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Die Türkei als Vermittlerin im Ukrainekrieg

So gelingt dem Land der Balanceakt zwischen Russland und der Ukraine

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat die Türkei eine Vermittlerrolle zwischen Russland und der Ukraine eingenommen. Mit ihrem Engagement verfolgt sie regionale Stabilität, Machterweiterung und wirtschaftliche Interessen. Die Stadt Istanbul, die historisch eine wichtige Rolle für russische Reisende und Exilanten spielte, ist seit dem Anfang des Krieges ein Transitraum für Russinnen und Russen geworden. Im Rahmen der Tagung "Türkei und Osteuropa" der Akademie für Politische Bildung und AMUROST e.V. haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über die Rolle der Türkei im Ukrainekrieg gesprochen.

Tutzing / Tagungsbericht / Online seit: 16.06.2023

Von: Almagul Shamyrbekova / Foto: Almagul Shamyrbekova

Programm: Türkei und Osteuropa

Türkei und Osteuropa

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"Die Türkei positioniert sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 als potenzielle intermediäre Verhandlungsakteurin", sagt Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie nimmt im Ukrainekonflikt nicht dieselbe Position wie der Westen ein und schließt sich ungern oder sogar überhaupt nicht den Sanktionen gegen Russland an. Stattdessen tritt die Türkei als Vermittlerin zwischen den Kriegsparteien auf. Wie der Türkei der Balanceakt zwischen der Ukraine und Russland gelingt und welche Faktoren für die Türkei als potenzielle Vermittlerin sprechen, haben Expertinnen und Experten im Rahmen der Tagung "Türkei und Osteuropa" der Akademie für Politische Bildung und AMUROST e.V. diskutiert.

Die türkische Vermittlung im Ukrainekrieg

Die türkische Außenpolitik in Bezug auf den Ukrainekrieg basiert auf drei zentralen Thesen. Erstens geht es um die grundsätzliche Einstellung zur Stabilität in der Region. Von Anfang an hat die Türkei den Krieg als Bedrohung für die regionale Stabilität betrachtet und sieht es daher als notwendig an, diese Destabilisierung zu stoppen und zu einer neuen, stabilen Situation zu gelangen. Aus dieser Perspektive bietet der Ukrainekrieg und insbesondere die Rolle als Vermittlerin für die Türkei eine große Möglichkeit, sagt Libman. Die Türkei schließt eine Lücke, die nur wenige andere Akteure ausfüllen können. Die europäischen Staaten sind aufgrund ihres klaren Engagements für die Ukraine als Vermittler faktisch ausgeschlossen. Dies wird durch die russische Rhetorik deutlich betont, die die Schweiz nicht mehr als Vermittlerin oder sogar als Ort für Verhandlungen betrachtet. Länder wie China sind aus Sicht der Ukraine ausgeschlossen, da sie sich nicht deutlich von Russland distanzieren.

Unter den Staaten, die als Vermittler infrage kommen, ist die Türkei dem Kriegsschauplatz am nächsten und unterhält intensivere Beziehungen zu beiden Kriegsparteien. Wenn die Verhandlungen letztendlich erfolgreich sind, würde dies die Reputation der Türkei massiv stärken und es der Türkei ermöglichen, langfristig gute Beziehungen zur Ukraine und zu Russland aufzubauen, sagt Libman. Die Positionierung als potenzielle Vermittlerin verursacht außerdem kaum Kosten, da sich die Türkei nicht an teuren Sanktionen beteiligen muss, weiterhin wirtschaftliche Beziehungen nach Russland pflegen kann und von der Isolation Russlands profitiert.

Regionale und globale Machtansprüche der Türkei

Daneben geht es der Türkei um regionale und globale Machtansprüche. Sie definiert sich selbst als wichtigen regionalen Akteur und sieht den Ukrainekrieg als Chance, starken Einfluss zu gewinnen, sagt Libman. Dennoch birgt der Krieg in unmittelbarer Nähe ihrer Grenzen ein hohes Eskalationspotenzial und unklare Entwicklungen, was für das Land äußerst problematisch ist. Daher ist es das Ziel der Türkei, eine Stabilisierung der Region zu erreichen. Dies erklärt zwei zentrale Maßnahmen, die die Türkei in dieser Situation ergreift. Einerseits leistet sie militärische Unterstützung für die Ukraine, um deren Verteidigung gegen Russland zu garantieren und sicherzustellen, dass Russlands Machtambitionen nicht übermäßig gestärkt werden. Andererseits verfolgt die Türkei im Rahmen ihrer Stabilisierungsstrategie in der Region das Ziel, Eskalationsrisiken seitens Russlands zu vermeiden. Sie betrachtet diese Eskalationsgefahr als realistisch und möchte verhindern, dass der Krieg weitere unvorhersehbare Folgen nach sich zieht. Dies ist ein entscheidender Unterschied zur Debatte in Europa, insbesondere in Deutschland, wo die Eskalationsrisiken oft heruntergespielt werden. Im globalen Süden wird die Eskalationsgefahr dagegen realistischer eingeschätzt, sagt Libman. Aus dieser Perspektive sind die Verhandlungen ein Versuch, zur Stabilisierung der Region beizutragen, indem extreme Szenarien vermieden werden.

