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Wege aus dem Fachkräftemangel

Wie Berufsausbildung und Arbeitsqualität die Arbeitsmarktsituation entspannen können

Noch nie waren Arbeitskräfte so knapp wie aktuell. Laut Index des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung gab es im Jahr 2022 fast zwei Millionen offene Stellen in Deutschland. Zeitgleich bleiben knapp 40 Prozent der Ausbildungsplätze unbesetzt. Unternehmen stehen vor Herausforderungen bei der Rekrutierung und berichten von einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerber. Dieser Mangel wird oft durch unattraktive Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne, den demografischen Wandel und eine Unterschätzung der Berufsausbildung verstärkt. Auf der Tagung "Arbeit ohne Ende - wer macht sie?" aus der Reihe "Zukunft der Arbeit" der Akademie für Politische Bildung, der IG Metall und des KAB Bildungswerks haben Fachleute über die Ursachen für den Arbeitskräftemangel und die Fachkräftestrategie der Bundesregierung diskutiert.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 05.07.2023

Von: Almagul Shamyrbekova / Foto: Almagul Shamyrbekova

Programm: Zukunft der Arbeit (Teil IV): Arbeit ohne Ende - wer macht sie?

Zukunft der Arbeit (Teil IV)

Flickr-Galerie © Akademie für Politische Bildung Tutzing. Bitte klicken Sie auf das Foto, falls die Galerie nicht lädt. Sie werden zu Flickr weitergeleitet.

Arbeitskräfte sind der Treibstoff einer jeden Wirtschaft, doch in Deutschland fehlen sie in vielen Branchen und Qualifikationsbereichen. Neben ausgebildeten Fachkräften suchen viele Arbeitgeber auch erfolglos nach Menschen, die einfache Tätigkeiten verrichten können. Die Situation stellt Unternehmen und Gesellschaft vor Herausforderungen, denn die Arbeitskräfte fehlen sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungssektor. Verantwortlich für den Arbeitskräftemangel sind der demografische Wandel, schlechte Arbeitsbedingungen sowie eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen der Arbeitgeber und den vorhandenen Fähigkeiten der Arbeitsuchenden. Im Rahmen der Tagung "Arbeit ohne Ende - wer macht sie?" aus der Reihe "Zukunft der Arbeit" der Akademie für Politische Bildung, der IG Metall und des KAB Bildungswerks haben Expertinnen und Experten über die Gründe für den Fachkräftemangel, die Fachkräftestrategie der Bundesregierung und die Bedeutung der Berufsausbildung gesprochen.

Probleme bei der Stellenbesetzung

Vor der Corona-Pandemie hatten Unternehmen bei 40 Prozent der Stellen Probleme, geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu finden. Obwohl die Stellen letztendlich besetzt wurden, entsprachen die Besetzungen oft nicht den Erwartungen der Unternehmen. Die Rekrutierungsprozesse dauerten länger als geplant oder die Unternehmen mussten Kompromisse bei den Anforderungen an die Kandidatinnen und Kandidaten eingehen. In den frühen Phasen der Pandemie beruhigten sich die Rekrutierungsprobleme etwas, da viele Unternehmen aufgrund der wirtschaftlichen Unsicherheit und der Einschränkungen im Zusammenhang mit der Pandemie ihre Einstellungsaktivitäten reduzierten. Die Arbeitslosigkeit stieg und es gab mehr Bewerberinnen und Bewerber auf dem Markt, was den Wettbewerb für offene Stellen erhöhte. 2022 stieg der Anteil der Stellen mit Rekrutierungsproblemen erneut auf über 40 Prozent. Laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit sind derzeit etwa zwei Millionen Stellen offen.

Dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, sagt Ulrich Walwei, Vizedirektor am IAB. Wenn es einen Mangel oder Engpass an Fachkräften gibt, kann dies darauf hindeuten, dass die angebotenen Arbeitsplätze nicht mit den branchenüblichen Standards konkurrieren können. Unternehmen sind nicht in der Lage, diese Standards zu erfüllen, was wiederum auf Arbeitszeit, Arbeitsort oder Arbeitsbelastung zurückgeführt werden kann. Darüber hinaus kann das Image der Unternehmen eine Rolle spielen, da Fachkräfte sich eher zu Unternehmen mit gutem Ruf und allgemeiner Bekanntheit hingezogen fühlen. Stellenbesetzungen können für kleine Unternehmen besonders problematisch sein, da ihnen häufig Sichtbarkeit fehlt oder ihr Ruf noch nicht etabliert ist, sagt Walwei.

