreische Gruppen dar. Diese haben versichert, dass sie sich aus Äthiopien zurückziehen. Amnesty International hat jedoch Kenntnisse darüber, dass sie sich weiterhin im Land befinden und zum Teil Menschenrechtsverletzungen begehen. Auch Siedi Serag von Uniting Eritrean Voices in Germany e.V. verurteilt die Einmischung der eritreischen Sicherheitskräfte in der Tigray-Region auf das Schärfste: "Der Bürgerkrieg in Äthiopien ist ein Problem Äthiopiens, aber der muss nicht zum Problem Eritreas werden." Für eine nachhaltige Versöhnung sollten alle Beteiligten am Friedensabkommen teilnehmen.  

Forderungen an Äthiopien

Besonders die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen ist für einen nachhaltigen Frieden wichtig. Amnesty International befürwortet daher, dass die Vorfälle unabhängig untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sowie entwaffnet werden. Außerdem fordert die Organisation die äthiopische Regierung dazu auf, den zivilgesellschaftlichen Raum im Ganzen wieder zu öffnen und Mediensperren aufzuheben. Wichtig sei außerdem eine stärkere internationale Aufmerksamkeit. Auch Europa sollte zukünftig darauf achten, dass die Repressionen in ganz Äthiopien aufgehoben werden.

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