Die Türkei spielt auch eine bedeutende Rolle in Bezug auf die militärische Zusammenarbeit, primär als wichtiger Lieferant von Drohnen. Sie betrachtet den Krieg in der Ukraine als einen Angriffskrieg und nutzt diese Gelegenheit, um ihre militärische Präsenz im Schwarzen Meer zu stärken. Durch den Montreux-Vertrag, der den freien Schiffsverkehr durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus regelt, kann die Türkei den Zugang zum Schwarzen Meer sowohl für die Konfliktparteien als auch für die NATO-Staaten kontrollieren. Dies ermöglicht es ihr, einerseits den russischen Angriff in der Ukraine anzuerkennen und damit die Rhetorik zu bedienen, die der Westen gerne hört. Andererseits kann die Türkei durch diese Maßnahmen die militärische Präsenz der NATO im Schwarzen Meer einschränken. Diese Handlungen haben sowohl politische als auch militärische Auswirkungen auf die Situation in der Region.

Wirtschaftliche Interessen der Türkei im Ukrainekrieg

Aus wirtschaftlicher Sicht ist es für die Türkei entscheidend, negative Folgen des Krieges zu reduzieren und potenzielle positive Optionen zu nutzen - insbesondere, da sich die türkische Wirtschaft in einem ungünstigen Zustand befindet. Die Türkei teilt eine lange Geschichte der wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland. Diese Verflechtungen erstrecken sich nicht nur auf große staatliche Projekte, sondern auch auf mikroökonomischer Ebene zwischen einzelnen Unternehmen. Es begann mit den Händlern, die in die Türkei reisten, Konsumgüter einkauften und sie in Russland weiterverkauften.

In dieser Hinsicht profitiert die Türkei von den wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und sieht die Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen als Möglichkeit, wirtschaftlichen Nutzen zu erzielen. Insbesondere im Energiehandel sind deutliche Zuwächse erkennbar. Der türkische Export nach Russland habe sich sogar verdreifacht, sagt Libman. Aufgrund ihrer geografischen Lage ist die Türkei ein natürlicher logistischer Partner für russische Unternehmen. Aus dieser Perspektive strebt die Türkei danach, wirtschaftlich vom Krieg zu profitieren.

Die Türkei als Zufluchtsort für Russinnen und Russen

Was in den westlichen Debatten oft übersehen wird, ist, dass die Position der Türkei nicht nur dem Regime von Putin zugutekommt, sondern auch der russischen Opposition, sagt Libman. Ein Beispiel dafür sind Russinnen und Russen, die in die Türkei auswandern. Auch Angelina Davydova, Journalistin aus Sankt Petersburg, fand in der Türkei ihr Ausreiseziel. Nach mehreren Wochen in Istanbul reiste sie weiter nach Berlin, wo sie heute lebt. Nach dem Beginn des Krieges verließen etwa 70 Prozent ihrer Freunde Russland, während nur wenige zurückblieben, erzählt sie.

Schon seit Beginn des Krieges dient die Türkei als vergleichsweise sicherer Zufluchtsort für Menschen, die sich eine Ausreise leisten können und Schutz vor politischer Verfolgung suchen. Vor allem oppositionelle Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie politische Aktivistinnen und Aktivisten wanderten im vergangenen Jahr dorthin aus. Andere verließen Russland jedoch aus wirtschaftlichen Gründen. Für viele IT-Firmen gab es aufgrund der Sanktionen keine Zukunftsperspektive mehr. Ein ehemaliger Kommilitone von Davydova, der Chef einer IT-Firma mit etwa 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Russland war, gründete eine neue Firma in Antalya und brachte die gesamte Belegschaft mit ihren Familien dorthin, erzählt Davydova. Daneben verließen Menschen Russland, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Sie wollen nicht, dass diese in Schulen mit Propaganda erzogen werden.

Kulturelle Verbindungen zwischen Russland und der Türkei

Die Verbindung zwischen der Türkei und Russland besteht jedoch nicht erst seit dem russischen Überfall. Bereits im 20. Jahrhundert war die Türkei ein Zufluchtsort für russische Adlige und Kulturschaffende. Zudem verbinden diese beiden Länder die Kultur und die Literatur. Ein herausragender Vertreter der kulturellen Verflechtung zwischen der Türkei und Russland ist der russische Romantikmaler Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski. Seine große Liebe zum Meer spiegelt sich in seinen Werken wider, weshalb er oft als "Morist" bezeichnet wurde - jemand, der das Meer malt, sagt Zaur Gasimov von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Aiwasowskis Gemälde sind nicht nur in Russland zu finden, sondern auch in der Türkei, da er häufig nach Istanbul reiste. Man entdeckt seine Werke sowohl in den königlichen Einrichtungen des Sultans als auch in Ankara, dem späteren Sitz Atatürks.

Die russisch-türkischen Verflechtungen waren bereits während der Perestroika-Zeit in der Sowjetunion vorhanden, als die Grenzen zur Außenwelt minimal geöffnet wurden. Damals zeigte die sowjetische Bevölkerung eine Begeisterung für Seifenopern und Filme aus anderen Ländern. In diesem Zusammenhang wurde der Film "Çalıkuşu" mit Aydan Şener zu einem großen Erfolg. Dieser Film löste im postsowjetischen Raum ein enormes Interesse an türkischer Kultur und Literatur aus, das bis heute anhält. Die Bekanntheit türkischer Schauspieler in Russland und die Popularität des türkischen Sängers Tarkan, der problemlos das Moskauer Stadion füllen kann, sind Beispiele dafür. Die Verflechtungen zwischen der Türkei und Russland sind also nicht ausschließlich politischer und wirtschaftlicher Natur, sondern finden auch auf kultureller Ebene statt.

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