Ein weiterer Aspekt, der die Rekrutierungsprobleme in Deutschland beeinflusst, betrifft Bewerberinnen und Bewerber, denen entsprechende Berufsbildungen fehlen. Zum einen kann es Lücken im Bildungssystem geben, wenn bestimmte Berufsfelder oder Qualifikationen nicht ausreichend behandelt werden. Zum anderen verändern sich die Anforderungen des Arbeitsmarktes im Laufe der Zeit, während die angebotenen Ausbildungsprogramme nicht schnell genug darauf reagieren. Beispiele dafür sind der digitale Wandel und die zunehmende Nachfrage nach digitalen Kompetenzen in verschiedenen Branchen. In einigen Fällen verfügen Bewerberinnen und Bewerber nicht über die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse im Bereich der Informationstechnologie oder des digitalen Marketings, da diese Bereiche in ihrer Ausbildung nicht ausreichend abgedeckt wurden.

Demografischer Wandel und soziodemografische Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt

Der Fachkräftemangel wird zunehmend durch den demografischen Wandel verstärkt. Einerseits führt die alternde Bevölkerung dazu, dass eine größere Anzahl erfahrener Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausscheidet. Diese Personen haben oft wertvolles Fachwissen und langjährige Berufserfahrung, die schwer zu ersetzen sind. Andererseits ist die Anzahl der jungen Menschen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, nicht ausreichend, um die Lücke zu füllen. Der demografische Wandel hat also einen doppelten Effekt: Die erfahrene Arbeitnehmerbasis schrumpft, während die Zahl der nachrückenden Arbeitskräfte begrenzt ist.

Diejenigen, die sich zwischen den beiden Kohorten befinden, stellen eine aktive Bevölkerungsgruppe auf dem Arbeitsmarkt dar. Es handelt sich um Personen im arbeitsfähigen Alter, die weder kurz vor dem Eintritt in den Arbeitsmarkt stehen noch unmittelbar davor, aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Innerhalb dieser Gruppe spielen verschiedene soziodemografische Merkmale eine Rolle, die ihre Arbeitsmarktchancen und Arbeitsmarkterfahrungen beeinflussen. Alter, Nationalität, Geschlecht und das Vorhandensein von Behinderungen können dazu führen, dass bestimmte Gruppen Barrieren auf dem Arbeitsmarkt erleben, sagt Walwei. Dies mindert das verfügbare Arbeitskräftepotenzial weiter und macht Maßnahmen zur Rekrutierung und Bindung qualifizierter Fachkräfte nötig.

Herausforderung für Grundsicherungsempfänger

Eine weitere Bevölkerungsgruppe, die Schwierigkeiten hat, Fuß auf dem Arbeitsmarkt zu fassen, sind Personen, die Grundsicherungsleistung beziehen, auch bekannt als Bürgergeld. Diesen Menschen fehlen beispielsweise ein Schulabschluss oder eine Ausbildung. Sie kämpfen mit gesundheitlichen Problemen oder Sprachbarrieren und ihr fortgeschrittenes Alter schränkt sie ein. Oftmals treten mehrere dieser Faktoren gleichzeitig auf, was die Situation zusätzlich erschwert. Besonders Menschen mit schlechter oder fehlender Schulbildung haben Schwierigkeiten, eine adäquate Ausbildung zu absolvieren, wodurch sie häufig in einfachen Jobs unterkommen, die wenig Stabilität bieten. Die prekäre Beschäftigungssituation führt dazu, dass Niedrigqualifizierte immer wieder ihren Arbeitsplatz verlieren und erneut auf Grundsicherungsleistung angewiesen sind. Besonders in Bayern, wo der Arbeitsmarkt gut entwickelt ist, konzentriert sich die Arbeitslosigkeit auf diese spezifische Gruppe. Menschen, die schwer zu vermitteln sind und Schwierigkeiten bei der Integration haben, finden sich häufig in der Arbeitslosigkeit wieder. "Obwohl diese Menschen möglicherweise nicht sofort in bestehenden Positionen eingesetzt werden können, haben sie das Potenzial, die Fachkräfte von morgen zu sein, wenn angemessene Maßnahmen ergriffen werden", sagt Walwei.

Berufsausbildung ist mehr als Qualifizierung

Eine Möglichkeit, diese Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, besteht in der Berufsausbildung. Allerdings wird deren Bedeutung häufig unterschätzt, sowohl im Hinblick auf schwer vermittelbare Menschen als auch im Kontext des allgemeinen Fachkräftemangels. Oft liegt der Fokus auf akademischen Bildungswegen, während die Berufsausbildung als weniger erstrebenswert gilt. Deshalb bleiben viele Ausbildungsplätze unbesetzt. "Der Zweck der Berufsausbildung besteht nicht nur darin, Fachkräfte auszubilden, sondern auch Menschen kompetent und selbstbestimmt zu machen", sagt Hubert Esser vom Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn. Kompetenz bedeutet, dass sie Fähigkeiten erwerben, um ihren Beruf auszuüben und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Selbstbestimmung heißt, eigenständig denken und handeln zu können. Die Berufsausbildung sollte nicht nur auf die reine Qualifizierung beschränkt sein, sondern auch andere Funktionen erfüllen. Neben der Vermittlung von Fachwissen soll sie erziehen, sozialisieren und bilden. Damit besitzt sie Potenzial zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung. Dieser umfassende Ansatz prägt stets das Verständnis und die Betrachtung der Berufsbildung.

Probleme bei der Gleichwertigkeit der Berufsausbildung

Die Kultusministerkonferenz, die die Verantwortung für Bildung, Erziehung und Forschung sowie die Interessen der Hochschulen trägt, stellt das Abitur über die Berufsausbildung. "Es ist nicht angemessen, dass Berufe, die eine Ausbildungsdauer von drei bis dreieinhalb Jahren haben, auf demselben Niveau wie Abiturabschlüsse angesiedelt werden. Die Qualifikation eines Bäckers kann nicht mit der eines Abiturienten verglichen werden", sagt Esser. Eine qualifizierte Berufsausbildung vermittele umfangreiches Fachwissen, praktische Fähigkeiten und spezifische Berufserfahrung. Eine differenzierte Betrachtung der Bildungswege und ihrer jeweiligen Stärken kann dazu beitragen, dass junge Menschen die für sie passende Bildungs- und Karrierewahl treffen. Es ist wichtig, dass Bildungssysteme die Vielfalt der Talente und Fähigkeiten junger Menschen berücksichtigen und verschiedene Bildungswege anerkennen. Dadurch können Bildungssysteme dazu beitragen, dem Fachkräftemangel entgegenzusteuern.

Die Fachkräftestrategie der Bundesregierung

Die Bundesregierung hat in diesem Zusammenhang eine Fachkräftestrategie entwickelt. Sie umfasst verschiedene Maßnahmen und Initiativen, die darauf abzielen, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen, zu fördern und langfristig im Land zu halten. Sie beinhaltet unter vielen Maßnahmen einen Punkt, der sich mit der Verbesserung der Arbeitsqualität und dem Wandel der Arbeitskultur befasst. Das Papier betont die Bedeutung von Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit, des Arbeitsschutzes, der Beteiligung und der Arbeitszeit für die Bindung von Fachkräften und die Sicherung ihrer Beschäftigungsfähigkeit.

Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen kritisiert jedoch, dass die Fachkräftestrategie Probleme in Bezug auf die Arbeitsqualität vernachlässigt. Insbesondere schweigt sie über die Erosion der Fachkräftelöhne. Das Verhältnis zwischen der Lohnentwicklung von Personen mit akademischer Qualifikation und Personen mit beruflicher Ausbildung hat sich von 2000 bis 2019 stark auseinanderentwickelt. Während die Löhne für Menschen mit Berufsausbildung konstant geblieben sind, ist das Einkommen von Universitätsabsolventen gestiegen. Im Jahr 2000 lag der Stundenlohn von Universitätsabsolventen zwischen null und sechs Euro und stieg bis 2022 auf zwölf Euro. Es gibt Bereiche, in denen die Löhne der Fachkräfte aufgrund abnehmender Tariflöhne zusammengebrochen sind. "Fachkräfte im Baugewerbe werden trotz hoher Tarifbindung kaum der Lohngruppe 4 zugeordnet. Im Laufe von 20 Jahren rutschen alle Fachkräfte immer weiter nach unten", sagt Bosch. Diejenigen mit beruflicher Qualifikation sind oft die Hauptbetroffenen des Niedriglohnsektors und trotz einiger regionaler Veränderungen sind sie zunehmend von Lohnverlusten betroffen. Sie stehen vor erheblichen finanziellen Herausforderungen, die ihre Arbeitsqualität beeinträchtigen. Es ist daher von großer Bedeutung, nicht nur den Fachkräftemangel anzugehen, sondern auch die Arbeitsqualität und die gerechte Entlohnung für alle Beschäftigten zu gewährleisten.

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